Der die Niedrigen tröstet – Gott
Wohl nirgends in der Heiligen Schrift findet man so liebliche Schilderungen davon, was der Geist des Dienens, was christliche Liebe und wahre Hingabe ist, wie im zweiten Brief an die Korinther. Dieser Brief des Apostels Paulus ist uns im allgemeinen weniger geläufig. Er scheint uns auch weniger „ergiebig“ zu sein als die anderen Briefe des Neuen Testaments. Tatsächlich enthält er kaum wichtige Lehren, ganz im Gegensatz zum ersten Brief an dieselben Empfänger. Was zudem den zweiten Brief etwas schwerer verständlich macht, sind die häufig anzutreffenden plötzlichen Übergänge in den Gegenständen und in den Empfindungen des Schreibers. So finden wir große Freude und tiefe Not direkt nebeneinander. Trost und Tadel, Zartheit und Ernst wechseln miteinander in rascher Folge ab. Auch strukturelle Kompliziertheit des Textes erschwert das Verstehen. Da gibt es zum Beispiel große Einschaltungen, ja sogar Einschaltungen in einer Einschaltung. Wenn man sie nicht erkennt, hat man schon einige Mühe, den Zusammenhang zu erkennen. Und doch enthält gerade dieser persönlichste aller Briefe des inspirierten Schreibers eine Fülle von sittlichen Schönheiten wie kaum ein anderer. Eines dieser lieblichen „Gemälde“ wollen wir heute einmal etwas näher in Augenschein nehmen und auf uns einwirken lassen.
Argwohn gegen den Diener des Herrn
Der Apostel hatte seinen bedeutenden ersten Brief an die Gläubigen in Korinth geschrieben. Darin hatte er sie über manche Mißstände ernstlich tadeln und manches Fehlverhalten korrigieren müssen. Er liebte diese Christen, sie waren seine geistlichen Kinder (1. Kor 4,15). Aber sie hatten zu seinem Leidwesen ihr Ohr falschen Lehrern geliehen, die die Lehre des großen Apostels dadurch zu unterhöhlen suchten, daß sie seine Person verächtlich machten und ihm falsche Beweggründe unterschoben. Wie würden nun die Korinther diesen ernsten Brief aufnehmen? Würden sie umkehren und Buße tun, oder hatte er sie damit nur noch weiter von sich gestoßen? Das waren die Fragen, die das Herz des Apostels quälten – ja sogar so sehr beunruhigten, daß er deswegen eine ihm vom Herrn geöffnete Tür für das Evangelium in Troas nicht benutzte (2. Kor 2,13). Er hatte gehofft, Titus dort zu treffen und von ihm Nachricht aus Korinth zu erhalten. Aber weil er seinen Bruder dort nicht fand, hatte er in seinem Geist keine Ruhe. So nahm er Abschied von ihnen und zog fort nach Mazedonien.
Wenn wir nun von dieser Stelle in unserem Brief einen großen Sprung machen und nach Kapitel 7, Vers 5, gehen, können wir dort direkt weiterlesen, ohne daß wir in irgendeiner Weise eine Unterbrechung empfänden oder etwas vermißten: „Denn auch als wir nach Mazedonien kamen, hatte unser Fleisch keine Ruhe, sondern in allem waren wir bedrängt; von außen Kämpfe, von innen Befürchtungen.“ Tatsächlich greift der Schreiber hier den historischen Faden von Kapitel 2 wieder auf, so daß der ganze Teil dazwischen eine große Einschaltung im Gedankenfluß des Apostels darstellt. Hier haben wir auch den erwähnten Fall, daß eine Einschaltung ihrerseits einen weiteren gedanklichen Einschub enthält. Diese „Einschaltung in der Einschaltung“ erstreckt sich von Kapitel 4, Vers 7, bis zum letzten Vers des fünften Kapitels. In der großen Einschaltung, die wir soeben übersprungen haben, zeigt der Apostel, was der Charakter und die Grundsätze seines ihm von Gott übertragenen Dienstes waren. Das war um so nötiger, als falsche Lehrer in ihrer Mitte diesen Dienst in Frage stellten und diesem Diener Gottes unlautere Beweggründe zuschrieben.
Wenn der Apostel nun im zweiten Vers von Kapitel 7 in rührender Weise an die Herzen der Korinther appelliert und sagt: „Nehmt uns auf; wir haben niemand unrecht getan, wir haben niemand zugrunde gerichtet, wir haben niemand übervorteilt“, so können wir aus diesen Worten auch entnehmen, welcher Art die Anschuldigungen waren. Und das besonders Traurige dabei war, daß die Korinther ihnen mehr oder weniger Gehör geschenkt hatten. Kannten sie denn ihren geistlichen Vater nicht, der sie durch das Evangelium „gezeugt“ hatte? Hatten sie nicht unendlich viel Segen durch ihn erfahren und seine Treue erproben können? Warum glaubten sie denn nun diesen unbewiesenen Behauptungen seiner Widersacher so bereitwillig? Warum merkten sie nicht, daß jene sich nur auf Kosten des Apostels in ihre Herzen einzuschleichen suchten?
Die Antwort ist einfach und auch für uns äußerst belehrend: Sie hatten die Welt liebgewonnen und waren Verbindungen mit ihr eingegangen (Kap. 6,14 ff). So war es nicht verwunderlich, daß die Wahrheit Gottes in praktischer Hinsicht ihren Wert für sie weitgehend verlor und daß sie sich statt dessen irrigen Ansichten öffneten. Ihr von den besagten Lehrern genährter Argwohn dem Verkündiger dieser Wahrheit gegenüber zeigte somit nur zu deutlich, wie schlecht ihr eigener innerer Zustand war. Daß sie so bereitwillig die bösen Gerüchte über den Diener des Herrn aufnahmen, war tatsächlich kein gutes Zeichen für sie. Auch heute ist es kein gutes Zeichen für die, die das tun.
Die Sorgen des Apostels
Wie muß es den Apostel geschmerzt haben, solch ein Mißtrauen von seinen geliebten Korinthern erfahren zu müssen! Doch darüber spricht er nicht. Jetzt, da er sie auf dem Weg der Wiederherstellung weiß, öffnet er ihnen sein Herz und läßt sie wissen, was darin vorgegangen war. Gewöhnlich sprach er nicht von sich selbst, die Liebe denkt ja an den anderen. Aber jetzt gebot ihm gerade diese Liebe, ihnen sein Herz zu öffnen und sie hineinschauen zu lassen, um sie desto mehr zu gewinnen. Ein geschätzter Ausleger spricht in Verbindung hiermit von der „Biegsamkeit der Macht der Liebe“. Wie sehr können wir sie bei dem geliebten Apostel wahrnehmen, und wie sehr war er auch darin ein so getreuer Nachfolger seines großen Meisters!
Als der Apostel und seine Begleiter nach Mazedonien gekommen waren, fand „ihr Fleisch“ – ein Ausdruck für die Schwachheit des menschlichen Gefäßes – auch dort keine Ruhe. Von allen Seiten waren sie bedrängt. Von außen wurden ihnen Kämpfe aufgenötigt, und von innen nagten Befürchtungen an ihrem Herzen. Es ist gerade der Charakter dieser Nöte, wodurch uns dieser Mann Gottes so groß, so liebenswert wird. Wenn wir einmal unsere Sorgen damit vergleichen, müssen wir nicht sagen, daß sie doch zumeist recht ichbezogen sind? Aber die „Sorge um alle Versammlungen“ – kennen auch wir davon etwas? Oder liegen unsere Interessen woanders, mehr oder weniger in der Welt? Gewiß, wir können mit all unseren Sorgen zu unserem Herrn kommen, aber wie wenig ist es oft das Wohlergehen des Volkes Gottes, das uns auf die Knie bringt! Was für eine edle Haltung sehen wir dagegen bei dem Apostel! Er ist nicht um sich besorgt, sondern vor Kummer um die Heiligen in Korinth findet sein Fleisch keine Ruhe.
Er hatte ihnen versichert, daß sie im Herzen des Apostels und seiner Mitarbeiter waren, „um mit zu sterben und mit zu leben“ (Kap 7,3; vgl. Kap. 6,11). So innig fühlte er sich mit ihnen verbunden, daß, wenn sie starben, auch er starb, und wenn sie lebten und es ihnen geistlich wohl ging, auch er lebte. Aber es war ihnen geistlich nicht gut gegangen, und deswegen war er in tiefer Besorgnis um sie. Zudem wußte er nicht, wie sie seinen ersten Brief aufgenommen hatten. Unter der Inspiration des Heiligen Geistes hatte er ihn geschrieben, und er wußte, daß er geeignet war, sie zu „betrüben“ (vgl. Vers 8). Die Sorge um die Folgen dieses Briefes und die Befürchtung, sie sich vielleicht nun ganz entfremdet zu haben, ließen ihn jedoch zittern. Ja, es hatte ihn sogar gereut, daß er den Brief überhaupt geschrieben hatte.
Das ist gewiß ein außergewöhnlicher Vorgang: Für eine kleine Zeit verlor der heilige Schreiber den wahren Charakter seines Briefes aus dem Auge, vergaß, daß nicht er für das, was er geschrieben hatte, verantwortlich war, sondern der Heilige Geist, der ihm die Feder geführt hatte. Doch bedenken wir: Es war die Liebe zu den Korinthern und die Sorge um sie gewesen, die für einen Augenblick sein geistliches Beurteilungsvermögen getrübt hatten!
Daß wir dabei lernen müssen, das menschliche Gefäß, die Persönlichkeit des Apostels, von der Inspiration durch den Heiligen Geist zu unterscheiden, sei hier mehr am Rand bemerkt. Das gebrauchte Werkzeug war in sich durchaus unvollkommen, nicht aber der Heilige Geist, der es benutzte und ein vollkommenes Ergebnis hervorbrachte. Von Ihm inspiriert, sah sich der Apostel zum Beispiel jetzt genötigt, über seine eigene Schwachheit zu schreiben. Menschlich gesprochen, hätte er das für sich behalten können. Aber er wollte die Gläubigen in sein Herz schauen lassen, um ihnen zu zeigen, was ihretwegen darin vor sich gegangen war. Wunderbare Gnade Gottes in einem Menschen, der von gleichen Gemütsbewegungen war wie wir! Wie sehr kam er seinem Meister nahe, nur daß dieser nach jeder Seite hin vollkommen war!
Wir mögen uns fragen, wie es wohl möglich war, daß Paulus so tief, so göttlich empfinden und handeln konnte. Nun, er lebte in inniger Gemeinschaft mit seinem Herrn. Und wenn auch der Zustand der Versammlung noch so beschämend niedrig sein mochte, so leiteten ihn doch stets diese beiden Grundsätze: das Eintreten für die Ehre des Herrn und die Liebe zu den Seinen. Es war auch so bei Mose. Wie kam es, daß dieser Mann Gottes in gefahrvollen Situationen fast instinktiv genau das Richtige tat, ohne Anweisungen Gottes darüber zu haben? Wie konnte er zum Beispiel kurzerhand die beiden Tafeln zerbrechen, die doch das Werk Gottes waren? Woher wußte er, daß er sein Zelt außerhalb des Lagers aufschlagen mußte? Die Aufrechterhaltung der Ehre Gottes und die Liebe zu Seinem Volk waren die Triebfedern für sein Handeln. Wenn sie uns fehlen, Geliebte, müssen wir uns nicht wundern, wenn wir immer weiter in einen Zustand der Gleichgültigkeit und Kraftlosigkeit versinken. Nur das Besinnen auf das, was der Ehre des Herrn gebührt, und eine innige Liebe zu Seiner Versammlung können uns davor bewahren. Diese beiden Grundsätze werden auch ein rechtes Empfinden über unseren wahren Zustand und die entsprechende Trauer darüber in uns hervorrufen. Paulus hatte sich nichts vorzuwerfen. Wir sind dagegen in weitem Maß mitschuldig an dem niedrigen Zustand der Versammlung. Doch wenn wir ihn fühlen und darüber Leid tragen, werden auch wir den Trost Gottes erfahren.
Die Tröstungen Gottes
Wir haben gesehen, welcherart die Befürchtungen und Sorgen des Apostels um die Versammlung in Korinth waren. Nun kommen wir zu einer Aussage, die uns wahrhaft zu beglücken vermag:
„Der aber die Niedrigen tröstet, Gott, tröstete uns durch die Ankunft des Titus“ (Vers 6).
Allein die Ausdrucksweise ist schon bemerkenswert. Es wird nicht einfach gesagt: „Gott tröstet die Niedrigen“. Das wäre fraglos auch wahr. Doch die Form des Ausdrucks besagt mehr und bedeutet so viel wie: Es gibt jemand, der die Niedrigen tröstet, und das ist Gott. Eine ähnliche Ausdrucksweise finden wir, wenn auch in anderem Zusammenhang, im ersten Kapitel, wenn gesagt wird: „Der uns aber mit euch befestigt in Christus und uns gesalbt hat, ist Gott“ (Vers 21). Niemand anders als Gott ist es, der uns in Christus befestigt und uns gesalbt hat; und Er ist es auch, der die Niedrigen tröstet.
Wollen wir zu ihnen gehören? Dann laßt uns die Demütigungen, die wir erfahren, aus der Hand unseres Gottes annehmen und mit dem Psalmisten sagen: „Ich weiß, Jehova, … daß du mich gedemütigt hast in Treue“ (Ps 119,75). „Jeder Hochmütige ist Jehova ein Greuel“ (Spr 16,5). Solchen muß Er widerstehen, „den Demütigen aber gibt er Gnade“ (1. Pet 5,5). Deshalb ist es gut, zu den Niedrigen zu gehören und sagen zu können: „Es ist gut für mich, daß ich gedemütigt ward“ (Ps 119,71). Gott hat, wenn wir so sagen dürfen, eine besondere Vorliebe für das Niedrige, für das, „was nicht ist“ (1. Kor 1,28). Die Niedrigen – sie erfahren die Gnade Gottes, auch in Form von Tröstungen.
Der Prophet Jeremia mußte einst über die Zertrümmerung der Tochter seines Volkes wehklagen. „Sein Auge rann, sein Auge von Wasser.“ Der Feind hatte obgesiegt, und fern von ihm (dem Propheten) war ein Tröster. Und was Zion anging – sie breitete wohl ihre Hände aus; doch da war niemand, der sie tröstete (Klgl 1,16.17). Wie erschütternd ist das! Wir aber dürfen uns, wenn wir in unseren Augen niedrig sind und uns zu den Niedrigen halten (Röm 12,16), der Tröstungen unseres Gottes und Vaters erfreuen. Es ist etwas, was wir im Himmel in dieser Weise nicht mehr erleben können.
Die Tröstungen Gottes kommen auf ganz verschiedene Weise zu uns. Damals tröstete Gott Paulus und seine Mitarbeiter zuerst einmal durch die Ankunft des Titus selbst. Allein dadurch, daß sie diesen bewährten Knecht Gottes wiedersahen, verlieh Gott ihnen Trost. Es war ähnlich, als sich Paulus auf der Reise nach Rom befand und die Brüder ihm entgegenkamen; als er sie sah, „dankte er Gott und faßte Mut“ (Apg 28,15). Haben nicht auch wir in unserem schwachen Maß Ähnliches erfahren? Hat Gott uns nicht schon manches Mal durch den vielleicht unverhofften Besuch eines gottesfürchtigen Christen oder durch die Begegnung mit Gleichgesinnten erfrischt und neuen Mut gegeben?
„Nicht allein aber durch seine Ankunft“ fanden sie Trost, „sondern auch durch den Trost, womit er bei euch getröstet worden war“ (2. Kor 7,7). Titus selbst gehörte ebenfalls zu den > Niedrigen <. In schwerer Mission war er nach Korinth gegangen, sicher in Sorge auch darüber, wie er aufgenommen werden würde. Doch was er dann erlebte, war geeignet, ihn mit Trost und Freude zu erfüllen. Er durfte feststellen, daß Gott an ihren Herzen gewirkt hatte. Und als er dann dem Apostel und den Brüdern um ihn das alles mitteilte, wurden sie durch denselben Trost getröstet, womit er bei den Korinthern getröstet worden war. Fast ein wenig überschwenglich mutet der Ausruf des Apostels an: „Groß ist meine Freimütigkeit euch gegenüber, groß mein Rühmen euretwegen; ich bin mit Trost erfüllt, ich bin ganz überströmend in der Freude bei all unserer Bedrängnis“ (Vers 4).
Sollten nicht auch wir ein gutes Ohr für gute Nachrichten haben? Vor schlechten bleiben wir ohnehin nicht verschont. Aber haben wir nicht vielleicht schon manches Mal übersehen, daß Gott uns in Seiner Gnade durch die Nachricht über eine erfreuliche Entwicklung hatte trösten und Mut zusprechen wollen? Wir waren aber so sehr mit dem Bösen und Traurigen beschäftigt, daß uns Seine Bemühung entgangen ist.
Gott tröstet die Niedrigen auf vielerlei Weise. Hier läßt Er unser Auge über ein Schriftwort gleiten, das uns auf einmal besonders anspricht; dort läßt Er bei der Verkündigung Seines Wortes einen Gedanken aussprechen, der ganz für uns persönlich bestimmt ist und wie Balsam in das verwundete Herz fällt. Und haben wir alle es nicht schon erlebt, daß der aktuelle Spruch und Gegenstand des Kalenderzettels genau den Kern unserer Probleme traf? Es war, als beleuchtete Gott schlagartig die Situation oder die Verfassung, in der wir uns gerade befanden, und Er beschwichtigte unsere Seele. Wie gütig ist Er! Doch laßt uns, liebe Freunde, die Hilfsmittel auch benutzen, die Er uns in Seiner Gnade gewährt! Wir wären sonst nur die Verlierer.
„Der aber die Niedrigen tröstet, Gott, tröstete uns …“ Beglückende Tatsache! „O unser Gott, wir preisen Dich für Deine wunderbare Gnade.“ ChB
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