Er lehrte sie vieles in Gleichnissen

Das Johannes-Evangelium trägt in mehrfacher Hinsicht einen besonderen Charakter. Ein hervorstechendes Merkmal, das uns in unserer Arbeit besonders interessiert, besteht darin, dass es so gut wie keine Gleichnisse enthält. Zwar finden sich hier und da kleine, gleichnishafte Bilder, wie zum Beispiel das Bild vom guten Hirten, vom Weizenkorn, vom Weinstock. Doch ein typisches Gleichnis suchen wir vergeblich. Nur einmal begegnet uns in diesem Evangelium eine Redewendung wie „Dieses Gleichnis sprach Jesus zu ihnen“, und das ist im zehnten Kapitel. Aber auch hier wird für „Gleichnis“ im Grundtext ein anderes Wort gebraucht als in den übrigen Evangelien. Es bedeutet so viel wie „sinnbildliche Rede“. Außer in Kapitel 10 begegnet es uns noch dreimal in Kapitel 16. Mit diesen beiden Abschnitten wollen wir uns denn auch abschließend beschäftigen.

Zu Beginn des zehnten Kapitels kommt ein Bild vor uns, das wir das Gleichnis von den „drei Türen“ nennen wollen. Der Herr Jesus leitet es – für ein normales Gleichnis ganz und gar untypisch – mit den Worten „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ ein. 25-mal kommt diese bestätigende, fast einem Schwur ähnliche Redewendung in diesem Evangelium vor, und jedes Mal führt sie Feststellungen von größter Wichtigkeit ein. Das Gleichnis von den „drei Türen“ verdient also auch schon deshalb unsere ganze Aufmerksamkeit.

Es hilft außerordentlich zum Verstehen dieses Gleichnisses, wenn wir zwei Dinge beachten: erstens, unter welchen Umständen der Herr Jesus es gesprochen hat; und zweitens, dass Er tatsächlich von drei Türen sprach. Wenden wir uns dem ersten Punkt zu.

Geistliche Blindheit

Im neunten Kapitel berichtet Johannes in aller Ausführlichkeit von der Heilung eines Mannes, der von Geburt blind war. Der Herr benutzt diese Begebenheit als Ausgangspunkt dafür, über eine noch schlimmere Blindheit als die natürliche zu sprechen – die geistliche Blindheit – und darüber, wie sie geheilt werden kann. Tatsächlich war dieser Blindgeborene von einer zweifachen Blindheit geheilt worden. Er hatte durch die Gnade des Herrn nicht nur die natürliche Sehfähigkeit erlangt, sondern er war auch dahin gebracht worden, mit seinem geistigen Auge den Sohn Gottes zu erkennen (V. 35-38). Wunderbare Gnade! Haben wir alle sie schon erlebt?

Vorausgegangen war noch, dass der Geheilte trotz allen Widerstandes der religiösen Führer sich treu dazu bekannt hatte, dass es Jesus gewesen war, der ihm die Augen geöffnet hatte. Das war zu viel für die Eifersucht der Pharisäer gewesen. Sie hatten den Mann kurzerhand aus der Synagoge hinausgeworfen. Danach hatte der Heiland ihn dann „gefunden“ und sich ihm zu erkennen gegeben. Offensichtlich: Dieser einst bettelnde Blinde war eins von Seinen „eigenen Schafen“, das die Stimme des guten Hirten „gehört“ und „erkannt“ hatte. Der Hirte der Schafe hatte es gesucht und gefunden; Er hatte es „mit Namen gerufen“ und „herausgeführt“ (Kap. 10,3.4). Es besteht ein Unterschied zwischen den „Schafen“ und „Seinen eigenen Schafen“, wie wir noch sehen werden.

Zum Gericht gekommen

Aber ehe wir uns damit näher beschäftigen, kommt noch ein bemerkenswertes Wort über die Lippen des Herrn, das alles das, was mit dem Blindgeborenen geschehen war, zusammenfasst und uns ahnen lässt, warum Johannes die Begebenheit in solcher Breite schildern musste.

„Und Jesus sprach: Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden“ (Joh 9,39).

Niemand wird direkt angeredet. Was der Herr sagt, ist für alle bestimmt, die zugegen waren, ja für alle Menschen bis heute.

Wenn Er zum Gericht in diese Welt gekommen war, so bedeutet das nicht, dass Er die Menschen verdammen wollte. Nein, mit Seinem Kommen war die Absicht verbunden, die Dinge auf der Erde zur Entscheidung zu bringen und die Herzen und Gesinnungen der Menschen offen zu legen. Solange Er in der Welt war, war Er das Licht der Welt (V. 5). Schon bei einer früheren Gelegenheit hatte Er von Sich als dem Licht gesprochen, das in die Welt gekommen war; aber es bedeutete das Gericht, wenn die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht (Kap. 3,19).

Hier nun redet Er von zwei Gruppen von Menschen, den Nichtsehenden, die sehend werden, und den Sehenden, die blind werden. Die erste Gruppe bilden alle, die, obwohl sie von Natur aus ohne geistliches Licht sind, an die Sendung Jesu glauben und von Ihm das Licht des Lebens erhalten: Sie werden sehend. Die zweite Gruppe sind die, die gleichfalls von Natur aus ohne geistliche Sehfähigkeit sind, aber Jesus und das Licht ablehnen, das zu bringen Er gekommen war. Der gnadenvolle Zweck der Sendung Jesu wird in ihrem Fall ins Gegenteil verkehrt: Sie werden blind.

Obwohl der Herr Jesus die buchstäbliche Heilung des Blindgeborenen vor sich hat, redet Er doch jetzt nur noch von geistlichem Licht und von geistlicher Blindheit. Dabei sind Seine Worte so gewählt, dass sie die Pharisäer in vollständigen Gegensatz zu dem Blinden setzen. Sie liebten es, sich als Sehende zu bezeichnen, wie sie sich auch mit ihrem Wissen brüsteten. „Wir wissen“, hatten sie soeben noch gesagt, „dass dieser Mensch (Jesus) ein Sünder ist.“ Und dann ein wenig später: „Wir wissen, dass Gott zu Mose geredet hat; von diesem aber wissen wir nicht, woher er ist“ (Kap. 9,24.29). Sie sahen sich als zuständig an, in göttlichen Dingen zu entscheiden. Sie getrauten sich, Leiter der Blinden, Erzieher der Törichten und Lehrer der Unmündigen zu sein – ein Licht derer, die in Finsternis sind (Röm 2,19.20). Deswegen spricht der Herr von ihnen als den „Sehenden“. Es war ihr Anspruch, nicht die Wirklichkeit. In Wahrheit sahen sie nicht; und weil sie Christus, das Licht, verwarfen, würden sie in dieser absoluten Blindheit auch bleiben. Sie besiegelten durch ihren Unglauben ihr eigenes, ewiges Los.

Es ist schlimm genug, dass von Natur aus alle Menschen Nichtsehende sind und dass sie, dem Lauf der Natur folgend, das auch bleiben. Aber es ist unendlich schlimmer, das Licht, nachdem es gekommen ist, zu verwerfen – das wahrhaftige Licht, das allein zu erleuchten und Leben zu geben vermag. Sich diesem Licht zu widersetzen kann nur ewige Blindheit, ewige Nacht bedeuten.

Wenn die Sünde „bleibt“

„Einige von den Pharisäern, die bei ihm waren, hörten dies und sprachen zu ihm: Sind denn auch wir blind? Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde; nun aber, da ihr sagt: Wir sehen, bleibt eure Sünde“ (Joh 9,40.41).

Einige Pharisäer waren „bei ihm“, wahrscheinlich, um ein Auge auf Ihn zu haben und zu hören, was Er lehrte. Obwohl der Herr sie nicht direkt angeredet hat, fühlen sie sich doch durch das, was Er gesagt hat, angegriffen und verletzt. Über ihrer Frage „Sind denn auch wir blind?“ liegt ein Hauch von Spott und Verachtung. Die Form der Frage lässt (im Griechischen) als Antwort ein Nein erwarten: „Sind denn auch wir etwa blind?“ Sie halten es für ausgeschlossen, ja für lächerlich, dass sie, die Lehrer in Israel, blind sein und zu Jesus kommen sollten, um von Ihm Licht zu erhalten.

Die Antwort des anbetungswürdigen Herrn ist so knapp, wie sie tief und erforschend ist: „Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde; nun aber, da ihr sagt: Wir sehen, bleibt eure Sünde.“ Im ersten Satzteil verbindet der Heiland das Bewusstsein aufseilen des Sünders, ganz und gar blind über sich und Gott zu sein, mit der Vergebung von seiten Gottes. Wenn ein Mensch diesen Platz vor Gott einnimmt, wenn er sich als blind einstuft, als völlig unfähig, in den Dingen Gottes ein Urteil zu haben, dann, ja gerade dann, wird er ein Gegenstand der Gnade und der Macht Gottes. Solchen wird die Vergebung ihrer Sünden zugesichert aufgrund des Glaubens an den Herrn Jesus. „Wenn ihr blind wäret“ – das kommt tatsächlich dem Eingeständnis des eigenen Zustands gleich; „… so hättet ihr keine Sünde“ -das umschreibt als Folge die Vergebung der Sünden.

Solange sich jedoch ein Mensch für fähig hält, göttliche Dinge zu erkennen und zu beurteilen, liefert er den unwiderlegbaren Beweis dafür, dass er geistlich noch völlig blind und in seinen Sünden ist. So war es bei den Pharisäern damals, und so ist es heute bei vielen religiösen Menschen. Sie sagen, sie würden sehen; und weil sie sich nicht als Blinde, sondern als Sehende betrachten, meinen sie, kein weiteres Licht, kein göttliches Licht, keinen Heiland nötig zu haben. Die erschütternde Folge ist: Ihre Sünde bleibt, sie findet keine Vergebung. Was für eine Torheit und Selbstüberschätzung, wenn Menschen sagen: „Wir sehen“, und sie sind doch in Wirklichkeit blind und sind in ihren Sünden! Damit gehen sie ewig verloren!

Wenn doch die Menschen den Weg des Heils einschlagen würden, den schon Elihu in dem wohl ältesten Buch der Bibel aufzeigt! Er spricht von einem Menschen, der dahin gekommen war zu bekennen: „Ich hatte gesündigt und die Geradheit verkehrt, und es wurde mir nicht vergolten; er hat meine Seele erlöst, dass sie nicht in die Grube fahre, und mein Leben erfreut sich des Lichtes“ (Hiob 33,27.28).

Die Tür in den Schafhof

Wir kommen jetzt zu dem Gleichnis selbst. Die Verbindung zum Vorhergehenden ist offensichtlich. Ohne Unterbrechung fährt der Herr Jesus fort, vor Seiner Zuhörerschaft Belehrungen zu geben – vor Seinen Jüngern, dem einst blinden Bettler, den Pharisäern und anderen Juden. Was die Pharisäer anging, sie erhoben den Anspruch, „sehen“ zu können. „Wir sehen“, sagten sie ja. Nun, der Herr legt ihnen ein einfaches, klares Gleichnis vor. Damit stellt Er ihre „Sehfähigkeit“ auf die Probe. Würden sie es verstehen? Um es vorwegzunehmen: nein. „Dieses Gleichnis sprach Jesus zu ihnen; sie aber verstanden nicht, was es war, das er zu ihnen redete“ (Joh 10,6). Das aber hielt den Herrn nicht davon ab, Seine Gedanken zu entfalten.

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht durch die Tür in den Hof der Schafe eingeht, sondern woanders hinübersteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür eingeht, ist Hirte der Schafe“ (V. 1.2).

Hier haben wir die erste Tür, die Tür in den Schafhof. Unter dem Schafhof müssen wir uns eine durch einen Zaun oder eine Mauer gesicherte Einfriedung vorstellen, wo die Schafe in der Nacht Schutz und Ruhe fanden, während sie tagsüber hinausgelassen wurden, um zu weiden. Nun, dieser Hof der Schafe ist ein Bild von Israel, von den Juden. Es ist ein recht treffendes Bild. Das von Mose eingesetzte religiöse System war tatsächlich wie ein eingezäunter, bewehrter Hof, in dem sich die Juden befanden, abgeschirmt von den Nationen und darauf wartend, dass der wahre Messias kam – „durch die Tür“. Jedenfalls in den gottesfürchtigen Juden war diese Erwartung wach.

Viele andere waren schon gekommen, geistliche Führer und Lehrer, solche wie die Pharisäer; aber sie waren nicht auf dem von Gott gewiesenen Weg in den Schafhof gekommen. Anstatt durch die Tür einzugehen – was sie nicht vermochten -, waren sie mit List oder Gewalt woanders hinübergestiegen. Sie maßten sich an, mit Gott in Verbindung zu stehen und das Wohl der Schafe zu suchen. Aber trotz aller religiösen Würden und menschlichen Beglaubigungen, mit denen sie sich schmückten, waren sie von Gott nicht bestätigt worden. Schon Hesekiel klagt darüber (Kap. 34). Diese Menschen waren in Wahrheit Diebe und Räuber, die nur darauf bedacht waren, von den Schafen Nutzen für sich selbst zu haben und ihre eigene Herrlichkeit und Größe zu vermehren. Sie waren weder der Messias, noch waren sie Knechte Gottes, noch waren sie von Ihm gesandt. Diebe und Räuber waren sie. Dass sie nicht durch die Tür gekommen waren, bewies es.

(Wird fortgesetzt) ChB

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2002, Seite 377

Bibelstellen: Joh 10, 1.2

Stichwörter: Schafhof