Redeweisheit

Der Apostel Paulus schrieb den Korinthern, daß er nicht gesandt worden sei zu taufen, sondern das Evangelium zu verkündigen; „nicht in Redeweisheit, auf daß nicht das Kreuz Christi zunichte gemacht werde“ (1. Kor 1,17).

Je mehr ich über den gegenwärtigen Zustand der Christenheit, von der wir einen Teil bilden, nachdenke, desto mehr fällt mir eine allgemeine Neigung auf, sich an den Verstand des Menschen zu wenden. Man hofft die Welt dadurch überzeugen zu können, daß man ihr die Augenscheinlichkeit der christlichen Wahrheiten vorstellt (ich rede hier nicht von Irrlehren). Nicht selten bringt man mit großer Redegewandtheit Beweise für diese Wahrheiten, die auf das Erkenntnisvermögen zahlreicher Zuhörer Eindruck machen, die durch die hervorragenden Eigenschaften des Redners angezogen wurden. In der Regel werden die Zuhörer durch solche Beweise überführt und erkennen an, daß sie beachtenswerte Dinge gehört haben. Der Redner hat vielleicht erklärt, wie die Sünde in die Welt gekommen ist, hat das Dasein Gottes nachgewiesen, hat auch die Lehre vom ewigen Leben entwickelt usw.; aber die Wirkung dieser Wahrheiten auf Herz und Gewissen ist gleich Null. Indem man sich in Redeweisheit an die Menschen wendet – nicht, wie schon gesagt, mit Irrlehren, wie sie in unseren Tagen leider so häufig sind – und sich der menschlichen Weisheit bedient, um die Wahrheit der geoffenbarten Dinge nachzuweisen, wird das Kreuz Christi zunichte gemacht.

Der Apostel fügt in Vers 18 hinzu: „Das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die wir errettet werden, ist es Gottes Kraft.“ Indem er so alle Redeweisheit beiseite ließ, predigte er einfach das Wort vom Kreuz. Eine solche Predigt hat zur Folge, daß die Weisen sich abwenden; sie ist für sie ja Torheit, aber für uns ist sie Gottes Kraft. Sie wird nur von solchen verstanden, die in ihrem Gewissen von ihr erfaßt werden. Das Wort vom Kreuz hat eine Herrlichkeit besonderer Art… Wir sehen unseren hochgelobten Herrn als „von der Erde erhöht“ an dem Ort, wo die Verachtung der Welt Ihn traf, wo sie in Ihm nur die Torheit Gottes und die Schwachheit Gottes sah, während wir die Weisheit und die Kraft Gottes dort erblicken. Dennoch ist der Sohn des Menschen am Kreuze verherrlicht worden und Gott in Ihm, wie der Herr selbst in Johannes 13,31 sagt. Dort, noch vor der Entfaltung Seiner zukünftigen Herrlichkeit, sehen wir Ihn in Seiner wunderbaren Schönheit. An jener Stätte, am Kreuz, lerne ich die Herrlichkeit Christi kennen – eine erlösende Kraft, siegreich über Satan und Sünde, über mich selbst und die Welt; und wenn ich sie dort erkannt habe, sage ich: Wird irgend ein Mensch angesichts des Kreuzes aufzutreten wagen, um seine Weisheit oder seine Erkenntnis ans Licht zu stellen? Oder kann die erhabenste Philosophie des Menschen vor der Schönheit dieses Kreuzes sich auch nur einen Augenblick geltend zu machen suchen? All diese Weisheit ist für immer dahin!

Halten wir fest, daß der Apostel uns hier eine besondere Seite des Kreuzes vorstellt, obwohl auch an dieser Stelle die andere, vornehmste, nicht von ihr getrennt werden kann. Aus diesem Grunde fügt er hinzu: „Es gefiel Gott, | durch die Torheit der Predigt die Glaubenden zu erretten“ (V. 21). Jeder Sünder beginnt damit, daß er am Kreuze die Grundlage seines Heils, die Vergebung seiner Sünden findet. Kapitel 15,3 hebt diese Seite in besonders kraftvoller Weise hervor: „Christus ist gestorben für unsere Sünden, nach den Schriften.“ Römer 5,8 sagt: „Christus ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren“, und Titus 2,13.14: „Unser großer Gott und Heiland Jesus Christus hat sich selbst für uns gegeben, auf daß er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit.“ Ohne die Vergebung unserer Sünden können wir an der Errettung nicht teilhaben; auch dürfen wir nicht vergessen, daß diese einfache Wahrheit in den Briefen wie in den Evangelien stets das erste ist, was das Wort uns als Grundlage des Christentums vor Augen stellt. Es hieße die ganze Bibel anführen, wenn man die zahllosen Stellen nennen wollte, welche von der Erlösung reden.

Aber, wie schon gesagt und wie wir es hier finden, ist das nicht die einzige Seite, die uns vom Kreuze gegeben ist. Das Kreuz ist die bestimmteste Verurteilung des Menschen, und ich möchte hinzufügen: nicht nur des Menschen als Sünder, sondern des natürlichen Menschen überhaupt. Es ist der Endpunkt seiner Geschichte, die nie wieder von neuem begonnen werden kann. Der erste Teil des Römerbriefes behandelt die Vergebung der Sünden, der zweite zeigt die Verurteilung des alten Menschen. Christus hat seiner Geschichte im Tode eine Ende gemacht, und wir haben das Recht, ihn für gestorben zu halten. Der Brief an die Galater geht sozusagen noch weiter: Er verurteilt den Menschen, ohne ihm irgendwie Raum, Recht oder Ansehen zu geben. Dort heißt es: „Ich bin mit Christo gekreuzigt“, und weiter: „Die Welt ist mir gekreuzigt, und ich der Welt.“

Diese vornehmste Wahrheit hatten die Korinther nicht erfaßt. Sie waren erkaufte und errettete Christen, aber sie waren fleischliche Christen. Sie hatten jene Seite des Kreuzes Christi nicht praktisch verwirklicht, sie hatten nicht verstanden, daß alle Weisheit der Welt und alle Gaben des natürlichen Menschen in den Dingen Gottes keinerlei Wert haben. Wer das praktisch verwirklicht hat, ist befreit, ist nicht aufgeblasen und setzt kein Vertrauen mehr auf sich. Man ist mit sich selbst fertig, man hat kein Vertrauen mehr auf eigene Kraft und eigene Einsicht; denn die Kraft der Welt und die Weisheit des Menschen sind nur Schwachheit und Torheit. Man hat sein Vertrauen auf die Schwachheit und Torheit Gottes gesetzt; da liegt die wahre Kraft und die wahre Weisheit. Beides habe ich am Kreuze gesehen; ich habe dort gelernt, daß diese Schwachheit Gottes – Gott selbst, gekreuzigt in der Person eines Menschen, Christus – die Kraft Gottes zum Heil war. Dort habe ich den Anfang meines Seins vor Gott gefunden, dort auch die Gedanken Gottes über mich kennengelernt, welche nur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung in Christo sind.

Der Apostel stellt sich in Kapitel 2,1 selbst als Beispiel hin: „Und ich, als ich zu euch kam, Brüder, kam nicht nach Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit.“ Solche Dinge waren nicht bei ihm zu finden gewesen, als er ihnen das Evangelium gebracht hatte; er hatte nicht dafür gehalten, etwas unter ihnen zu wissen „als nur Jesum Christum, und ihn als gekreuzigt“. Das Kreuz war vor allem anderen der Charakter Christi, den er verkündigte, und dieser Charakter machte mit allen ihren Anmaßungen ein Ende. Hatten sie damals, wenn sie ihre Augen auf den Apostel richteten, vielleicht gesagt: Was für ein einsichtsvoller Mann ist doch dieser Paulus? „Ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern.“ Ihr habt sicherlich nichts in meiner Person oder in meinen Worten gefunden, das euch hätte denken lassen können, ich setze irgendwelches Vertrauen auf das Fleisch oder auf die Kraft des Menschen.

Welch ein Vorbild doch für alle, die Gottes Wort verkündigen!

H.R.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1981, Seite 271

Bibelstellen: 1Kor 1, 17

Stichwörter: Kreuz, Rede