Joseph

Kapitel 10: Der Blick des Glaubens (1. Mo 50,15-26)

Die beiden letzten Szenen in der Geschichte Josephs lassen einen bemerkenswerten Unterschied zwischen dem Unglauben der Brüder und dem Glauben des sterbenden Joseph erkennen. Wenn die erste Szene, von Vers 15 bis Vers 21, uns einerseits ein trauriges Bild von dem Unglauben der Brüder liefert, so beschreibt sie auch die vollkommene Gnade Josephs. Dieser entscheidende Punkt in der Geschichte der Brüder zeigt deutlich, daß sie keine wahre Kenntnis des Herzens Josephs und deswegen kein wirkliches Vertrauen in ihn hatten.

Der Rückblick auf die Vergangenheit

Joseph hatte seine Brüder für eine große Errettung am Leben erhalten (Kap 45,7); er hat sie in den Besitz des „besten Teils Ägyptens“ gebracht und sie mit Brot versorgt (Kap 47,12). Siebzehn Jahre lang waren sie die Empfänger der Gaben Josephs und die besonderen Gegenstände seiner liebenden Fürsorge gewesen, und jetzt, wenn eine Übung auftritt, wird offenbar, daß sie Joseph persönlich nicht wirklich kennen. Sie wissen etwas von seiner Größe und Herrlichkeit, sie kennen das große Werk, das er vollständig ausgeführt hat, sie wissen, daß sie jede Segnung, die sie genießen dürfen, seiner Stellung und seinem Tun zu verdanken haben, aber sie sind nicht vertraut mit seiner Gesinnung und seinem Herzen. Es ist so, als würden sie sagen: „Wir wissen, was er für uns getan hat, aber wir wissen nicht, wie er für uns empfindet.“ Und weil sie, als die Krise kommt, seine Gesinnung nicht kennen, wird offenbar, daß sie kein Vertrauen in ihn haben. Dadurch kommen sie zu der Überzeugung, daß Joseph genauso über sie denkt und genauso mit ihnen handeln wird, wie auch sie es einmal mit ihm getan hatten.

Das Offenbarwerden der Herzen

Sie erinnern sich, daß sie Joseph, als er ein Knabe von siebzehn Jahren war, haßten und nicht vermochten, ihn zu grüßen (Kap 37,4). Nun schließen sie daraus, daß Joseph sie vielleicht hassen wird. Das Gewissen erinnert sie daran, wie schlecht sie Joseph gegenüber gehandelt hatten, und so sagten sie: „Wenn nun Joseph … uns gar all das Böse vergelten würde, das wir ihm angetan haben!“ (Kap 50,15). Sie beurteilen seine Gedanken nach ihren Gedanken, sein Herz nach ihren Herzen und seine Handlungen nach ihren Handlungen.

Die Verwirklichung der Stellung

Ach! Gleichen wir Christen heute nicht oft den Brüdern Josephs? Wir wissen etwas von der Herrlichkeit der Person Christi, wir erkennen etwas von der Wirkungskraft Seines Werkes, wir erfreuen uns der Vorrechte, die Seinem vollbrachten Werk am Kreuz und Seinem gegenwärtigen Dienst in der Herrlichkeit entspringen. Aber wenn einige kleine Übungen in unserem Leben auftreten, wird es offenbar, wie wenig wir Sein Herz kennen und wie wenig Vertrauen wir dadurch zu Ihm selbst haben. Wie fehlt uns doch dieser persönliche, vertraute Umgang mit Christus, durch den wir allein Sein Herz in einer solchen Weise kennenlernen, daß wir nicht nur sagen können: „Ich weiß, was Er für mich getan hat“, sondern auch: „Ich weiß, wie Er für mich empfindet“. Deswegen sind wir, wenn wir wie die Brüder Josephs in besonderen Prüfungen sind, in unseren Seelen sehr unglücklich. Es wurde schon zu Recht gesagt: „Nichts hat mehr zu der heutigen Zerrissenheit der Gläubigen beigetragen als die mangelnde persönliche Verbindung mit dem Herrn. Der Eifer, sich Kenntnisse der Heiligen Schrift zu erwerben, ist groß und nimmt zu, aber die persönliche Vertrautheit mit dem Herrn begehrt man nicht in gleicher Weise.“

Die Kenntnis der Heiligen Schrift

Die Brüder Josephs hatten die gütigen Worte Josephs gehört, als sie mit ihm allein waren, aber weil sie sein Herz nicht kannten, hatten sie nur wenig von der vollen, tiefen Bedeutung seiner Worte verstanden. Auch bei uns ist es möglich, daß wir ein großes Wissen über die Worte der Heiligen Schrift haben und doch die großen Wahrheiten, die durch die Worte mitgeteilt werden, nicht kennen. Nur wenn wir Christus selbst kennen, können wir ein wahres Verständnis der Schrift erlangen. Deshalb betet der Apostel, „daß der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Herrlichkeit, euch gebe den Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis seiner selbst“ (Eph 1,17). Die Weisheit der Schulen – die Kenntnis von Griechisch und Hebräisch -, wie nützlich sie auch an ihrem Platz sein mag, wird uns niemals den Geist der Weisheit und Offenbarung geben. Solche Kenntnis kann uns ein Verständnis über die Buchstaben der Offenbarung geben, aber nicht den Geist der Offenbarung. Wir müssen das Herz Christi kennen, um die Worte Christi verstehen zu können.

Die Erkenntnis Christi Jesu

Die Schrift spricht von einem erlernbaren, verstandesmäßigen Wissen, das sich jemand durch Hören oder Sehen erwerben kann, und auch von einem Wissen aus Überzeugung – dem persönlichen Vertrauen, durch das wir das Herz einer Person kennenlernen. Von diesem letzteren Wissen spricht Paulus, wenn er sagt: „Um ihn zu erkennen“ (Phil 3,10). Und diese Erkenntnis fehlt uns oft. Wir kennen die herrlichen Dinge, die Er vollbracht hat und erfreuen uns daran, aber kennen wir das Herz Dessen, der so viel für uns getan hat, in der Weise, daß wir sagen können: „Ich weiß, wie Er für mich empfindet“?

Der Mangel an Vertrauen

Der Mangel an wahrer Erkenntnis des Herzens Josephs und der daraus folgende Mangel an Vertrauen zu Joseph wird durch die Botschaft, die seine Brüder ihm senden, offenbar. Das Schlimme daran ist, daß sie versuchen, ihren eigenen Unglauben und ihr Mißtrauen gegenüber Joseph zu verbergen, indem sie vorgeben, nur die letzten Befehle von Josephs Vater auszuführen. Man kann kaum glauben, daß Jakob solche Befehle hinterlassen hat. Weil sie die Vergebung Josephs für ihre traurige Vergangenheit völlig vergessen, bitten sie nun um Vergebung. Trotz der erwiesenen Gnade und Liebe durch Joseph führt sie ihr unruhiges Gewissen dazu, den Gedanken zu hegen, daß Joseph immer noch etwas gegen sie hat.

Wenn wir uns nicht nahe bei Christus aufhalten und nicht Sein Herz kennengelernt haben, können auch wir durch Sünde, Versagen, durch einen unvorsichtigen Wandel und durch das Gewissen, das uns anklagt, denken, daß Christus auf Grund dessen, was wir getan haben, gegen uns ist. Wir bitten dann, wie Josephs Brüder, um Vergebung. Doch wie groß auch der Fehler eines wahren Gläubigen sein mag, so weist doch die Schrift nirgends darauf hin, daß er um Vergebung bitten soll, als wäre diese Frage nicht vollständig und unabänderlich entschieden. Er wird vielmehr aufgefordert, seine Sünde zu bekennen, damit die Gemeinschaft wiederhergestellt werden kann.

Die Beruhigung der Brüder

Nach all der Liebe, die die Brüder reichlich empfangen hatten, erschütterte dieses mangelnde Vertrauen das Herz Josephs. Er „weinte, als sie zu ihm redeten“ (V 17). Das Schlimmste in dieser so argen Welt ist unerwiderte Liebe. Obwohl seine Tränen zeigten, wie tief er empfand, spricht er keinen Vorwurf aus. Gerade die Tränen würden sicherlich genügt haben, ihren Unglauben schwinden zu lassen. Aber Joseph führt sie zu persönlicher Vertrautheit mit sich, indem er sie wissen läßt, daß in seinem Herzen nur Liebe zu ihnen ist, obwohl er völlig um das Böse weiß, daß gegen ihn in ihren Herzen gewesen war.

Die Furcht wird genommen

„Ihr zwar“, kann Joseph sagen, „ihr hattet Böses wider mich im Sinne“, aber er kann hinzufügen: „Fürchtet euch nicht“ (V 19. 20). Er sagt gleichsam: „Ich weiß um alles Böse gegen mich, das in euren Herzen ist, aber ihr braucht euch nicht zu fürchten, denn es ist nur Liebe zu euch in meinem Herzen.“ Und so nimmt er noch einmal alle Furcht wegen der Vergangenheit und alle Angst vor der Zukunft von ihnen, denn er fügt hinzu: „Ich werde euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete zu ihrem Herzen“ (V 21). Vollkommene Liebe treibt alle Furcht aus.

Das Vertrauen wird wiederhergestellt

Was für eine Veränderung muß diese Unterredung bei den Brüdern bewirkt haben! Wenn danach jemand versuchte, Josephs Liebe in Zweifel zu ziehen, hätten sie sicherlich gesagt: „Wir sind in seiner Gegenwart gewesen, wir haben ihn persönlich kennengelernt, und wir kennen seine Gesinnung. Wir wissen nicht nur, was er für uns getan hat, sondern auch wie er für uns empfindet.“

Der Glaube wächst

In der letzten Begegnung zwischen Joseph und seinen Brüdern wächst der Glaube Josephs über alle Herrlichkeiten dieser vergänglichen Welt hinaus und schaut in eine bessere und herrlichere Welt, die noch zukünftig ist. Er denkt und spricht nicht mehr von dem, was er erlitten, von der Macht, die er ausgeübt hatte oder von dem Guten, das er getan haben mag. Er vergißt das, was dahinten liegt, und streckt sich nach dem aus, was vor ihm liegt.

Die zukünftigen Dinge

Isaak schaute, als er „alt geworden und seine Augen zu schwach waren, um zu sehen“, mit dem klaren Blick des Glaubens in eine andere Welt und sprach „in bezug auf zukünftige Dinge“ (1. Mo 27,1; Hebr 11,20). Der Glaube des sterbenden Jakobs erhaschte einen Blick der zukünftigen Herrlichkeit „und betete an über der Spitze seines Stabes“ (Heb 11,21). Und nun konnte Joseph, der im Begriff stand, die Reise durch das Tal des Todes anzutreten, einen kurzen Blick auf die jenseitigen Höhen werfen und, sich über alle vergangenen Dinge erhebend, die Welt, die noch zukünftig ist, im Glauben erfassen.

Das Ziel ist erreicht

Gott zögert nicht, den Glauben dieser sterbenden Gläubigen anzuerkennen, der in Zeiten größter menschlicher Schwachheit in höchster Kraft sichtbar wurde. Nicht die großen Taten in ihrem bewegten Leben haben ihnen einen Platz unter den Gläubigen gegeben, die Gott mit Namen aufgezeichnet hat, sondern der Glaube, der in der Schwachheit des Alters und in der Stunde des Sterbens hervorstrahlte. Der Glaube anderer Gläubiger zeigte sich, als sie Schwierigkeiten auf dem Weg überwanden, der Schlinge des Feindes entkamen und über die Versuchungen der Welt den Sieg davontrugen. Aber der Glaube dieser drei Männer ist deswegen bemerkenswert, weil sie alle sichtbaren und vergänglichen Dinge, sie mochten gut oder schlecht, klein oder groß gewesen sein, vergaßen und nach einer anderen Welt ausschauten.

Das tritt bei Joseph besonders hervor, wenn man bedenkt, welche bedeutsame Stellung er vor der Welt zu seiner Zeit und in seiner Generation eingenommen hatte.

Er erkennt, daß alle Herrlichkeit Ägyptens schließlich in jener Lade in Ägypten ihr Ende findet. Er hatte in würdiger Weise einen Platz großer Macht und Herrlichkeit in dieser Welt ausgefüllt, wie noch nie ein Mensch vorher oder nachher, aber das Ende aller Herrlichkeit Ägyptens ist für ihn mit diesen bezeichnenden Worten erreicht: „Und man legte ihn in eine Lade in Ägypten“ (V 26).

Der lebendige Gott

Daher spricht er nicht mehr von den Menschen und ihrer kleinen Welt, sondern von Gott, dem lebendigen Gott, von Seiner Treue, Seiner Macht und von dem von Ihm verheißenen Land. „Ich sterbe“, sagt Joseph. Das Leben des Menschen, der andere durch eine große Errettung am Leben erhalten hat (Kap 45,7), steht im Begriff zu entfliehen. Doch wenn auch Joseph stirbt – Gott lebt. Wenn Joseph beiseite tritt – Gott bleibt Und er befiehlt seine Brüder in die Hände des lebendigen und unwandelbaren Gottes. Wenn er ihnen auch genommen wird, kann er doch mit größter Gewißheit des Glaubens sagen: „Gott wird euch gewißlich heimsuchen“ (V 24). Der lebendige Gott ist ihre unerschöpfliche Hilfsquelle in der Gegenwart des sterbenden Josephs.

Die klare Einsicht

Gott wird überdies für sein Volk in großer Macht handeln, denn Joseph kann sagen: „Gott wird euch .. . aus diesem Land hinaufführen“ (V 24). Joseph hatte eine lange Zeit in Ägypten zugebracht. Er sah „von Ephraim Kinder des dritten Gliedes“ (V 23). Sie waren in dem Land Ägypten ganz seßhaft geworden. Für das natürliche Empfinden war es unwahrscheinlich, daß jemals eine Zeit kommen würde, in der sie das Land Ägpyten verlassen und in ein Land ziehen würden, das sie noch nie gesehen hatten. Der Glaube, der sich über die sichtbaren Dinge erhebt und es ablehnt, nach dem menschlichen Verstand zu urteilen, sieht jedoch mit einem klaren Blick, daß das Land Ägypten, obwohl sich das Volk Gottes dort eine Zeitlang aufgehalten hat, nicht das Land der Ruhe ist, das Gott Seinem Volk verheißen hat. Die Fremdlingschaft im Land Ägypten mag zwar ein Teil der Wege Gottes mit Seinem Volk sein, aber sie ist nicht Gegenstand des Vorsatzes Gottes mit Seinem Volk.

Der treue Gott

So blickt der Glaube Josephs in das Land der Verheißung. So sicher es ist, daß Gott Sein Volk in Gnaden heimsuchen wird, um sie aus Ägpyten herauszuführen, so sicher wird Er auch Seine Hand in großer, rettender Macht ausstrecken, um sie in das Land der Verheißung zu bringen – „ein gutes und geräumiges Land, … ein Land, das von Milch und Honig fließt“ (2. Mo 3,8). Darüberhinaus ist dieses gute Land mit all seinem Segen und seiner Herrlichkeit, wie es sich dem Glauben des sterbenden Joseph auftut, durch die bedingungslose Verheißung Gottes gesichert, die Er Abraham, Isaak und Jakob gegeben hat. Joseph liegt im Sterben, aber keine Wolke verdunkelt die Stunde seines Todes, denn durch den Glauben erkennt er, daß jede Segnung einer fernen Zukunft in der Treue und Macht des lebendigen Gottes begründet liegt.

Ein denkwürdiger Tod

So geschieht es, daß er in der Kraft des Glaubens an den lebendigen Gott Anweisungen betreffs seiner Gebeine gibt. Sie sollten nicht in Ägypten zurückgelassen werden! Welch ein Zeugnis muß die Lade Josephs die ganzen Jahrhunderte hindurch für die Israeliten gewesen sein! Die Lade erinnerte sie ständig daran, daß nicht einmal der Tod den lebendigen Gott daran hindern kann, Sein Wohlgefallen und Seinen Vorsatz für Sein Volk auszuführen. In Übereinstimmung mit dem, was sie Joseph geschworen hatten, verlassen sie schließlich das Land Ägypten. „Und Mose nahm die Gebeine Josephs mit sich“ (2. Mo 13,19). So waren sie auch während der vierzig Jahre der Wüstenreise ein Zeugnis des Glaubens an Gott. Als sie schließlich das Land der Verheißung erreichen, wird sein Leib „auf dem Stück Feld, welches Jakob von den Söhnen Hemors … gekauft hatte“, begraben (Jos 24,32), um dort im Staub der Erde zu ruhen, bis er zum ewigen Leben auferstehen wird, um am Ende der Tage in seinem Land zu sein.

Der auferstandene Erretter

So ist es auch heute mit dem Volk Gottes. Der Glaube schaut immer über das Tal des Todesschattens hinaus zu den ewigen Ratschlüssen Gottes. Wie in vergangenen Zeiten, so ruht auch heute in der Gegenwart des Todes der Glaube in dem Gott der Auferstehung, aber mit einem klaren Blick, denn wir sehen Christus, auferstanden aus den Toten, sitzend zur Rechten der Macht Gottes, der in Seiner Hand die Schlüssel des Todes und des Hades hält. Wenn unser Glaube den auferstandenen Menschen im Himmel erblickt, werden wir die vergänglichen Herrlichkeiten dieser sterblichen Welt gering achten, so daß wir, vergessend was dahinten, uns nach dem ausstrecken, was vor uns liegt, um während dieser Zeit darauf zu warten, daß der Herr Sein Volk sicherlich heimsuchen wird. Denn Er selbst „wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel, und die Toten in Christo werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein“ (1. Thes 4,16. 17).

Während also alles, was man sieht, in einer Lade in Ägypten zu enden scheint, hat doch der Glaube diesen herrlichen Moment vor Augen, wenn wir zusammen entrückt werden, um für immer bei dem Herrn zu sein. „So ermuntert nun einander mit diesen Worten“ (1. Thes 4,18).

(Schluß) H.S.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1988, Seite 85

Bibelstellen: 1Mo 50, 15-26

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