Die Entstehung der Versammlung in Antiochien

Apostelgeschichte 11,19-30

(Fortsetzung von Seite 384, 2006)

Die Weissagung des Propheten Agabus

Dass schon in jener frühen Zeit innige Beziehungen zwischen den Versammlungen in Antiochien und Jerusalem bestanden, macht die Begebenheit deutlich, auf die Lukas nun zu sprechen kommt. Gott sorgte dafür, dass jeder möglichen Tendenz, die Brüder aus den Nationen von den Brüdern aus den Juden zu trennen, vorgebeugt wurde. Der Gefahr der Unabhängigkeit zwischen den Versammlungen wurde von Anfang an durch die Gnade Gottes entgegengewirkt.

Das ist wohl der Grund dafür, dass unerwartet wieder von Jerusalem die Rede ist. Und erneut wird die Einheit der Gläubigen in Christus auf eindrucksvolle Weise sichtbar und mit ihr die unumschränkte Freiheit des Heiligen Geistes, in der Er zu Anfang wirkte.

„In diesen Tagen aber kamen Propheten von Jerusalem nach Antiochien herab. Einer aber von ihnen, mit Namen Agabus, stand auf und zeigte durch den Geist eine große Hungersnot an, die über den ganzen Erdkreis kommen sollte, die unter Klaudius eintrat“ (Apg 11,27.28).

Propheten

Mit dem Ausdruck „in diesen Tagen“ scheint Lukas auf das eine Jahr hinzuweisen, in dem Barnabas und Saulus in Antiochien arbeiteten. Aber ist es dann nicht bemerkenswert, dass gerade in dieser Zeit auch noch weitere Diener des Herrn von Jerusalem nach Antiochien herabkamen, um ebenfalls in der dortigen Versammlung den Gläubigen zu dienen? Einerseits weist dieser Umstand auf den beträchtlichen Umfang der Arbeit hin, wie er andererseits deutlich macht, dass neben Barnabas und Saulus durchaus auch für andere Arbeiter Platz und Raum war.

Dieser freie Austausch von verschiedenen Gaben und Dienern zwischen den Versammlungen ist zudem ein wichtiger Hinweis darauf, dass der Wirkungsbereich geistlicher Gaben überörtlich ist, das heißt, dass sie dem ganzen Leib gegeben sind, nicht allein der örtlichen Versammlung. Wenn diese Wahrheit auch erst später in den Briefen des Apostels Paulus entfaltet wird, so wird sie doch hier schon auf eindrucksvolle Weise verwirklicht.

Bei den Männern, die von Jerusalem nach Antiochien herabkamen, handelte es sich um Propheten. Wir begegnen dieser Personengruppe in diesem Buch hier zum ersten Mal. Später gab es in der Versammlung in Antiochien ebenfalls Propheten; sie werden dann zusammen mit den Lehrern genannt: „Propheten und Lehrer“ (Kap. 13,1). Auch Judas und Silas werden als Propheten bezeichnet (Kap. 15,32). Was haben wir nun unter einem Propheten zu verstehen?

Die landläufige Meinung ist, dass ein Prophet etwas vorhersagt. Agabus, einer der in unserem Vers erwähnten Propheten, tat das tatsächlich. In Antiochien kündigte er durch den Geist eine große Hungersnot an, und später in Cäsarea sagte er die Gefangennahme des Apostels Paulus voraus (Kap. 21,10.11). Natürlich haben auch die Propheten des Alten Testaments Zukünftiges vorausgesagt.

Aber als Definition für einen Propheten ist diese Sichtweise zu stark eingeschränkt. Gewiss, ein Prophet ist jemand, der „weissagt“, doch in erster Linie in dem Sinn, dass er das Gewissen seiner Zuhörer in die Gegenwart Gottes bringt (1. Kor 14,24.25). Das ist die übergeordnete Bedeutung von Weissagen – eine Bedeutung, die auch im Blick auf die alttestamentlichen Propheten Gültigkeit hat. Dabei ist es hilfreich zu wissen, dass die deutschen Wörter „weissagen“ und „prophezeien“ die Wiedergabe ein und desselben griechischen Wortes (propheteúo) sind. Prophezeien ist also nicht etwas anderes als weissagen. Doch die Stelle aus 1. Korinther 14 macht klar, dass wir Prophezeiung oder Weissagung nicht auf das Vorhersagen zukünftiger Entwicklungen beschränken dürfen. Die geistliche Macht zum Vorhersagen zukünftiger Ereignisse hat es durchaus gegeben, aber erstens ist es ein untergeordneter Aspekt der Weissagung. Und zweitens war diese Macht den Propheten nur für die Anfangstage der Versammlung verliehen, als das Christentum noch neu war. Propheten in diesem (eingeschränkten) Sinn gibt es deswegen heute nicht mehr.

So verhält es sich auch mit Propheten, die bei bestimmten Gelegenheiten göttliche Offenbarungen über die christliche Wahrheit empfingen. Als der Kanon der Heiligen Schrift Neuen Testaments noch nicht oder nur bruchstückartig vorlag, wurden gewisse Propheten von Zeit zu Zeit, wie es die Umstände erforderten, von Gott benutzt, um in der Mitte der Kinder Gottes Teile der Wahrheit Gottes, der christlichen Wahrheit kundzu-
machen. Sie waren direkt Werkzeuge der Inspiration des Heiligen Geistes, der durch sie sprach. Wir sehen das ebenfalls in 1. Korinther 14. Wenn einem Propheten, der dasaß, eine Offenbarung von Gott zuteil wurde, so sollte der andere Prophet, der gerade im Reden
begriffen war, schweigen. So konnten sie einer nach dem anderen alle weissagen, damit alle lernen und getröstet werden mochten (V. 29-31). Die Weissagung in der beschriebenen, speziellen Form ist heute nicht mehr nötig, weil nicht mehr die Umstände wie zu Anfang vorliegen.

Darüber hinaus hat Gott einige Propheten dazu benutzt, Sein Wort auch in schriftlicher Form niederzulegen, es gleichsam für die Nachwelt zu „fixieren“. Lukas zum Beispiel war solch ein Prophet. Unter der Inspiration des Heiligen Geistes schrieb er zwei Bücher des Neuen Testaments: das Evangelium und die Apostelgeschichte. Dabei war Lukas ebenso wenig ein Apostel wie Markus. Beide aber waren Propheten, die Bücher dem Kanon des Neuen Testaments zufügten. Auch Propheten dieser höchsten Art gibt es heute nicht mehr, weil das Wort Gottes vollendet ist (Kol 1,25) und weil die Propheten zusammen mit den Aposteln die Grundlage der Versammlung bilden (Eph 2,20).

Wir haben also in vierfacher Hinsicht von neutestamentlichen Propheten und deren Dienst gesprochen: als von solchen,

1. die zukünftige Ereignisse voraussagten (Agabus);

2. die in einem höheren Sinn „weissagen“; das heißt, die das Gewissen der Menschen in das Licht Gottes stellen;

3. die von Zeit zu Zeit Offenbarungen über die christliche Wahrheit erhielten und diese inspiriert, mündlich weitergaben;

4. die Gott zum Verfassen von Büchern oder Teilen des Neuen Testaments benutzte.

Dass der Dienst des Agabus von der ersten Art war, haben wir bereits gesehen. Wir werden sogleich darauf zurückkommen. Der übrige Dienst der nach Antiochien gekommenen Propheten wird wohl der zweiten oder auch dritten Art entsprochen haben. „Wer aber weissagt, redet den Menschen zur Erbauung und Ermahnung und Tröstung. … wer aber weissagt, erbaut die Versammlung“ (1. Kor 14,3.4). Die Erbauung der Versammlung – das hatte der Dienst der Propheten damals zum Ziel, und das muss das Ziel jeden Dienstes auch heute sein. Denn wir können Gott danken, dass es den prophetischen Dienst (im Sinn von Punkt 2) auch heute noch gibt.

Was nun die Weissagung des Propheten Agabus angeht, so ist es nicht notwendig anzunehmen, dass er die Offenbarung erst in Antiochien empfing. Sie mag ihm schon in Jerusalem gegeben worden sein, verbunden mit dem Auftrag, sie den Brüdern in Antiochien zu übermitteln. Der Ausdruck „Er zeigte an“ lässt diese Möglichkeit offen. Lukas gibt uns indes keine weiteren Einzelheiten, nur die Botschaft selbst: dass eine große Hungersnot über den ganzen Erdkreis kommen würde, und dass sie auch unter Klaudius eintrat. Klaudius regierte vom Januar 41 bis Oktober 54. Römische Geschichtsschreiber bestätigen, dass die Regierungszeit des Kaisers Klaudius stark von verschiedenen Hungersnöten gekennzeichnet gewesen sei.

Der Zusatz „… die unter Klaudius eintrat“ ist nicht Bestandteil der Weissagung des Agabus, sondern gleichsam ein Kommentar des Lukas. Denn als Lukas die Apostelgeschichte schrieb (61 n. Chr.), gehörte die Erfüllung der Weissagung bereits der Geschichte an. Wir haben hier übrigens den ersten zeitlichen Bezug in der Apostelgeschichte auf die profane Geschichte.

Als Agabus seine Weissagung gab, waren seit der Kreuzigung des Herrn Jesus (30 n. Chr.) gerade erst etwa 13 bis 14 Jahre vergangen. Bewegender Gedanke – diese zeitliche Nähe zum Tod des Heilands! Und wie viel hatte sich inzwischen schon zugetragen, was für die frühen Christen von äußerster Bedeutung war!

Wahre Einheit und Liebe

Was jetzt vor uns kommt, ist von großer sittlicher Schönheit – ein herzerfrischendes Beispiel wahrer christlicher Liebe und Einheit.

„Sie beschlossen aber, dass jeder von den Jüngern, je nachdem einer von ihnen begütert war, den Brüdern, die in Judäa wohnten, etwas zur Hilfeleistung senden solle; was sie auch taten, indem sie es durch die Hand des Barnabas und Saulus an die Ältesten sandten“ (Apg 11,29.30).

Hier sehen wir erneut, wie sich die Christen zu Anfang nannten: „Jünger“ – „Brüder“. Zudem wird ersichtlich, dass die Jünger in Antiochien die Weissagung des Agabus ernst nahmen und entsprechend reagierten. Agabus hatte zwar – so weit wir wissen – nicht direkt zur Hilfeleistung aufgerufen. Aber er muss doch wohl die Gläubigen in Antiochien über die Armut der Heiligen in Judäa in Kenntnis gesetzt haben. Denn andernfalls ist nicht zu erklären, dass seine Ankündigung einer allgemeinen „Hungersnot, die über den ganzen Erdkreis kommen sollte“, die Brüder in Antiochien sogleich und ausschließlich an die „Brüder, die in Judäa wohnten“, denken ließ. Wahrscheinlich waren diese so verarmt, dass sie sich keine Vorräte anlegen konnten. Und so kamen die Brüder in Antiochien in ihrer Liebe zu ihnen spontan überein, ihnen zu helfen, und das, bevor die Not überhaupt da war. Die Brüder aus den Nationen fühlten sich mit ihren jüdischen Brüdern derart verbunden, dass ihre Liebe diesen praktischen Ausdruck fand.

Hatte es das schon einmal gegeben? Gewiss, in den Tagen nach der Ausgießung des Heiligen Geistes hatten die Heiligen in Jerusalem „alles gemeinsam“; sie waren ein Herz und eine Seele, und auch nicht einer sagte, dass etwas von seiner Habe sein Eigen wäre (Kap. 4,32). Aber da waren sie alle von einem Volk gewesen, waren alle Juden gewesen. Jetzt lag der Fall völlig anders: Solche, die Heiden gewesen waren, leisteten denen materielle Hilfe, die von den Juden gekommen waren. Die Wahrheit, dass die „Zwischenwand der Umzäunung abgebrochen“ war (Eph 2,14), wurde hier im Glauben verstanden und praktisch verwirklicht. Ja, es bestand eine wirkliche Einheit zwischen den Heiligen in Antiochien und den Heiligen in Jerusalem. Die einen wie die anderen hatten den Heiligen Geist empfangen und waren in Christus Glieder des einen Leibes. Und die Ankündigung des Propheten Agabus bot den Heiligen in Antiochien eine willkommene Gelegenheit, diese Einheit und ihre Liebe zu ihren jüdischen Brüdern unter Beweis zu stellen.

(Schluss folgt) ChB

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2007, Heft 1, Seite 25

Bibelstellen: Apg 11, 27.28