Zurück aus Babel

Esra 2 und 3

Es waren Jahrzehnte vergangen, seit das Königreich Juda sein gewaltsames Ende gefunden hatte. Nebukadnezar hatte bei seinem dritten Kommen nach Jerusalem die Stadt und den Tempel zerstört und die jüdischen Bewohner des Landes gefangen nach Babel gebracht. Das Zehn-Stämme-Reich hatte längst vorher zu bestehen aufgehört: Über hundert Jahre zuvor waren die zehn Stämme Israels in die Gefangenschaft nach Assyrien weggeführt worden. Sie sind bis heute verschollen.

Göttliche Voraussetzungen zur Umkehr

Demütigende Lage! Das einstige Volk Gottes unter die Nationen zerstreut und unter fremder Herrschaft geknechtet! Alles hatte Israel verloren: sein Heiligtum, die Gegenwart und den Segen Gottes, sein Land, seine Einheit, seine Freiheit – alles. Natürlich war das nicht wie von ungefähr gekommen. Sie hatten Jehova, ihren Gott, verlassen, und schließlich mußte Gott sie verlassen. Ist das nicht immer das traurige Ergebnis davon, wenn Gott dem Menschen etwas zum Bewahren anvertraut? Was tut er damit? Er achtet es gering, veruntreut es, verliert es. War es mit dem Garten Eden nicht ebenso gegangen, und auch später mit anderen Segnungen? Man sagt oft, die Geschichte wiederhole sich nicht. Doch! Die Geschichte der menschlichen Verantwortlichkeit jedenfalls wiederholt sich – ständig, bis heute.

Was Israel getroffen hatte, war gerecht. Und wenn es nur nach Recht und Gerechtigkeit gegangen wäre, wäre es in dem selbst verschuldeten Elend geblieben bis auf den heutigen Tag. Doch Gott ist auch voll Gnade und Erbarmen. Darin lag und liegt die Hoffnung für jeden Menschen, auch für Israel.

Kores, der Begründer des persischen Weltreiches, hatte gleich zu Anfang seiner Regierungszeit den Gedanken, die Juden in seinem Land zu ermuntern, nach Juda zu ziehen und in Jerusalem den Tempel wiederaufzubauen. Merkwürdig! Ein heidnischer Herrscher interessierte sich derart für das „Haus Jehovas, des Gottes Israels, in Jerusalem“ (Esra 1,3)! Wie war es dazu gekommen? Hatte er vielleicht durch einen jüdischen Gelehrten im Exil, etwa durch Daniel, etwas darüber erfahren, was einer der Propheten Israels schon vor knapp zweihundert Jahren über ihn vorhergesagt hatte? Daß er sogar seinen Namen genannt und ihn als Hirten und Gesalbten Jehovas bezeichnet hatte1 (Jes 44,28; 45,1)? Wir wissen es nicht. Fest steht jedenfalls, daß es Jehova selbst war, der den Geist Kores, des Königs von Persien, erweckte. Wen oder was Er dazu benutzte, wird uns nicht berichtet.

‚) Wir können annehmen, daß die Ausdrucksweise in Jesaja darauf schließen läßt, daß Kores ein Vorbild von einem Größeren, von Christus selbst, ist: „Ja, er wird den Tempel Jehovas bauen; und er wird Herrlichkeit tragen“ (Sach 6,13).

Alles, was nun im Buch Esra vor uns kommt, hat seine Grundlage in dem Wirken Gottes. Das äußere Werkzeug für den außerordentlichen Wandel war der König. Aber Gott hatte noch etwas bewirkt, was uns das Buch Esra nicht mitteilt, was jedoch, wenn ich so sagen darf, die innere Voraussetzung für das in diesem Buch Geschilderte war. Ein inzwischen hoch betagter jüdischer Mann, kein Geringerer als Daniel, hatte in den heiligen Schriften geforscht und gefunden, daß Gott etwas über die Länge der babylonischen Gefangenschaft ausgesagt hatte: siebzig Jahre wären für die Verwüstung Jerusalems bestimmt (Dan 9,2; Jer 25,11.12). Nicht durch eine Flammenschrift an der Wand, nicht durch eine neue Offenbarung hatte Daniel von den Gedanken Gottes Kenntnis genommen. Nein, es war das Studium des Wortes Gottes gewesen, das Gott dazu benutzt hatte. Können nicht auch wir daraus lernen? Wir müssen nicht auf irgendwelche neuen Offenbarungen warten. Gott gibt sie nicht mehr. Aber laßt uns tief und unter Gebet in Sein Wort hineinschauen! Dadurch gibt Er uns Licht, Licht über Sein Herz und Licht über Seine Wege.

Und dann hatte sich Daniel vor Gott gedemütigt und sich mit den Missetaten seines Volkes einsgemacht. Geradezu rührend sein Flehen: „Herr, nach allen deinen Gerechtigkeiten laß doch deinen Zorn und deinen Grimm sich wenden von deiner Stadt Jerusalem, deinem heiligen Berge!… Und nun höre, unser Gott, auf das Gebet deines Knechtes und auf sein Flehen; und um des Herrn willen laß dein Angesicht leuchten über dein verwüstetes Heiligtum“ (Dan 9,16.17). Grundsätzlich betete ja Daniel dreimal des Tages in seinem Haus – mit „offenen Fenstern gegen Jerusalem“ (Kap. 6,11). Dorthin ging sein Herz. Und waren auch die Stadt und das Heiligtum in ihr verwüstet, er sah in ihnen immer noch Seine Stadt, Seinen heiligen Berg und Sein Heiligtum. Wir werden auf diese Betrachtungsweise, die sich nur der Glaube zu eigen machen kann, noch einmal zurückkommen. Hat nun Gott das Gebet Daniels erhört? Das Buch Esra (und auch das Buch Nehemia) geben darauf die ermutigende Antwort.

Erstes Merkmal eines Überrestes

Ich möchte in diesem Artikel hauptsächlich die Merkmale vorstellen, die einen wahren Überrest stets kennzeichnen oder ihm zugrunde liegen. Hier ist das erste zu finden, das alle anderen bedingt: das persönliche Sich-Einsmachen mit der Sünde und der Schuld des Volkes Gottes. Ob Gott auch heute noch Männer und Frauen findet, die das Versagen in der Verwirklichung wahren Christentums zu ihrer eigenen Schuld machen? Daniel empfand die Schmach und Unehre, die Gott durch den Ungehorsam des Volkes angetan worden waren. Auch für uns ist es der erste Schritt auf dem Weg zum Segen, die in der Christenheit und auch in der Mitte der Gläubigen herrschenden Verhältnisse mit Seinen Augen sehen zu lernen, zu erfassen, wie sehr der Herr Jesus dadurch verunehrt wird. Als einige Jahrzehnte später Nehemia am Hof Artasastas auf sein Befragen hin erfuhr, daß die Mauer von Jerusalem niedergerissen und seine Tore mit Feuer verbrannt waren, „setzte er sich hin und weinte und trug Leid tagelang“ (Neh 1,4). Und dann demütigte sich auch dieser Mann wegen der Treulosigkeit des Volkes und bekannte: „Auch wir, ich und meines Vaters Haus, haben gesündigt“ (Vers 6). Das ist es, glaube ich, worauf Gott heute auch bei uns wartet, was Er bewirken möchte.

Das Verzeichnis

Unter der Güte und dem Schutz Gottes war dann ein Zug von nicht einmal fünfzigtausend Menschen in das Land der Väter, nach Juda, gekommen. Und ehe uns geschildert wird, was die aus der Gefangenschaft Zurückgekehrten im Lande taten, gibt uns Gott im zweiten Kapitel eine lange Namensliste. Im allgemeinen überschlagen wir beim Lesen leicht solche Aufstellungen und halten sie für nicht sonderlich erbaulich. Und doch sind sie oft voller Belehrungen.

Das erste, war wir diesem fast das ganze Kapitel füllenden Namensverzeichnis entnehmen können, ist sicherlich dieses: Gott zeigt uns, mit welchem Interesse Er von jedem einzelnen derer Kenntnis nahm, die Seinem Ruf, Sein Haus in Jerusalem wieder aufzubauen, gefolgt sind. Das war Ihm so wichtig, daß Er die Namen der einzelnen Familienhäupter und die genaue Anzahl der Familienangehörigen in Seinem heiligen Wort für ewig hat festhalten lassen. Die Namen all derer, deren Herz nicht durch den Aufruf bewegt wurden, werden dagegen mit Stillschweigen übergangen. Das geht uns gewiß zu Herzen. Angeführt wird die Liste von Serubbabel, dem Führer des Volkes, und Jeschua, dem Priester, der in den Büchern Hag-gai und Sacharja den Namen Josua trägt. Ja, Gott betrachtet mit Freude die Früchte, die Sein Geist in den Seinen hervorrufen kann. Es ist Ihm kostbar, wenn Seine Gnade derart wirken kann, daß die Herzen der Seinen Ihm auf Seine Gnade eine Antwort geben.

Erinnert uns dieses Verzeichnis in Esra 2 nicht an ein Vorkommnis, das sich in noch späterer, böser Zeit ereignete? Damals, als die Zurückgekehrten schon wieder tief gesunken und von Jehova abgewichen waren, unterredeten sich die miteinander, die Jehova fürchteten (Mal 3,16). Auch dieses Sich-Unterreden frommer Juden, das sicher von Sorge um die unguten Entwicklungen unter den Zurückgekehrten geprägt war, war Gott so kostbar, daß Er „aufmerkte und hörte; und ein Gedenkbuch ward vor ihm geschrieben für die, welche Jehova fürchten und welche seinen Namen achten.“

Ich halte es in diesem Zusammenhang für bedauerlich, wenn zum Teil die Zusammenkünfte der Brüder zur Besprechung der Dinge und Nöte im Werk des Herrn in einer bestimmten Gegend durch Zusammenkünfte zur Betrachtung des Wortes Gottes ersetzt worden sind. Gewiß ist es immer gut, das Wort Gottes vor sich zu haben. Aber haben wir nicht Gelegenheiten genug, um gemeinsam über Sein Wort zu sinnen? Dafür sind wir Gott von Herzen dankbar. Und doch ist es auch notwendig, daß sich gottesfürchtige Brüder zusammenfinden, um die gemeinsamen Nöte im Gebet vor dem Herrn auszubreiten und „sich miteinander zu unterreden“. Der Herr wird Kenntnis davon nehmen, wenn wir es in Seiner Gesinnung tun. Daß es auch Gefahren gibt und daß schon bei solchen Zusammenkünften in der Vergangenheit ernste Fehler gemacht worden sind, sollte uns m. E. nicht dahin führen, diese Zusammenkünfte ganz aufzugeben. Denken wir an das Namensregister in Esra 2 und das Gedenkbuch in Maleachi 3! Sie wurden geschrieben zum Gedenken an die, die sich in schwerer Zeit von Herzen mit den Interessen Gottes einsmachten. Wollen auch wir „verzeichnet“ werden? Nun, hier können wir es erfahren, welche Voraussetzungen dazu notwendig sind.

Die Leviten

Das Verzeichnis im zweiten Kapitel enthält einige interessante Einzelheiten. Als erstes fällt uns die geringe Anzahl der Leviten auf. Vierundsiebzig waren es nur (Vers 40). Gewiß gehörten auch die Söhne Asaphs und die Söhne der Torhüter zu den Leviten (Verse 41 und 42), aber für das besondere Werk, für das die Leviten bestimmt waren, nämlich um Aufsicht zu führen über das Werk des Hauses Jehovas (Kap. 3,8), kamen sie nicht in Betracht. Die Zahl der Priester ging immerhin in die Tausende (Kap. 2,36-39), aber Leviten waren nur sehr wenige vorhanden Dieses Mißverhältnis wird noch deutlicher, wenn wir erfahren, daß zur Zeit der Wüstenreise allein achttausend-fünfhundertundachtzig zum Dienst gemusterte Leviten in Israel waren (4. Mo 4,46-48). Und warum jetzt so wenige?

Das Wort sagt uns nichts Genaueres darüber. Dennoch müssen wir davon ausgehen, daß sich eben nur wenige der Leviten um den Aufruf des Königs Kores kümmerten. Sie hatten offenbar im Land ihres Exils eine neue Heimat gefunden und Jerusalem weitgehend vergessen. Und als der Herr die Tür der Befreiung öffnete, als Er ihnen gestattete, das Land ihrer Gefangenschaft zu verlassen, um in das Land ihrer Väter, in das Erbteil Jehovas, zurückzukehren, da hatten sie dafür kein Interesse, kein Herz. So wie es mit der Masse des Volkes war, so war es auch mit den Leviten. Aber diese Vierundsiebzig kamen, und wir finden in Kapitel 3, daß sie „wie ein Mann standen“. Gott hat das alles aufzeichnen lassen.

Parallelen

Hier scheint es angebracht zu sein, auf Parallelen zu unserer Zeit aufmerksam zu machen. Auch die Christenheit ist durch Untreue zu Gott und Aufgabe des Wortes Gottes als alleiniger Richtschnur längst unter die Herrschaft der Welt gekommen. Nicht, daß es nicht hier und da geliebte Kinder Gottes gäbe, die durch den Dienst einiger hingebungsvoller Männer in ihrem Glauben aufrechterhalten werden. Aber die Christenheit als solche, die Kirche als Ganzes befindet sich unter der Macht der Welt und ihrer Prinzipien. Sie ist in der „Gefangenschaft in Babel“ (Babel bedeutet „Verwirrung“).

Doch vor gut hundertundfünfzig Jahren führte Gott in Seiner Gnade einen Überrest aus der „Gefangenschaft“ zurück in das „Land der Väter“, zurück zum Wort Gottes, wie es durch die Apostel und Propheten des Herrn gegeben worden war. Sie erkannten Seine Autorität über sich in allen Bereichen ihres Lebens an. Auch in religiöser, kirchlicher Hinsicht überprüften sie alles an Hand dieses Wortes. Dabei stellten sie fest, daß sie weitgehend unter der Knechtschaft der religiösen Welt und menschlicher Traditionen standen. Gott „erweckte“ auch ihren „Geist“ (Esra 1,5) und gab ihnen eine geöffnete Tür. Sie benutzten sie und verließen im Glauben an die Treue Gottes die kirchlichen Bindungen, die nicht Seinem heiligen Wort entsprachen, und versammelten sich einfach zum Namen des Herrn Jesus hin (Mt 18,20). Sie sonderten sich von den „Gefäßen zur Unehre“ ab, um den Namen des Herrn aus reinem Herzen anzurufen (2. Tim 2,20-22). So schwach sie in sich selbst auch waren, Gott beantwortete ihren Gehorsam dadurch, daß Er ihnen viel Licht über Seine Wahrheit gab – Licht, das weit in die Christenheit hineinstrahlte.

Die Frage erhebt sich nun, und zwar an jeden von uns: „Wollen auch wir zu diesem Überrest gehören, den Gott zu jeder Zeit hat, oder wollen wir in Babel bleiben? Sind wir bereit, uns ganz unter die Autorität des Wortes zu stellen – das allein ist wahre Freiheit! -, oder haben wir uns mit den in der Christenheit herrschenden Grundsätzen abgefunden oder liebäugeln gar mit ihnen?“ Gewiß gehören manche Leser dieser Zeilen (wie auch der Verfasser selbst) zu denen, deren Vorfahren den eben beschriebenen Weg gegangen sind und um die Wahrheit gekämpft und gerungen haben. Nun, wir müssen uns heute die Frage gefallen lassen, ob auch wir noch die Charakterzüge eines Überrestes tragen. Besteht nicht gerade unter uns die Gefahr, das aufzugeben, was Gott unseren Vätern anvertraut hat, und wieder zu dem zurückzukehren, was sie einst unter der Gnade Gottes verlassen haben? Das wolle Gott in seiner Barmherzigkeit verhüten! Schenke Er es vielmehr, daß das Sinnen über Seine Wege mit dem damaligen Überrest in Juda dazu führt, daß auch in uns vermehrt der Wunsch entsteht, es ihm gleichzutun!

Stellen wir als zweites Merkmal eines Überrestes folgendes fest: Diese Juden kehrten zu dem einen Zentrum, dem ursprünglichen Zentrum Gottes zurück. Verglichen mit der Masse derer, die im Land der Gefangenschaft blieben, waren es verhältnismäßig wenige, die zurückkehrten. Aber die Tatsache, daß es wenige waren, darf uns nicht zu dem Trugschluß verleiten, als wäre ihr Weg falsch gewesen. Im Gegenteil wurde dadurch nur um so mehr offenbar, daß sie tatsächlich ein Überrest waren. Während sich jedoch die Masse des Volkes nicht um die Gedanken Gottes kümmerte, hatten gerade diese wenigen die Absicht Gottes verstanden und suchten den einen Platz wiederzuerlangen, wo Er einst Seinen Namen wohnen ließ. Glückseliges Begehren! (Schluß folgt) ChB

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1992, Seite 55

Bibelstellen: Esr 2; Esr 3

Stichwörter: Esra, Überrest