Der Segen Jakobs

1. Mose 47,27-31; Kap. 48 und 49

Joseph wuchs in den ersten siebzehn Jahren seines Lebens unter der Fürsorge seines Vaters Jakob auf, und in schöner Entsprechung dazu wird der betagte Vater in den letzten siebzehn Jahren seines Lebens der Gegenstand der zarten Fürsorge seines Sohnes (1. Mo 47,28). Am Ende dieses Lebensabschnitts erreichen wir die letzte und hellste Station des ereignisreichen Lebenswegs Jakobs: die Stille seiner Sterbestunden, die im glänzenden Gegensatz zu seinem stürmischen Leben steht, in dem er seinen krummen und eigenwilligen Weg verfolgt hatte. Zu diesen heiligen und erhabenen Augenblicken wird Joseph ausdrücklich gerufen, und darin haben er und seine beiden Söhne einen besonders bevorrechtigten Platz.

Jakob, der Mann des Fleisches, ist durch Alter und Krankheit geschwächt. Die Welt, an der er so hartnäckig gehangen hatte, enteilt seinen Blicken, seine Augen sind schwer vor Alter (Kap. 48,10). Aber als die Kraft des Fleisches geschwächt und der natürliche Blick getrübt ist – als alles Irdische schnell seiner Hand entgleitet – da erhebt er sich über den Verlust aller irdischen Freuden und findet in Gott seine einzige Stütze und unerschöpfliche Quelle. Deshalb gehen seine Gedanken zurück zu diesem großartigen Augenblick am Anfang seiner Wanderschaft, als Gott, der Allmächtige, ihm in Lus im Land Kanaan erschien und ihn dort segnete und seinen Nachkommen aufgrund einer bedingungslosen Verheißung das Land zum ewigen Besitztum gab. Die vergeblichen Betrügereien, die armseligen Winkelzüge, die hinterhältigen Pläne, die seinen Weg so oft beeinträchtigt hatten, werden alle als nutzlos übergangen; und jede Hoffnung auf eine ferne Zukunft gründet er jetzt auf die bedingungslose Verheißung Gottes, mit der er seine Reise
begonnen hatte (V. 3.4).

Weil es also einen Segen aufgrund von Zusagen gibt, die den Nachkommen Jakobs zugesichert wurden, kann Jakob einen Segen für die Söhne Josephs beanspruchen. Jakob kann sagen: „Sie sollen mein sein.“ Er beansprucht sie als seine Nachkommen und demnach als Erben
seines Erbteils (V. 5.6).

Dann kommt er zurück auf seine eigene Geschichte und stellt sein irdisches Los der herrlichen Zukunft der Söhne Josephs gegenüber (V. 7). Er sieht, wie sich vor ihnen und ihren Nachkommen ein großes Erbteil im Land ausdehnt, aber für ihn selbst hatte jede irdische Freude im Land Kanaan aufgehört, als seine meistgeliebte Frau starb. Rahel war der Inhalt der Liebe seines Lebens gewesen. Rahel war der besondere Gegenstand seiner Fürsorge am Jabbok gewesen. Rahels Söhne liebte er mehr als alle seine Kinder. Seine Liebe ließ ihn nach Rahels Tod auf ihrem Grab ein Denkmal aufstellen, um ihren Namen in ständiger Erinnerung zu bewahren. Für Rahel hatte er gelitten, geschuftet und gelebt, und ihr Grab verschloss für Jakob alle irdischen Freuden. Es ist, als ob er zu Joseph sagte: „Deine beiden Söhne haben herrliche irdische Aussichten vor sich, aber meine sind begraben im Grab Rahels.“ Aber der Glaube des sterbenden Patriarchen blickt über das Ende aller irdischen Freuden hinaus; und der Mann, der immer davon sprach, dass er in den Scheol hinabfahren muss, sieht jetzt – als seine Füße den Rand des Scheols erreicht haben – über den Tod und die Verwesung hinaus, denn als er von Rahels Grab „auf dem Weg nach Ephrat“ spricht, fügt er bezeichnenderweise hinzu: „Das ist Bethlehem.“ Genau der Ort, der die irdischen Freuden und natürlichen Zuneigungen im Leben Jakobs beendete, ist der Platz, von wo der Eine kommen würde, der immer währenden Segen für die Nachkommen Jakobs bringen würde. „Und du, Bethlehem-Ephrata, zu klein, um unter den Tausenden von Juda zu sein, aus dir wird mir hervorkommen, der Herrscher über Israel sein soll; und seine Ursprünge sind von der Urzeit, von den Tagen der Ewigkeit her“ (Micha 5,1). Jemand hat gesagt: „Das Grab der irdischen Hoffnungen Jakobs war der Geburtsort seiner himmlischen Hoffnungen. Ephrat und Bethlehem waren ein und derselbe Ort. Tod und Auferstehung treffen sich im Ratschluss Gottes und in der Erfahrung Seines Volkes. So sicher, wie Ephrat uns den Tod bringt, so sicher wird es auch ein Bethlehem für uns werden.“

Bis hierhin hatte Jakob gesprochen, aber von jetzt an redet er als Israel. Jakob, der Mann des Fleisches, hat sich die Vergangenheit in Erinnerung gerufen und im Tod das Ende aller seiner irdischen Hoffnungen gesehen. Jetzt, als Israel (Kämpfer Gottes), wird er die Gedanken Gottes verkünden. Als Jakob hat er gesehen, wie der Tod die Pläne des Menschen zunichte macht. Als Israel sieht er über den Tod hinaus und entfaltet den Vorsatz Gottes (V. 8-11). Doch die Augen Israels waren schwer vor Alter, so dass er nicht sehen konnte (V. 10). Wo himmlische Dinge sich ihm öffnen, müssen ihm irdische Dinge entschwinden. Und so kommt es, dass er nicht länger an die Schmerzen auf dem Weg denkt, sondern an die Güte Gottes, die ihn nie verlassen hat. Er erkennt an, dass Gott gütiger zu ihm gewesen war als all seine menschlichen Gedanken. Er sagt: „Ich hatte nicht gedacht, dein Angesicht wiederzusehen, und siehe, Gott hat mich sogar deine Nachkommen sehen lassen!“ (V. 11).

Als die Güte Gottes seine Seele erfüllt, verschwinden Joseph und seine Söhne für einen Moment aus seinen Gedanken, und in der Gegenwart Gottes betet er an. Er hat den höchsten Augenblick seines geistlichen Lebens erreicht – er ist ein Anbeter. Aus der Erklärung des Heiligen Geistes in Hebräer 11 wissen wir, dass diese Begebenheit der krönende Abschluss des Glaubens im Leben Jakobs war. „Durch Glauben“, lesen wir, „segnete Jakob sterbend jeden der Söhne Josephs und betete an über der Spitze seines Stabes“ (Heb 11,21). Das Ränkeschmieden, das Überlisten, die Selbstsucht und die Unabhängigkeit, die seinen Weg so oft beeinträchtigt hatten, waren vorüber, und am Ende ist Jakob gekennzeichnet durch Glauben, Abhängigkeit und Anbetung.

Das Ergebnis ist wunderbar. Als Anbeter in der Gegenwart Gottes lernt er die Gedanken Gottes kennen. Er handelt nicht mehr nach dem Willen des Fleisches, sondern nach dem Befehl Gottes. Er legte seine Hände „absichtlich“ überkreuzt, die Rechte auf den Jüngeren und die Linke auf den Älteren (V. 13.14). Darauf segnet Jakob Joseph, doch er tut das, indem er Josephs Söhne segnet, denn der Segen, den er ausspricht, ist für „die Knaben“. Er spricht von Gott entsprechend seinen
Erfahrungen mit Gott. Es ist „der Gott, der mich geweidet hat, seitdem ich bin bis auf diesen Tag, der Engel, der mich erlöst hat von allem Bösen“, in dessen Hände er die Knaben befiehlt (V. 15.16). Joseph, der sich von seinen natürlichen Gedanken leiten lässt und die Souveränität Gottes, der immer entsprechend Seinem Vorsatz segnet, nicht bedenkt, protestiert dagegen, dass Jakob dem Jüngeren die Vorrangstellung gibt. Jakob aber lässt sich nicht von den natürlichen Wünschen Josephs
beirren. Er ist sich voll bewusst, was er tut. Er kann sagen: „Ich weiß es, mein Sohn, ich weiß es.“ Er
handelt nicht nur in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes, er tut das auch „absichtlich“. Seine geist-liche Sicht war nie klarer als zu dem Zeitpunkt, als seine natürlichen Augen schwer vor Alter wurden. Ein
anderer hat gesagt: „Es gab keinen, der klarer sah als
Joseph; aber der sterbende Jakob sieht die Zukunft mit festerem, vollständigeren Blick als die berühmtesten Deuter von Träumen und Gesichten seit Beginn der Welt.“

In 1. Mose 49 verlassen wir die private Begegnung von Jakob und seinem Sohn Joseph und finden die letzten Augenblicke im Leben Jakobs, zu denen alle Söhne zusammengerufen wurden, obwohl wir auch hier Joseph an einem bevorzugten Platz sehen werden. Die zwölf Söhne Jakobs waren die Keimzelle der Nation Israel, und daher benutzt Jakob unter der Leitung Gottes ihre verschiedenen Merkmale, um einen prophetischen Überblick über die moralische Geschichte der Nation zu geben. Er zeigt zugleich Gottes Vorsatz zur Segnung Israels durch Christus, wobei er im Besonderen den Zustand der Nation „in den letzten Tagen“ herausstellt, der ihrem Eintreten in den Segen unter der Herrschaft Christi vorausgeht.

Die ersten drei Söhne stellen durch ihre Charaktereigenschaften das moralische Versagen des Volkes Israel als Nation dar, das gekennzeichnet ist durch Verdorbenheit (Ruben) und Gewalt (Simeon und Levi). Die Nation als solche wird verworfen. Gott wird nicht in ihre Versammlung kommen, oder Seine Ehre mit solchen verbinden, die durch Verdorbenheit und Gewalt gekennzeichnet sind. Durch solche Mittel werden die Absichten Gottes nicht zustande gebracht (V. 3-7).

Die Erfüllung der Absichten Gottes ist verbunden mit Juda, denn aus Juda wird der König, der das Zepter führt und der Richter, der das Gesetz gibt, aufstehen, und ihm werden sich die Völker anschließen (V. 8-12).

Der König, der aus Juda aufsteht, wird jedoch verworfen. Deshalb kommt das Volk für eine Zeit unter die Macht der Nationen, dargestellt in Sebulon und Issaschar. Diese zwei Söhne zeigen, wie die Nation durch das Streben nach wirtschaftlicher Geltung unter den Einfluss der Welt kommt und um der Bequemlichkeit willen der Welt willig ihren Tribut zollt (V. 13-15).

In Dan sehen wir, dass das Volk durch diesen Stamm zu Fall kommt, wie ein rücklings fallender Reiter. Dan ist ein Instrument der Macht Satans und veranlasst den Abfall der Nation. Doch im dunkelsten Moment ihrer Geschichte – wenn die Masse der Macht Satans anheim fällt – wird es einen Überrest geben, der auf den Herrn blickt und auf Seine Rettung wartet (V. 16-18).

Wenn der Überrest zum Herrn aufblickt und auf Rettung wartet, dann ist der Zeitpunkt der Befreiung gekommen; daher sehen wir in Gad die herrliche Tatsache, dass der gottesfürchtige Überrest, obwohl er zunächst überwältigt wird und durch große Leiden gehen muss, doch am Ende überwinden wird. Überfluss an Segen für die Nation wird folgen, wie es die „königlichen Leckerbissen“ bei Aser deutlich machen (V. 19-20).

Dann wird die befreite Nation in Lob ausbrechen, wie wir es in Naphtali sehen, der „losgelassenen Hirschkuh“, und den „schönen Worten“, die er gibt (V. 21).

Das führt uns zwangsläufig zu Joseph, einem wunderschönen Bild von Christus, durch den der ganze Segen eingeführt wird. So wie er in seiner Geschichte Christus in Seinem Vorrang darstellt, so wählt Jakob ihn in seinen letzten Worten als den Sohn, der Christus
persönlich darstellt. Christus ist der fruchtbare Zweig. Der Herr hatte Frucht bei Israel gesucht, aber gefunden, dass die Nation nichts als ein unfruchtbarer Weinstock war. Doch in Christus gibt es Frucht für Gott und Segen für den Menschen – nicht nur „am Quell“, was von einem bevorzugten Ort spricht, dem Land Israel, sondern ein Segen, der „über die Mauer“ sprießt zu den
weit entfernten Nationen. Aber Der, durch den der
Segen kommt, wurde einst „gereizt“ durch die Bogenschützen, die auf Ihn schossen und Ihn hassten. Er war der von Seinen Brüdern Verworfene. Aber der von
den Seinen Verworfene wird gestärkt durch den Mächtigen Jakobs, und „von dort“ ist der Hirte, der Stein
Israels. „Von dort“ – vom Ort der Schwachheit – ist
Er erhöht worden auf einen Platz der Stärke. Vom
Ort des Todes, an dem Er „beschossen“ wurde, wird Er aus den Toten wiedergebracht (wie Joseph aus
der Grube gebracht wurde), um der „große Hirte der Schafe“ zu sein (Heb 13,20). Und „der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein
geworden“ (1. Pet 2,7).

Der verworfene aber erhöhte Christus wird zur Quelle eines Segens, der alle bisher bekannten Segnungen weit übersteigt, denn Er wird segnen mit den
„Segnungen des Himmels droben“ zusätzlich zu den „Segnungen der Tiefe, die unten liegt.“ Es sind Segnungen, die alles weit übertreffen, was das Volk in der Vergangenheit genossen hat. Die Segnungen werden über das Land hinaus bis zur „Grenze der ewigen Hügel“ gehen. Diese grenzenlose Segnung, die die Erde mit Segen erfüllen wird, wird zur Herrlichkeit und Erhöhung des einst verworfenen Christus beitragen – eine Krone der Herrlichkeit auf dem Haupt dessen, der damals der Abgesonderte unter Seinen Brüdern war (V. 22-26).

Schließlich sehen wir in Benjamin Christus vor uns als den siegreichen König der Könige, der Sein Volk befreit, Seine Feinde vernichtet und die Früchte Seines Sieges mit Seinem Volk teilt (V. 27).

H. S.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2007, Heft 10, Seite 290

Bibelstellen: 1Mo 47, 27-31; 1Mo 48; 1Mo 49