Die Entstehung der Versammlung in Antiochien

Apostelgeschichte 11,19-30

(Fortsetzung von Seite 320)

Was Barnabas sah (Fortsetzung)

Als Barnabas die Neubekehrten in Antiochien erblickte, nahm er gewiss nicht nur hundertprozentig Gutes an ihnen wahr. Auf dieser Erde gibt es in dieser Hinsicht keine hundert Prozent. Und doch sah er, wenn er sie anschaute, die Gnade Gottes. Die Gnade, die er selbst besaß und genoss, befähigte ihn, die Gnade in anderen zu erkennen. Waren diese Menschen vorher nicht auch Sünder gewesen? Und jetzt hatten sie durch den Glauben an Jesus Christus die Reinigung ihrer Sünden erfahren. War das nicht eine unbeschreibliche Gnade Gottes? Gnade ist die Gunst Gottes, ist unverdiente Liebe. Diese Menschen hatten sie erlebt. Und Barnabas hatte Augen dafür!

Die Gnade Gottes ist an sich eine unsichtbare Sache. Sie ist ein Geheimnis im Herzen. Aber sie kann, wie das ebenfalls unsichtbare Leben auch, an den Früchten erkannt werden. Sie ist der unsichtbare Keim, die Quelle für alles das, was Gott an geistlicher Frucht in uns hervorzurufen vermag. Ja, die Gnade Gottes kann und soll im Leben der Gläubigen gesehen werden. Und wenn wir denselben Blickwinkel wie Barnabas haben, wenn wir selbst die Gnade Gottes geschmeckt haben und uns immer wieder neu darauf stützen, dann werden auch wir fähig sein, die Gnade Gottes wahrzunehmen, die in anderen etwas hat bewirken können. Es bedarf eben der Gnade, um Gnade zu sehen. Wir werden dann aber auch alles Gott allein und Seiner Gnade zuschreiben.

Was Barnabas empfand

Das soeben Gesagte führt uns zum zweiten Punkt: Barnabas „freute sich“, als er die gesegneten Ergebnisse sah, die das Evangelium in Antiochien hervorgebracht hatte. Das geistliche Wohlergehen der Christen machte ihn glücklich, so dass er sich darüber freute. Vielleicht denkt jemand, dass dies doch nichts Besonderes sei. Doch wenn wir uns selbst besser kennten, würden wir das Besondere eher begreifen und erkennen, dass Barnabas in der Tat ein „guter Mann“ war. Denn beachten wir: Die Gnade oder Tugend, die Barnabas glücklich machte, war ein Ergebnis der Wirksamkeit Gottes in anderen.

Es gibt kaum einen feineren Zug im Charakter eines Menschen als die Fähigkeit, sich über das Wohlergehen des Nächsten zu freuen. Das ist grundsätzlich ein Charakterzug jedes wahren Christen, weil es das Wesen ihres Herrn und Meisters selbst ist. Und wenn wir praktisch den alten Menschen abgelegt und den neuen angezogen haben (Eph 4,22-24), dann werden Neid und Selbstsucht verschwinden und der sich selbst vergessenden Liebe Platz machen. „Die Liebe neidet nicht (oder: ist nicht eifersüchtig)“ (1. Kor 13,4).

Aber die Frucht, über die sich dieser gesegnete Knecht Gottes freute, wuchs nicht nur in den Herzen anderer, sondern sie war auch von den Händen anderer ins Herz gesät worden. Es ist für einen Diener des Herrn einfach, sich zu freuen, wenn er sein eigenes Werk unter der Hand Gottes gedeihen sieht. Das ist durchaus eine legitime, eine reine Freude. Der Apostel Johannes drückt das so aus: „Ich habe keine größere Freude als dies, dass ich höre, dass meine Kinder in der Wahrheit wandeln“ (3. Joh 4).

Aber es bedarf tieferer Demut und größeren Glaubens, sich auch dann zu freuen, wenn man die Frucht im Garten eines anderen heranwachsen sieht, während die Ergebnisse der eigenen Arbeit auszubleiben scheinen. Oh, da muss Gott uns alle vor der besonderen Art von Eifersucht bewahren, die sich darin äußert, dass wir uns über die Frucht, die die Hand anderer hat hervorrufen können, weniger freuen als über die eigene Frucht. Sicher ist dies oft ein Grund dafür, dass uns der Herr oft nur spärlich die Frucht eigener Arbeit sehen lässt: Wir sind nicht demütig, nicht selbstlos genug. Uns fehlt das Herz eines Barnabas. Dieser Knecht Gottes war nicht um seine Ehre, sondern um die des Herrn besorgt. Sind wir es auch?

Und eins sei noch, diesen Punkt abschließend, bemerkt: Wenn in uns Freude über das Werk Gottes in anderen vorhanden ist, dann zeigt sich ihre Echtheit und Schönheit auch darin, dass Dank zu Gott emporsteigt. Diese Dankbarkeit wird hier zwar nicht besonders erwähnt, aber wir können sicher sein, dass sie im Herzen dieses guten Mannes nicht fehlte.

Was Barnabas tat

Wenn sich ein wahrer Christ darüber freut, in anderen die Gnade Gottes zu sehen, dann bewahrt es ihn davor, die Hände erschlafft hängen zu lassen. Im Gegenteil, er wird zu arbeiten beginnen, damit sie sich vermehre. Die Hoffnung auf mehr Gnade wird ihn beflügeln. Das sehen wir auch bei Barnabas; denn als Drittes wird im Blick auf ihn hinzugefügt: „Er ermahnte alle, mit Herzensentschluss bei dem Herrn zu verharren“ (V 23).

Barnabas war glücklich, aber er gab sich damit nicht zufrieden. Es genügte ihm nicht, dass in Antiochien viele zum Glauben gekommen waren. Er fühlte die Notwendigkeit, diese jungen Christen zu ermahnen, sie zu ermuntern. Das griechische Wort bedeutet beides. Es gibt eben auch in wahren Christen, ob jung oder alt, oft viel Unbeständigkeit, viel Wankelmut. Und manches durch den Glauben gereinigte Herz hat sich wieder betören lassen. Wir sollten deshalb nicht annehmen, dass wir nach unserer Bekehrung keine Warnung, keine Ermahnung mehr nötig hätten. Gott kennt unsere schwachen Punkte besser als wir selbst. Und es besteht immer die Gefahr des Abdriftens (Heb 2,1). Deswegen müssen wir auch stets ein Ohr für das Wort der Ermahnung haben.

Es fällt auf, dass Barnabas sie alle ermahnte. Jedes Kind Gottes hat Ermutigung nötig, aber auch Wegweisung und Warnung. Es gibt unter den wahren Christen keine besondere Gruppe, die davon ausgenommen wäre. Wenn jemand meinen sollte, sein Alter oder seine Stellung, seine Erfahrung oder seine Gabe enthebe ihn der Notwendigkeit, auf ein Wort der Warnung zu hören, zeigt er gerade dadurch, dass er es bitter nötig hat. „Daher, wer zu stehen meint, sehe zu, dass er nicht falle“ (1. Kor 10,12).

Was nun den Inhalt der Ermahnung angeht, so trifft sie den zentralen Punkt wahren Christentums: „mit Herzensentschluss bei dem Herrn zu verharren“; das heißt, mit Herzensentschluss bei Ihm zu bleiben, bei Ihm auszuharren. In Kapitel 14 wird vom Verharren im Glauben gesprochen (V 22). Hier jedoch geht es um den Herrn selbst, um Den, der den Mittelpunkt des Glaubens bildet. Bei Ihm sollen wir bleiben. Das war die frühe Botschaft des Barnabas an die Gläubigen in Antiochien. Tatsächlich kommt alles auf eine persönliche Verbindung mit einem persönlichen Herrn und Heiland an.

Wenn vom „Verharren“ die Rede ist, so ist klar, dass die Ermahnung sich nicht auf den Anfang, sondern auf den Fortgang oder die Fortsetzung des Glaubens bezieht. Nur jemand, der Christus bereits im Glauben ergriffen und Seine Liebe geschmeckt hat, kann darin fortfahren, bei Ihm zu bleiben und Ihm anzuhangen.

Doch dieses Verharren oder Bleiben bedarf eines Herzensentschlusses, eines Entschlusses, der aus dem Herzen kommt. Das „Herz“ ist gleichsam der Ausgangspunkt des Verharrens, des Anhangens. Wir wissen, dass das „Herz“ der Sitz der Entscheidungen ist, denn „von ihm aus sind die Ausgänge des Lebens“ (Spr 4,23). Aber es ist auch das Symbol für die Zuneigungen, wie viele Stellen der Heiligen Schrift zeigen. Und es scheint mir, dass dies hier vorrangig die Bedeutung von „Herz“ ist: unsere Zuneigungen.

Die Liebe ist das wahre Bindeglied. Wir lieben, weil Er uns zuerst geliebt hat (1. Joh 4,19). Ich kann mich nicht nahe zu Christus halten, wenn ich nicht lerne, Ihn mehr und mehr zu lieben. Und das wiederum lerne ich nur, wenn ich Seine Liebe mehr und mehr erkenne und genieße. So ist die Liebe der eigentliche Berührungspunkt zwischen Ihm und uns. Er hält uns über unser Herz fest. Ihm sei Dank dafür!

Und doch muss es auch unsererseits einen Entschluss geben, eine positive Hinwendung des Herzens zu Ihm. Das setzt allerdings eine gewisse Methodik in unserem Glaubensleben voraus. Es ist nicht weise, das Beste und Wichtigste, was wir haben, der Willkür der Umstände, dem Zufall zu überlassen. Für unser normales Leben hier in der Welt haben wir durchaus klare Zielvorstellungen und wissen genau, was wir wollen und gehen es methodisch an. Das kann in unserem geistlichen Leben nicht anders sein. So sollten wir unbedingt um ein regelmäßiges Gebetsleben und ein systematisches Erforschen des Wortes Gottes besorgt sein.

Daniel betete dreimal am Tag, auch dann, als ein Gebot des Königs dagegen bestand und ihm der Tod in der Löwengrube drohte (Dan 6). Natürlich können wir beten, so oft wir wollen. Das ist gut so. Ein gottesfürchtiger Christ weiß meist gar nicht, wie oft er am Tag gebetet hat. Dennoch, es ist von großem Wert, wenn wir uns bestimmte Zeiten des Tages für das Gebet und für das Lesen der Heiligen Schrift reservieren. Wie könnten wir anders mit Herzensentschluss bei dem Herrn verharren?

Daniel war noch sehr jung, als er – ein Gefangener in Babel! – sich in seinem Herzen vornahm, sich nicht mit der Tafelkost des Königs und mit dem Wein, den er trank, zu verunreinigen (Dan 1). Dieser Vorsatz veränderte sein ganzes Leben und gab ihm eine Weihe für Gott, die bis ins hohe Alter anhielt.

Der von der Versammlung in Jerusalem nach Antiochien entsandte Barnabas – ein „guter Mann voll Heiligen Geistes und Glaubens“ – wusste, was für ein Wort die jungen Christen dort nötig hatten. Es ist dasselbe Wort, das auch uns allen gilt: Bleibt bei dem Herrn – mit Herzensentschluss!

Voll Heiligen Geistes und Glaubens

„Denn er war ein guter Mann und voll Heiligen Geistes und Glaubens; und eine zahlreiche Menge wurde dem Herrn hinzugetan“ (Apg 11,24).

Es ist schon erstaunlich, was Gottes Wort über Barnabas sagt! Zuerst, dass er ein guter Mann war. Als einmal ein religiöser jüdischer Führer den Herrn mit „guter Lehrer“ ansprach, wies Er diesen Titel zurück und sagte: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als nur einer, Gott“ (Lk 18,18.19). Wenn dieser „Oberste“ nicht mehr im Herrn Jesus sah als einen guten Lehrer, so lehnte Er diese „Ehrung“ ab. Hier aber wird ein Knecht des Herrn „gut“ genannt, ein „guter Mann“, weil er seinem Meister im Wesen sehr ähnlich war. Das war natürlich nicht sein eigenes Verdienst, sondern das Ergebnis der Wirksamkeit des Heiligen Geistes in ihm, wie der Nachsatz „und voll Heiligen Geistes und Glaubens“ deutlich macht. Dass Barnabas in den Augen Gottes ein guter Mann war, haben wir bereits in dem bestätigt gesehen, was in Vers 23 über ihn gesagt wurde, und im 25. Vers unseres Kapitels werden wir sogleich ein weiteres Beispiel dafür finden.

Der Ausdruck „voll Heiligen Geistes und Glaubens“ begegnet uns schon bei Stephanus in Kapitel 6, nur in umgekehrter Reihenfolge (V 5). Hier bei Barnabas wird zuerst die Quelle genannt, der Heilige Geist, und dann das Ergebnis, die Kraft des Glaubens.

(Wird fortgesetzt) ChB

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2006, Seite 345

Bibelstellen: Apg 11, 23.24