Der Mann von Baal-Schalischa

„Und ein Mann kam von Baal-Schalischa und brachte dem Mann Gottes Brot der Erstlinge, zwanzig Gerstenbrote, und Jungkorn in seinem Sack. Und er sprach: Gib es den Leuten, damit sie essen!“ (2. Kon 4,42).

Niemand weiß, wer er war, dieser Mann von Baal-Schalischa. Und auch den Ort, woher er kam, hat man nicht bestimmen können. Das gibt seinem Auftreten einen ganz besonderen Reiz.

Wieder einmal war Hungersnot in Israel. Die Söhne der Propheten – Nachwuchs-Propheten könnten wir sie nennen – hatten sich wie so oft bei dem Propheten Elisa eingefunden. Der hatte einen großen Topf aufsetzen lassen, aber nicht gesagt, was sie hineintun sollten. Da ging einer von ihnen hinaus und sammelte in seiner Unkenntnis wilde Kolloquinten. Diese unbrauchbare und schädliche Nahrung wäre ihnen beinahe zum Verhängnis geworden, wenn nicht der Prophet durch ein Wunder eingegriffen hätte.

Nach dieser Vorgeschichte erscheint nun der Mann von Baal-Schalischa. Er hatte trotz der Hungersnot etwas ernten können: Gerste, das Erstlingskorn, mit dem die Getreideernte begann, die später mit der Weizenernte ihren Höhepunkt erreichte. Als Israelit war er gehalten, die erste Garbe Gott darzubringen; am Fest der Erstlingsgarbe, „am anderen Tag nach dem Sabbat“, musste der Priester sie vor Gott „weben“. Dieses Fest stellt uns Christus, den Auferstandenen, als Erstgeborenen inmitten Seiner Brüder vor. So hat es sich erfüllt, als der Herr am Tag nach dem Sabbat, den Er im Grab verbracht hatte, auferstand. „Und Brot und geröstete Körner und Jungkorn sollt ihr nicht essen bis zu diesem Tag, bis ihr die Opfergabe eures Gottes gebracht habt; eine ewige Satzung bei euren Geschlechtern in allen euren Wohnsitzen“ (3. Mo 23,14). Aber der Mann wohnte im Zehnstämmereich Israel und hatte keinen Zugang nach Jerusalem, dem Ort der Anbetung und des Priesterdienstes. Was sollte er da tun? Die Erstlinge seiner Ernte einfach selbst essen? Nein, er wusste Rat: Er brachte die Erstlinge zu dem Mann Gottes: dahin, wo Gott ein Werk tat und Seine Gegenwart erkennen ließ. Und er kam im richtigen Augenblick. – Auch Maria von Bethanien handelte im richtigen Augenblick mit ihrer kostbaren Narde. Das bringt der Geist Gottes zustande, wenn Er die Leitung hat. – Mochte der Diener Elisas gering darüber denken: „Wie soll ich dies hundert Männern vorsetzen?“ Gott ließ durch den Propheten versichern: „Man wird essen und übrig lassen.“ Und so geschah es.

Vielleicht ist unter unseren Lesern auch der eine oder andere, der in der heutigen Zeit geistlicher Hungersnot etwas Erstlingsfrucht geerntet hat. Ein solcher empfindet dann wohl: Das gehört eigentlich Gott; das darf ich nicht für mich behalten. Aber das Herz bebt, und der Atem stockt. Vielleicht ist auch die gesunde Furcht dabei, man könnte etwas Eigenmächtiges tun – und diese Empfindung weiß Gott zu schätzen. Doch die „Pophetensöhne“ sitzen da und warten auf etwas zu essen, warten darauf, dass doch einmal etwas aus einer Richtung kommt, aus der man es nicht erwartet hätte, aus der bisher noch nie etwas gekommen ist. Ist es „nur“ Gerste, dieses anspruchslose Getreide, das man in den Tagen Salomos nur den Pferden gab? Deswegen ist es nichts Geringes! Darüber müssen wir noch ein wenig nachdenken.

Als der Herr Jesus im Begriff stand, Sein Leben hinzugeben, hat Er von sich gesprochen als dem „Weizenkorn, das in die Erde fallen und sterben“ musste. Aber die Erstlingsgarbe, die so deutlich von Ihm als dem Auferstandenen inmitten der Seinen spricht, war Gerste. Hat das nur den natürlichen Grund, dass die Gerste frühzeitiger ist? Oder zeigt das Bild der „groben“ Gerste nicht vielmehr etwas von der Auferstehungsmacht, die die Erde durchbricht und nicht nur der Zeit nach, sondern auch dem Charakter nach, bahnbrechend wirkt?

Die makellose Vollkommenheit des Herrn, des wahren „Weizenkorns“, finden wir übrigens durchaus auch in den Seinen wieder, aber erst in den Webebroten aus Feinmehl, die in der Weizenernte am Fest der Wochen (Pfingsten) dargebracht wurden. Diese „Ernte“ währt heute noch, die ganze Zeit der Gnade hindurch.

Der Gedanke an die Urtümlichkeit der Gerste aber ist ein Trost für alle, die bei dem Wenigen, was sie geerntet haben, wenig von der Feinheit und Vollkommenheit des Weizens erkennen können. Auch der Dienst gesegneter Knechte des Herrn, die uns vorangegangen sind, trug vielfach den Erstlingscharakter des „Gerstenbrotes“, das uns heute noch „einiges zu kauen“ gibt – aber auch entsprechend nahrhaft ist.

Der Mann aus Baal-Schalischa brachte außerdem noch Jungkorn (Gartenkorn) mit. Damit ist Getreide gemeint, das frisch aus der Ähre gegessen wurde (vgl. Lk 6,1). Hatte die Gerste in Form von Broten schon einiges an Verarbeitung erfahren, so war das Jungkorn noch völlig in seinem „naturbelassenen“ Zustand. – Die geistliche Speise soll gewiss nichts Unfertiges sein, sondern sorgfältig zubereitet. Und doch hat jeder, der einmal versucht hat, etwas „Gerstenbrot“ darzureichen, sicher erfahren, dass der Herr manchmal auch etwas gab, was „ganz frisch“ war, was auf der Stelle im Herzen aufkam. Solche Augenblicke ermuntern den Dienenden und verfehlen ihre Wirkung nicht.

Das Jungkorn steht in gewissem Zusammenhang mit den „gerösteten Körnern“, dem „alten Korn“, das die Is-raeliten als Speise Kanaans vorfanden, als sie das Land betraten (Jos 5,11). Da hatten sie noch gar nicht ernten können, und es gab noch keine Erstlinge darzubringen. So haben auch wir heute im Himmel etwas, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz aufgekommen ist, was Gott bereitet hat…“ (1. Kor 2,9). Das ist der verherrlichte Christus. So hoch erhoben Er auch ist, bleibt doch die Erinnerung an das Feuer des Gerichts, das Er für uns erduldet hat, auf ewig mit Ihm verbunden. Doch ob „Jungkorn“ oder „altes Korn“: Christus ist immer die richtige Nahrung! E. E. H.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2003, Seite 290

Bibelstellen: 2Kö 4, 42

Stichwörter: Erstlingsfrucht, Jungkorn