Joseph

Kapitel 1: Geliebt und gehaßt (1. Mo 37,1-11)

Geliebt

Für alle, die unseren Herrn Jesus Christus lieben, liegt in den Lebensbildern der alttestamentlich Gläubigen eine bleibende Schönheit, weil darin die glänzenden Entfaltungen der Herrlichkeiten und Vortrefflichkeiten des Christus gesehen werden können. Diese Schatten der Dinge, die kommen sollen, bleiben für den natürlichen Menschen zweifellos verborgen, sind aber einfach zu erkennen für die, die durch den Geist „in allen Schriften das, was ihn betraf“, suchen (Lk 24,27).

Von allen alttestamentlichen Geschichten zeigt keine ein kostbareres und deutlicheres Bild von Christus, als die rührende Geschichte Josephs. Andere Lebensbeschreibungen mögen mehr Einzelheiten persönlicher Erfahrungen und menschlichen Versagens schildern, was für viele eine heilsame Lehre ist. Doch wenn das Leben Josephs beschrieben wird, fühlen wir, daß der Geist Gottes die Entfaltung der Herrlichkeit Christi im Blickfeld hat. All das jedoch, was die Schwachheit und das Versagen eines Menschen mit gleichen Gemütsbewegungen wie wir betrifft, findet hier wenig oder gar keinen Platz.

So kostbar das Bild sein mag, stellen wir doch bald fest, daß das Leben keines einzigen Gläubigen hinreichend die Fülle des Christus aufzuzeigen vermag. Zusammen mit Joseph weisen andere Heilige Gottes wie Isaak, David und Salomo durch ihre Geschichten auf die Herrlichkeiten des Christus hin, doch nicht als bloße Wiederholungen, da jeder einige spezielle Herrlichkeiten zu offenbaren hat. Isaak zeigt die Leiden und die Zuneigungen des Christus, durch die Er Seine Braut gewinnt; David Seine Leiden und Siege, durch die Er das Königreich erhält; und Joseph Seine Leiden und Seinen Vorrang, durch die Er das Königreich verwaltet. Salomo führt uns weiter und enfaltet die Herrlichkeit Seines Reiches als „der Höchste“.

Sein Dienst

Die Geschichte Josephs beginnt, als er im Alter von siebzehn Jahren mit seinen Brüdern die Herde weidete und bei den Söhnen Silpas Dienst tat*) (V. 2).*) siehe New Translation von JND

Er, der der Größte sein wird, muß zuerst ein Diener sein. Der Platz höchster Ehre kann nur auf dem Weg des Dienstes erreicht werden, entsprechend den Worten des Herrn: „Wer irgend unter euch groß werden will, soll euer Diener sein, und wer irgend unter euch der Erste sein will, soll euer Knecht sein“ (Mt 20,26. 27). Hierin ist der Herr selbst das vollkommene Beispiel Seiner eigenen Lehre, denn Er kann sagen: „Ich aber bin in eurer Mitte wie der Dienende“ (Lk 22,27). Und da Er Knechtsgestalt annahm und gehorsam ward bis ans Kreuz, darum hat Gott Ihn auch erhoben und Ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist (Phil 2,7-9). So sehen wir schon am Anfang dieser Geschichte den „Schatten“ von Einem, der größer ist als Joseph.

Sein Weiden

Nun haben wir auch noch andere Dinge, die im Anfang der Geschichte Josephs von Christus sprechen. Wie Moses und David in späteren Tagen, ist Joseph ein Hüter der Schafe, bevor er ein Führer von Menschen wird. Mo-se muß sich vierzig Jahre lang damit begnügen, hinter der Wüste die Herde der Schafe zu leiten, bevor er der Führer des Volkes Gottes durch die Wüste wird. Und wird nicht von David geschrieben, daß Jehova „David erwählte, seinen Knecht, und nahm ihn von den Hürden der Schafe; … er ließ ihn kommen, um Jakob, sein Volk, zu weiden, und Israel, sein Erbteil“ (Ps 78,70. 71)? So sind diese alten Gläubigen nicht nur im Dienen, sondern auch in der Art des Dienstes ein Vorbild des großen Hirten der Schafe.

Seine Absonderung

Dienst mit seinen Brüdern bedeutet jedoch nicht, daß er sich notwendigerweise mit ihrem Bösen einsmacht. Als der gehorsame Diener ist er ihnen sehr nahe; als ein redlicher Mann ist er gänzlich von ihnen abgesondert. Sein Dienst bringt ihn in Verbindung mit anderen, aber sein Charakter läßt ihn von anderen abgesondert sein. Seine bloße Gegenwart entlarvt ihre Bosheit, so daß er seinem Vater lediglich ihre üble Nachrede hinterbringen konnte.

So war es mit Christus, dem vollkommenen Erretter. Seine Gnade brachte Ihn in unsere Nöte, aber Seine Heiligkeit hielt Ihn gänzlich von allen unseren Sünden fern. Unsere schrecklichen Nöte und Seine unendliche Gnade ließen Ihn Diener sein unter den bedürftigen Volksmengen, und doch machten unsere Sünden und Seine Heiligkeit Ihn zu einem einsamen Fremdling im Lande. Als der vollkommene Diener war Er für alle zugänglich, aber als der Heilige war Er getrennt von allen. Sein Dienst der Liebe führte Ihn in viele bedürftige Häuser, aber Seine Heiligkeit machte Ihn heimatlos.

Seine Überlegenheit

Wenn jedoch der Charakter Josephs ihn von seinen Brüdern trennte, gab die Liebe seines Vaters ihm einen bevorzugten Platz über seinen Brüdern, da wir lesen: „Israel hatte Joseph lieber als alle seine Söhne“ (V. 3). Überdies gab Israel diesem Platz der Auszeichnung Ausdruck, indem er Joseph mit einem bunten Leibrock bekleidete – ein öffentliches Zeugnis des Wohlgefallens des Vaters seinem Sohn gegenüber.

Sofort gehen unsere Gedanken von Joseph hin zu Christus und dem einzigartigen Platz, den Er in den Zuneigungen des Vaters hatte und zu dem Wohlgefallen des Vaters, das ein Zeugnis der Freude über Seinen Sohn ist. Das gleiche Kapitel, das uns berichtet, daß Gott die Welt also geliebt hat, sagt uns auch, daß der Vater Seinen Sohn liebt. Der Liebe Gottes zu der Welt wird ein Maß gegeben, obwohl sie doch unendlich ist, aber der Liebe des Vaters zum Sohn wird und kann kein Maß gegen werden. Diese Aussage bleibt in ihrer majestätischen Göttlichkeit stehen: „Der Vater liebt den Sohn“ (Joh 3,35). Der Glaube freut sich, dies so anzunehmen. Wenn aber der Vater kein Maß für diese Liebe geben kann, so gibt Er doch Zeugnis von Seiner Liebe dem Sohn gegenüber. Josephs farbenprächtiges Kleid, das öffentliche Zeugnis der Liebe des Vaters, hat sein glänzendes Gegenstück im geöffneten Himmel des Neuen Testamentes.

Niemals wurde der Himmel unabhängig von Christus geöffnet, und wenn er geöffnet wurde, dann war es immer, um erneut die Freude des Vaters an den mannigfaltigen Tugenden des Sohnes zu bekunden. Kaum hatte Christus Seinen Platz auf dieser Erde als der Diener Gottes eingenommen, wurden Ihm sofort die Himmel aufgetan, und die himmlischen Heerscharen schauten auf einen Menschen auf dieser Erde. Von diesem konnte der Vater sagen: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17).

Wenig später werden die Himmel wiederum geöffnet, so daß ein Mensch auf dieser Erde – Stephanus – hinaufschauen und Zeugnis geben kann von dem Sohn des Menschen im Himmel (Apg 7,55. 56). Auch ist der Tag nicht mehr fern, wo der Himmel geöffnet sein wird, um den Sohn des Menschen in Seiner Herrlichkeit als den Sieger, den König der Könige und Herrn der Herren erscheinen zu lassen (Offb. 19,11-16).

Wenn Er gekommen sein wird als der König der Könige, wird der Himmel wiederum geöffnet werden, damit Engel Gottes auf- und niedersteigen können, um dem Sohn des Menschen Zeugnis zu geben, der auf dieser Erde in Herrlichkeit regiert (Joh 1,51).

Bei diesen glanzvollen Gelegenheiten sehen wir unseren Herrn mit dem „farbenprächtigen Gewand“ angetan. In anderen Worten: Wir sehen in dem geöffneten Himmel des Vaters Freude an Christus als Seinem geliebten Sohn in Seiner Erniedrigung, als dem Sohn des Menschen in himmlischer Herrlichkeit und als dem König der Könige und Herrn der Herren, wie Er kommt, um auf dieser Erde als der Sohn des Menschen in Macht und Herrlichkeit zu regieren.

Sein Vorrang

Zudem ist der Eine, der vom Vater geliebt und der besondere Gegenstand seiner Freude ist, der Eine, der dazu bestimmt ist, in alle Ewigkeit den Vorrang zu haben. Diese große Wahrheit wird uns durch die Träume Josephs nahegebracht, denn beide zeigen uns seine Vorrangstellung. Ein Traum mochte zwar ausreichend gewesen sein, die Herrlichkeit Josephs vorherzusagen, aber um die Herrlicheiten des Christus vorzuschatten, wäre er gänzlich unzulänglich gewesen. Denn Sein Vorrang wird einen zweifachen Charakter haben.

Er wird einmal auf dieser Erde den Vorrang haben, und einige Stellen zeigen uns diese irdische Herrlichkeit. Der Traum von den Garben, die sich vor der Garbe Josephs verneigen, mag deutlich von dieser überragenden Obergewalt über die Erde sprechen, zu der Christus bestimmt ist, sie auszuüben. Dieser erste Traum versäumt jedoch, den Vorzug Christi in seinem gewaltigen Umfang darzulegen, da Er nicht nur dazu bestimmt ist, auf dieser Erde den Vorrang zu haben, sondern die allumfassende Macht über Himmel und Erde zu besitzen. Der Vater hat sich nach Seinem Wohlgefallen vorgesetzt, in der Fülle der Zeit „alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus, das was in den Himmeln und das was auf der Erde ist“ (Eph 1,10). Der zweite Traum spricht von dieser himmlischen Herrschaft, indem Himmelskörper dargestellt werden – die Sonne, der Mond und die Sterne, die sich vor Joseph verneigen. Die zwei Träume stellen somit den Vorrang dar, den Christus über die Dinge auf der Erde und die Dinge in den Himmeln bis zu den entferntesten Grenzen des Universums hat.

Seine Leiden

So ist der Geist Gottes erfreut, Christus zu verherrlichen, indem Er als leitenden Gedanken in der Geschichte Josephs Seinen allumfassenden Vorrang darstellt, wenn es auch ein Weg der Leiden ist, auf dem dieser hervorragende Platz erreicht wird. Es sind die Tugenden und Vortrefflichkeiten des Charakters, die die Leiden hervorrufen, ebenso wie die Herzlosigkeit der Seinigen und Gleichgültigkeit dieser Welt.

Gehaßt

Wenn Joseph in den Zuneigungen seines Vaters einen einzigartigen Platz einnimmt und wenn er in den Ratschlüssen Gottes für den vorrangigen Platz bestimmt ist, wird er unterdessen dem Haß seiner Brüder zu begegnen haben. Dies muß so sein, wenn seine Geschichte in jeder Weise den noch viel größeren Haß vorschatten soll, den Christus von Seiten der Menschen zu ertragen hatte. Dieser Eine, den Gott für den Platz allumfassender Herrschaft bestimmt hat, ist der Einzige, der von jedem natürlichen Herzen gehaßt wird.

Warum bringt das natürliche Herz solch einen Haß gegenüber Christus hervor? Gab es in Ihm irgendeinen Anlaß für diesen Haß? Niemals, denn in Christus fand man absolut nichts von Grausamkeit und Gewalttätigkeit, von Gier und Habsucht, von Stolz und Hochmut, von Gemeinheit und Selbstsucht, was in anderen Menschen ein Anlaß zum Haß ist. In Ihm war alles, was Liebe hervorruft. Während andere umhergingen, um Böses zu tun, ging Er umher „wohltuend und heilend“ (Apg 10,38). Der Mund der Menschen mochte voll Fluchens und Bitterkeit sein, aber letztlich mußten sie doch Zeugnis geben von den „Worten der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen“ (Lk 4,22). Und die Diener, die gesandt waren, um ihn zu greifen, sagten: „Niemals hat ein Mensch so geredet wie dieser Mensch“ (Joh 7,46).

Gehaßt, weil sie böse waren

Trotz Seiner Taten der Liebe und der Worte der Gnade haben sie Ihm „Böses für Gutes erwiesen, und Haß für seine Liebe“ (Ps 109,5). Er konnte wahrhaftig sagen: „Sie haben mich ohne Ursache gehaßt“ (Joh 15,25). Leider. Es gibt eine Fülle von Ursachen für den Haß, aber keine in Ihm. Es gibt keinen Anlaß im Menschen, um die Liebe Christi hervorzurufen, und es gibt keinen Grund in Christus, der den Haß der Menschen hervorrufen könnte. Aber warum haßt das böse Herz der Menschen den Einen, der in Seinem ganzen Leben den Menschen nur Liebe gezeigt hat? Die Geschichte von Joseph gibt uns die Antwort. Warum wurde Joseph von seinen Brüdern gehaßt? War er nicht in ihrer Mitte einer, der diente? Das ist wohl wahr, aber sie waren böse und daher – wie angenehm sein Dienst auch sein mochte – stellte seine Gegenwart ihre Bosheit bloß und rief dadurch ihren Haß hervor. Aus dem gleichen Grund, nur in tieferem Maß, haßt die Welt Christus, denn Er konnte sagen: „Mich haßt sie (die Welt), weil ich von ihr zeuge, daß ihre Werke böse sind“ (Joh 7,7).

Gehaßt, weil sie neidisch waren

Für den Haß der Brüder Josephs gab es auch noch andere Gründe. Als sie sahen, „daß ihr Vater ihn lieber hatte als alle seine Brüder, da haßten sie ihn und vermochten nicht, ihn zu grüßen“ (V. 4).

So auch mit Christus. Indem Er Seine einzigartige Stellung bei dem Vater bekennt, sagt Er: „Mein Vater wirkt bis jetzt und ich wirke“ (Joh 5,17). Sofort ruft das den Haß der Juden hervor, und „sie suchten noch mehr, ihn zu töten“. Zugleich macht der Herr ihnen kund: „Der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er selbst tut“ (V. 20). Der Geliebte des Vaters wird von den Menschen gehaßt.

Gehaßt wegen seiner Träume

Die Träume, die von der zukünftigen Herrschaft Josephs sprechen, sind ein weiterer Beweggrund für den Haß und Neid der Brüder. Er war wegen ihrer Bosheit ein Zeuge gegen sie gewesen. Nun ist er für sie ein Zeuge von seiner zukünftigen Herrlichkeit. Sie wollten weder das eine noch das andere.

So auch bei Christus, als Er gegen das Böse der Welt zeugte und wie Joseph das Zeugnis über Seine kommenden Herrlichkeiten offenbarte. Dadurch zog Er den Haß der Welt auf sich. Vor den versammelten Führern von Jerusalem spricht der Herr von seinen kommenden Herrlichkeiten, indem Er sagen kann: „Von nun an aber wird der Sohn des Menschen sitzen zur Rechten der Macht Gottes“ (Lk 22,69). Diesem Bekenntnis folgt ein wilder Ausbruch des Hasses, indem Priester und Älteste vereint in das Angesicht des Sohnes Gottes speien.

Gehaßt wegen seiner Worte

Schließlich haßten die Brüder Joseph auch wegen seiner Worte, denn wir lesen: „Und sie haßten ihn noch mehr um seiner Träume und um seiner Worte willen“ (V. 8). Auch bei dem Herrn war es nicht anders. Die Menschen hörten die Worte von Ihm, der sprach, wie noch niemand gesprochen hatte, und einige glaubten (Joh 4,11), aber „viele von ihnen sagten: Er hat einen Dämon und ist von Sinnen; was höret ihr ihn?“ (Joh 10,20). Ihr Haß konnte nicht verborgen bleiben. Auch heute ist Christus noch der Gegenstand des Hasses, den die Menschen, auch wenn sie es versuchen, nicht verbergen können. In Wort und Schrift wird beständig Sein Name herabgewürdigt, die Wahrheit über Seine Person geleugnet und Sein Werk abgelehnt, oft verborgen unter dem Deckmantel von Religion oder Theologie. Es sind immer noch Seine.bekennenden Brüder‘, die nicht friedfertig von Ihm reden können. Aber laßt uns niemals vergessen, daß hinter all den „harten Worten, welche gottlose Sünder wider ihn geredet haben“ die Werke der Gesetzlosigkeit stehen, „die sie gottlos verübt haben“ (Jud 15). Das böse Leben der Brüder Josephs stand hinter dem Haß in ihren Herzen und den bösen Worten auf ihren Lippen. Es ist auch heute so, daß die ungöttlichen Werke in dem Leben der Menschen zu den harten Worten führen, „welche gottlose Sünder wider ihn geredet haben“.

(Wird fortgesetzt) H.S.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1987, Seite 86

Bibelstellen: 1Mo 37, 12-36

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