Hirtendienst und Lehre

„Und er hat die einen gegeben als Apostel und andere als Propheten und andere als Evangelisten und andere als Hirten und Lehrer“ (Epheser 4,11).

Im ersten Teil des Epheserbriefes werden uns die Segnungen vorgestellt, die Gott Seinen Kindern schon „vor Grundlegung der Welt“ zugedacht hatte und die uns jetzt „in Christus“ geschenkt sind. Und nicht nur sind uns die Segnungen geschenkt, sondern Gott hat auch uns selbst „mit dem Christus lebendig gemacht und uns … mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus“. So wie einst die Israeliten die Segnungen des gelobten Landes Kanaan nur in Kanaan genießen konnten, so mussten auch wir in die himmlischen Örter versetzt werden, um dort „den Ertrag des Landes“ zu genießen – wovon die Speise Kanaans ein Abbild ist. Nur müssen wir damit nicht warten, bis die Wüstenwanderung hinter uns liegt, wie Israel, denn auf der Erde kann man ja nicht an mehreren Orten zugleich sein. In geistlicher Hinsicht dagegen sind wir als Gläubige versetzt in die himmlischen Örter, während wir der Erfahrung nach noch durch die Wüste ziehen. So geht die geistliche Erfüllung weiter, als das Abbild es darzustellen vermag – eine Beobachtung, die dem Bibelleser nicht fremd ist.

Das alles ist uns von Gott geschenkt. Daran konnten wir nichts mitwirken, und darin gibt es auch kein Wachstum. Vollkommen ist es aus Gottes Hand hervorgegangen.

Sobald es aber darum geht, was wir mit diesem kostbaren Besitz machen, was für eine Haltung wir dazu einnehmen und ob das alles eine Wirkung bei uns entfaltet, dann kommt Wachstum in Betracht. Deshalb ist das „Wachsen“ im zweiten Teil des Briefes ein zentraler Begriff. Dort finden wir Anweisungen und Ermahnungen für unser praktisches Glaubensleben, damit wir „würdig wandeln der Berufung, mit der wir berufen worden sind“, wie es am Anfang des vierten Kapitels heißt.

Nicht von ungefähr kommt der Geist Gottes hierbei auf die Gaben zu sprechen, die der Herr gegeben hat „zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes des Christus“ (Kap. 4,11-16). Unter ihnen sind auch solche, die „Hirten und Lehrer“ genannt werden.

Der Dienst des Hirten und der des Lehrers sind besonders eng miteinander verknüpft, und in Zeiten reicher Kraftentfaltung des Heiligen Geistes waren diese beiden Gaben öfter als heute in einer Person vereinigt – denken wir nur an den Apostel Paulus. Doch auch damals schon finden wir eine unterschiedliche Betonung der einen oder anderen Seite bei verschiedenen Dienern. „Wie der Herr einem jeden gegeben hat“, sagt Paulus von sich und Apollos und fügt hinzu: „Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen“ (1. Kor 3,5-6).

Die Bemühung des Hirten sucht das, was der Lehrer ins Herz gesenkt hat, gleichsam wieder hervorzubringen und im praktischen Leben sichtbar zu machen. Mit dem Herzen wird geglaubt (vgl. Lk 8,12; 24,25; Röm 10,9; Eph 3,17 u. a.). Der Lehrer wendet sich also nicht nur an das Verständnis – so nötig es ist, dass das Wort auch verstanden wird -, sondern sein Ziel ist das Herz. Vielleicht bedenken wir das oft zu wenig: Das Herz muss durch die Lehre erreicht werden! Aber dann geht es auch um die Hände und die Füße, wenn dieser Vergleich einmal erlaubt ist, um „Handeln“ und „Wandeln“. Und hier liegt die Aufgabe des Hirten.

Das führt uns zu gewissen Unterschieden im Vorgehen des Hirten und dem des Lehrers. Einer besteht darin, dass der Lehrer vor allen Zuhörern dasselbe sagen muss: Er verkündigt die Wahrheit als Mitteilung Gottes, wie sie uns durch Sein Wort gegeben ist. Wohl wird er in der Wahl seiner Themen und seiner Ausdrucksweise Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse der Hörer, soweit er sie zu erkennen glaubt, aber was er sagt, ist absolut, weil es direkt Gottes Wort ist. Der Hirte dagegen kommt in Situationen, wo er, je nachdem mit wem er zu tun hat, ganz unterschiedlich reden muss.

Nehmen wir ein Beispiel: Jemand ist wiederholt in dieselbe Sünde gefallen. Jetzt kommt es ganz auf die Verfassung des Betreffenden an: Neigt er zu einer gewissen Oberflächlichkeit, dann muss man einem solchen ernstlich ins Gewissen reden und ihn daran erinnern: „Wer seine Übertretungen bekennt und lässt, wird Barmherzigkeit erlangen“ (Spr 28,13). Liegt aber der Betreffende verzweifelt am Boden und ruft um Hilfe, dann kann man mit demselben Bibelwort eine Seele zerbrechen.

Ein anderes Beispiel: Ein Gläubiger, der noch wenig belehrt ist, hält fest an gewissen Auffassungen und Gewohnheiten, die nicht gutzuheißen sind. Solange es nichts ist, was Gottes Wort ausdrücklich verurteilt, ist zu fragen, ob der Betreffende wirklich zu der nötigen Einsicht fähig ist. Wenn nicht, kann man großen Schaden anrichten und eine Seele für den Weg der Wahrheit verlieren, wenn man versucht, das richtige Verhalten zu erzwingen, selbst wenn das mit der Bibel in der Hand geschieht.

Das persönliche Bedürfnis des Einzelnen bringt es mit sich, dass Hirtendienst im Allgemeinen ein Dienst unter vier Augen ist.

Ein weiterer Unterschied zwischen dem Dienst des Hirten und dem des Lehrers besteht darin, dass der Hirte sich auch über einen Teilerfolg freuen kann. Dem Lehrer wird das schwerer fallen, denn er hat die Wahrheit zu verkündigen, die selbstverständlich keine Abstriche erlaubt. Auch der Hirte wird die Wahrheit nicht relativieren und sich nicht mit Teilerfolgen zufrieden geben – aber er kann sich darüber freuen. Hirtendienst ist eine Arbeit in kleinen Schritten, manchmal sehr kleinen.

So wie das natürliche Bild vom „Hirten“ und dem „Schaf“ es lehrt, begibt sich der Hirte dorthin, wo das Schaf in geistlicher Beziehung ist, und sucht es schrittweise zum richtigen Standort zu führen. Sein Dienst ist weniger das Verkündigen, sondern besteht vielmehr darin, dass er sucht, zu helfen, zu stärken und zurechtzubringen.

Eine geradezu liebliche Anleitung dazu gibt uns Gott in Seinem eigenen Vorgehen dem Volk Israel gegenüber. Darüber lesen wir einiges in Hesekiel 34,11-16: Gott „fragt“ nach Seinen Schafen und „nimmt sich ihrer an“. Der Anstoß geht von Ihm aus, nicht von den Schafen. Und dann kümmert Er Sich um sie, ist um ihr Wohl besorgt. Er „weidet sie auf guter Weide“. Das gehört auch heute zum Hirtendienst: das Wort Gottes dem Einzelnen, seinem persönlichen Bedürfnis entsprechend, zum Herzen zu bringen. Hirtendienst ist ja mehr als nur „hüten“. Und schließlich muss „das Verlorene gesucht, das Verwundete verbunden und das Kranke gestärkt“ werden. Was für ein reiches Betätigungsfeld, das viel persönliche Zuwendung, Liebe und Geduld erfordert und ein Herz voller Hingebung für den Herrn!

Das Ziel aller Bemühungen muss sein, dass „wir alle hingelangen … zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus“. Dazu darf keine der Gaben auf Kosten der anderen ausgeübt werden. Eine gottgemäße Ausgewogenheit ist ein großer Segen und eine Voraussetzung dafür, dass wir ungehindert heranwachsen zu Ihm hin.

E. E. H.

„Die Ältesten nun unter euch ermahne ich,

der Mitälteste und Zeuge der Leiden des Christus

und auch Teilhaber der Herrlichkeit,

die offenbart werden soll:

Hütet die Herde Gottes, die bei euch ist.“

1. Petrus 5,1.2

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2001, Seite 161

Bibelstellen: Eph 4, 11-16

Stichwörter: Gabe, Hirte, Lehrer