Der Brief an die Hebräer

Eine Einleitung

Manche haben bezweifelt, dass es sich hier um einen Brief handelt, weil die Anrede fehlt. Aber das letzte Kapitel ist – neben zahlreichen weniger ausgeprägten Hinweisen im Lauf des Textes – der bestimmte Beweis dafür, dass es um einen wirklichen Brief geht. Allerdings trägt er, ebenso wie der Brief an die Heiligen in Rom, auch etwas den Charakter einer Abhandlung.

Der Inhalt belegt unzweifelhaft, dass dieser Brief an Juden gerichtet wurde, die sich zum Namen des Herrn Jesus bekannten. Denn alles darin wäre genauso anwendbar, wenn es zu diesem Zeitpunkt noch keinen einzigen Gläubigen aus den Nationen gegeben hätte. Mehr als alle anderen Bücher des Neuen Testaments beruht der Brief in jedem Punkt der Lehre und sogar der Ermahnung auf den alttestamentlichen Schriften, wie sie nur dem auserwählten Volk von einst vertraut waren. Und der gläubige jüdische Überrest als das wahre „Volk“ wird uns ständig eindrucksvoll vorgestellt; denken wir an Stellen wie Kap. 2,17; 4,9; 8,10 und viele andere – wie übrigens auch in 1. Petrus 2,9.10; 2. Petrus 2,1 und Judas V. 5. Ebenso ist es tatsächlich auch beim Apostel Paulus, so in Römer 9,25; 10,21; 11,1.2; Kap. 15 mehrfach und an zahlreichen anderen Stellen. Die einzige Ausnahme ist Titus 2,14, wo der Begriff „Volk“ in moralischem Sinn gebraucht wird.

So trägt der Brief einen Charakter, der sich von jedem anderen unterscheidet – wer auch immer der Verfasser sei. Auch beruft sich der Brief auf das Alte Testament vom Anfang bis zum Ende wie kein anderer. Und doch lässt er das Gesetz, die Psalmen und die Propheten sozusagen mit neuen Zungen reden. Sie alle legen ein deutliches, vereintes und herrliches Zeugnis ab – einst irdisch im Buchstaben, jetzt himmlisch im Geist – vom Herrn, der zur Rechten Gottes sitzt, was Seine passende Stellung für den Christen ist. Den gläubigen Juden zu ermuntern, Christus kennen zu lernen und zu genießen, wo Er ist, und in diesem Glauben anzubeten und zu wandeln, das ist das Hauptziel dieses lebhaften, begeisternden, hoch interessanten und lehrreichen Briefes, der unsere Aufmerksamkeit verdient.

Es handelt sich daher mehr um die inspirierte Ausübung der Gabe eines Lehrers als um die eines Apostels und Propheten, der völlig neue Offenbarungen verkündigt. Es gibt hier keine Ausdrucksweise wie „Ich will nicht, Brüder, dass euch dieses Geheimnis unbekannt sei“ (Röm 11,25). Wir finden hier kein Wort über die Apostelschaft von Paulus wie in den beiden Korintherbriefen, über das Geheimnis des Christus wie in Epheser und Kolosser oder gar „Dies sagen wir euch im Wort des Herrn“ wie bei den Thessalonichern. Der Verfasser spricht von anderen als von „denen, die es gehört haben“; er selbst ist hier „ein Lehrer“ Israels „in Glauben und Wahrheit“. Er zitiert und erörtert einfach die alttestamentlichen Aussprüche und geschichtlichen Ereignisse, wendet Prophezeiungen an und legt die Vorbilder des Gesetzes aus. Aber selten, wenn überhaupt, enthüllt er die herrlichen Szenen des künftigen Tages, wenn Israel unter dem Messias und dem Neuen Bund gesegnet werden wird und die Nationen denselben Mittelpunkt umgeben werden, wenn auch nicht so nahe. Er schreibt in aller Vollständigkeit über die Erhöhung Christi im Blick auf die himmlische Berufung und die, die jetzt daran teilhaben vor jenem Tag. In Kapitel 4,9 kommt er – wenn auch ohne Einzelheiten – auf die umfassende Tatsache einer „Sabbatruhe“ zu sprechen, die für das Volk Gottes übrig bleibt, wenn die Wüste vorüber ist, wobei wir, die wir jetzt glauben, unser „besseres“ Teil in der Höhe haben. Wir können auch Kapitel 12 zum Vergleich heranziehen. Dort sehen wir den Kreis der zukünftigen Herrlichkeit, sowohl der irdischen wie der himmlischen, zusammengestellt mit der, zu der wir durch Glauben schon gelangt sind – obwohl auch sie erst eingeführt und dargestellt wird, wenn der Herr erscheint.

Von Christus ist hier nie die Rede als dem Haupt und folglich auch nie von dem einen Leib, in dem die alten Unterschiede verschwinden, und ebenfalls nicht von dem neuen Menschen, in dem weder Grieche noch Jude ist, weder Beschneidung noch Unbeschnittenheit, weder Barbar, Skythe, Sklave, Freier, sondern nur Christus alles und in allen ist. Die engste Annäherung an die Einheit besteht darin, dass Der, der heiligt, und die Geheiligten alle von einem sind. Die Versammlung ist die von Erstgeborenen, gesehen als eine Schar von Einzelwesen und nicht als der Leib Christi. Die, die sie gebildet haben, waren Erben Gottes und Miterben Christi; aber dass sie dem Herrn anhängen als ein Geist mit Ihm und Christi Leib sind, wird hier nicht gesagt.

(Wird fortgesetzt) W. K.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2007, Heft 2, Seite 37

Bibelstellen: Hebr