Der erste Märtyrer

Apostelgeschichte 6 und 7

In der ergreifenden Geschichte von Stephanus, dem ersten einer langen Reihe von Märtyrern, sehen wir einerseits, wie die Bosheit Israels völlig bloßgestellt wird, und erkennen andererseits, wie gesegnet der christliche Glaube ist.

Stephanus ruft im Verlauf seiner Rede die Geschichte Israels in Erinnerung, um zu zeigen, dass das Fleisch, sogar unter denen, die sich als Volk Gottes bekennen, ausnahmslos demjenigen widersteht, mit dem Gott ist. Das beweist er aus der Schrift, indem er eingehend berichtet, wie die Patriarchen Joseph behandelten und wie die Nation Mose widerstand.

Die Patriarchen waren von Neid getrieben und hassten und verfolgten Joseph. Aber Gott war mit ihm und erhob ihn aufs Höchste. In seiner Erhöhung sandte Joseph seinen Brüdern eine Botschaft, in der er sich als ihr Retter und Befreier vorstellte. So wird Joseph ein beeindruckendes Vorbild auf Christus, ihren Messias, den die Führer Israels aus Neid überliefert hatten, damit Er gekreuzigt würde. Doch Gott hat Christus „durch seine Rechte zum Führer und Heiland erhöht“, und von diesem Platz der Erhöhung aus war Israel durch den Heiligen Geist die Buße und Vergebung der Sünden angeboten worden (Apg 5,31.32).

Dann erinnert Stephanus an die Geschichte Moses, der der ganzen Herrlichkeit Ägyptens den Rücken zukehrte, um seinem Volk, das er liebte, zu helfen. Doch die Israeliten „stießen ihn von sich“ und „verleugneten“ den, der von Gott als „Oberster und Retter“ gesandt worden war. Auch in der Wüste wollten sie ihm nicht gehorchen, sondern „wandten sich in ihren Herzen nach Ägypten zurück“. Sie widerstanden damit erneut dem Mann, mit dem Gott war.

Wenn wir der Rede von Stephanus zuhören, erkennen wir den wahren Charakter des Fleisches, sei es im Gläubigen oder im Ungläubigen, denn das Fleisch ändert sich nie.

Das Fleisch ist geprägt durch „Neid”, denn die Patriarchen waren von Neid bewegt, als sie Joseph ausstießen; es ist unfähig, in die Gedanken Gottes einzugehen, denn als Gott Israel durch Mose befreien wollte, lesen wir: „Sie aber verstanden es nicht“; es ist in offener Feindschaft gegen den, mit dem Gott ist, denn wir lesen von Mose, dass Israel ihn von sich stieß; es lässt sich vom Sichtbaren leiten anstatt vom Glauben, denn Israel sagte: „Mache uns Götter, die vor uns herziehen sollen“; und es ergötzt sich an den eigenen Werken statt an dem Werk Gottes, denn wir lesen: „Sie machten ein Kalb … und ergötzten sich an den Werken ihrer Hände.“

Nach dem Überblick über die Geschichte Israels schließt Stephanus seine Rede ab mit einer ernsten Bloßstellung des Zustands der Nation. Sie sind aufsässig gegen Gott – ein „halsstarriges“ Volk. Was für eine Religiosität sie auch äußerlich zur Schau stellen, innerlich ist das Fleisch ungerichtet; sie sind unbeschnitten am Herzen, und ihre Ohren sind taub für das Wort Gottes. Er zieht daher den Schluss, dass sie ein Volk sind, das „allezeit dem Heiligen Geist widersteht“. Wie ihre Väter gehandelt hatten, so auch sie. Die Väter hatten die Propheten verfolgt und getötet, und die Kinder hatten ihren Messias verraten und ermordet. Und das Gesetz, dessen sie sich rühmten, hatten sie nicht gehalten.

Bis zu diesem Moment im Verlauf der Apostelgeschichte hatten die Apostel durch den Heiligen Geist der Nation Buße und Vergebung der Sünden vonseiten des verherrlichten Christus verkündigt und ihnen gesagt, dass, wenn sie Buße täten, Christus wiederkäme, um Zeiten der Erquickung einzuführen (Apg 3,19-21). Dieses endgültige Zeugnis an diese Generation wird mit aller Heftigkeit abgelehnt. Der Zeuge der himmlischen Herrlichkeit Christi wird aus der Stadt hinausgestoßen und erbarmungslos gesteinigt. Wie das Zeugnis Christi auf der Erde abgelehnt worden war, so wird also jetzt auch das Zeugnis des Heiligen Geistes abgelehnt, der von dem verherrlichten Christus auf die Erde gekommen war.

So ist vorerst mit Israel alles vorbei, und das Zeugnis Gottes betrifft nicht mehr Christus, der auf der Erde regiert, sondern Christus, der im Himmel verherrlicht ist. Die Stellung Christi bestimmt immer auch die Stellung und den Segen Seines Volkes. Regiert Christus auf der Erde, dann hat Er ein irdisches Volk, dessen Segnungen irdischen Charakter haben. Ist Christus verherrlicht im Himmel, dann gehört auch Sein Volk zum Himmel und seine Segnungen haben geistlichen und himmlischen Charakter. So gehen wir an diesem großen Wendepunkt über von Jerusalem als Zentrum, wo Christus gekreuzigt wurde, zum Himmel, wo Christus verherrlicht ist. In der wunderbaren Himmelfahrtsszene, die im ersten Kapitel der Apostelgeschichte beschrieben wird, sprechen zwei Engel zu den Jüngern: „Was steht ihr da und seht hinauf zum Himmel?“, denn die Tür des irdischen Segens unter der Herrschaft Christi stand immer noch offen, wenn das Volk Buße tun würde – daher auch ihr Hinweis auf Sein Wiederkommen auf die Erde, „wie ihr ihn habt auffahren sehen in den Himmel“. Doch jetzt ist mit Israel vorerst alles vorbei, und Stephanus schaut mit Recht zum Himmel auf, ohne dass Engel eingreifen.

Wir wenden uns also vom Judentum zum Christentum, von der Erde zum Himmel, von einem Christus, der auf der Erde regiert, zu Christus, der in der Herrlichkeit erhöht ist. Ein neues Zeitalter beginnt, in der Gläubige aus Juden und Nationen herausgerufen werden, um die Versammlung Gottes zu bilden, die mit Christus im Himmel vereinigt ist. Während dieser Zeit hat Gott kein irdisches Volk, keine Nation, die mit Ihm in Verbindung steht, und keinen Tempel als irdisches Zentrum. Leider hat die Christenheit auf der alten Grundlage zu handeln gesucht und jüdische Rituale wieder aufleben lassen mit Priestern und prächtigen Bauten, die man Gotteshäuser nennt. So ist das Christentum weithin zu einem religiösen System geworden, das zur Verbesserung der Lage der Menschheit beitragen soll.

Es ist von größter Wichtigkeit, zu begreifen, dass der Glaube an Christus uns aus der Welt herausruft und uns einen Platz im Himmel gibt. Dort ist unser Erbteil, für das wir „durch Gottes Macht durch Glauben bewahrt werden“, wie Petrus sagt. Es ist „ein unverwesliches und unbeflecktes und unverwelkliches Erbteil, das in den Himmeln aufbewahrt ist“ für uns (1. Pet 1,4.5).

Stephanus stellt einen Gläubigen dar, der in diese himmlische Stellung eintritt, und wir erkennen an ihm die Wesensart, die dieser Stellung entspricht. So tun wir gut daran, über diese kurze, aber belehrende Geschichte dieses ersten christlichen Märtyrers nachzusinnen. Er trägt in eindrucksvoller Weise christliche Wesenszüge, denn er wird als Mann beschrieben „voll Glaubens und Heiligen Geistes“, „voll Gnade und Kraft“ und von „Weisheit“ erfüllt (Apg 6,5-10). Das sind die hervorstechenden Kennzeichen eines Christen. Der Glaube kommt notwendigerweise als Erstes, aber nachdem wir das Evangelium unseres Heils geglaubt haben, sind wir mit dem Heiligen Geist versiegelt worden (Eph 1,13). Jetzt besitzen wir den Heiligen Geist und werden aufgefordert, „mit dem Geist erfüllt“ zu werden (Eph 5,18). Und wenn das zutrifft, sollte bei uns Gnade zu finden sein, die allem Bösen im Geist Christi begegnet, Kraft, die uns über alle Umstände erhebt, und Weisheit, die allem Widerspruch begegnet.

Solche Christus ähnlichen Eigenschaften werden ihrem Träger nicht das Wohlwollen bloßer religiöser Bekenner einbringen. Und so geschah es, dass sie das Volk aufhetzten „und die Ältesten und die Schriftgelehrten; und sie fielen über ihn her und rissen ihn mit sich fort und führten ihn vor das Synedrium“. Hier beschuldigen sie ihn, lästerliche Worte gegen Mose, gegen Gott, gegen den Tempel und gegen das Gesetz geredet zu haben.

Wie wird sich Stephanus angesichts solcher Gewalttat und solcher lügnerischen Beschuldigungen verhalten? Das ganze Synedrium schaut auf ihn. Werden Entrüstung und Unmut in seinem Gesicht zu sehen sein angesichts dieser lügnerischen Beschuldigungen? Wie wird sein Glaube an Christus einer solchen Zerreißprobe standhalten? Zu ihrer Verwunderung sehen sie keine Spur von Unmut oder stolzer Verachtung auf diesem Gesicht. Sie „schauten unverwandt auf ihn und sahen sein Angesicht wie das Angesicht eines Engels“. Sie sahen ein vom Licht des Himmels erleuchtetes Gesicht. – Wenn wir an unser eigenes oft furchtsames Herz denken, dann mögen wir wohl fragen, was die verborgene Kraft war, die Stephanus befähigte, wie ein Engel auszusehen, wenn der Teufel ihm widerstand.

Das führt uns zu vier bedeutenden Kennzeichen eines Christentums, das in der Kraft des Heiligen Geistes gelebt wird – wunderbar dargestellt in Stephanus in den letzten Augenblicken seines Lebens, wie sie am Ende von Apostelgeschichte 7 beschrieben werden.

Erstens wird der vom Heiligen Geist erfüllte Christ jemand sein, der unverwandt auf Christus im Himmel schaut. Er ist sich dessen bewusst, dass alle seine Hilfsquellen in Christus sind – dem Menschen in der Herrlichkeit. Er schaut nicht nach innen in dem nutzlosen Bemühen, in sich etwas zu finden, worauf er vertrauen könnte. Er sieht nicht umher, um bei anderen Unterstützung und Leitung zu finden. Er schaut empor, und zwar unverwandt. Er lebt in dem Bewusstsein, dass Christus in der Herrlichkeit das Haupt Seines Volkes ist und jede Weisheit hat, es zu führen; der ein Herz voller Liebe hat, das in ihrem Kummer mit ihnen fühlt, und eine Hand voller Kraft, sie in ihren Übungen zu stützen. So fordert der Apostel uns zu einem späteren Zeitpunkt auf, „mit Ausharren zu laufen den vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens“ (Heb 12,1.2). Wir laufen einen Wettlauf, der im Himmel endet, und auf diesem Lauf werden wir Prüfungen begegnen und Schmach zu ertragen haben, und nur wenn wir, wie Stephanus, unverwandt zum Himmel schauen und unsere Blicke fest auf Jesus richten, werden wir fähig sein, durchzuhalten. So sehen wir in Stephanus die große Tatsache dargestellt, dass der Heilige Geist von Christus im Himmel herniederkam, um unsere Herzen mit Christus im Himmel zu verbinden.

Lasst uns aber beachten, dass Stephanus, der unverwandt zum Himmel schaute und die Herrlichkeit Gottes und Jesus sah, ein Gläubiger war, der nicht nur mit dem Heiligen Geist versiegelt, sondern auch „voll Heiligen Geistes“ war. Jemand hat gesagt: „Den Heiligen Geist zu besitzen, ist eine Sache, mit dem Heiligen Geist erfüllt zu sein, ist eine andere. Wenn Er die Quelle meiner Gedanken ist, dann bin ich von Ihm erfüllt.“ Dieser Zustand befähigt den Gläubigen, in einer bestimmten Situation Gott gemäß zu handeln (z. B. Apg 2,4; 4,31; Eph 5,18). Das Prädikat „voll Heiligen Geistes“ geht noch einen Schritt weiter; es bezeichnet einen gewissen Zustand der Vollendung und wird nur für den Herrn Jesus, für Stephanus und Barnabas gebraucht
(Lk 4,1; Apg 7,55; 11,24). So schaut Stephanus, voll Heiligen Geistes, zu Christus in der Herrlichkeit empor. Er erblickt die Herrlichkeit nicht mit seinen natürlichen Augen; er ist voll Heiligen Geistes. – Wenn das in dieser Form auch nicht auf uns zutrifft, so wollen wir doch nicht vergessen, dass der Apostel Paulus sagt: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bild“ (2. Kor 3,18).

Zweitens ist der Gläubige, der unverwandt zu Christus in der Herrlichkeit aufschaut, einer, der von Christus im Himmel gestützt wird. Das bedeutet nicht, dass der Christ von Prüfungen verschont bleibt. Mancher hat durch die schrecklichsten Prüfungen gehen müssen, ähnlich Stephanus, der zu Unrecht der Gotteslästerung bezichtigt, aus der Stadt gestoßen und durch die Steinigung aus der Welt geschafft wurde. Aber wenn Stephanus auch nicht vor der Prüfung bewahrt wurde, so wurde er doch darin getragen und durch sie hindurchgebracht. In diesen schrecklichen Umständen erkennt er die Wahrheit der Worte des Herrn: „Wenn du durchs Wasser gehst, ich bin bei dir, und durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten; wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt werden“ (Jes 43,2). So wird Stephanus, während die Steine auf ihn herabfallen, durch das „Tal des Todesschattens“ geführt, doch er „fürchtet nichts Übles“, weil der Herr bei ihm ist und ihn stützt, und weil die Herrlichkeit vor ihm steht.

Drittens wird der von Christus gestützte Christ einer, der Christus im Himmel darstellt. Indem wir auf den Herrn in der Herrlichkeit blicken, werden wir in dasselbe Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. Nur wenn wir auf Christus in der Herrlichkeit blicken, wird die Welt auf uns blicken können und an uns etwas von Christus sehen. So wird Stephanus Christus ähnlich – dem Einen, der in Seiner Erniedrigung der Gotteslästerung bezichtigt wurde, aber „vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt hat“, und „der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte“ (1. Tim 6,13; 1. Pet 2,23). Mit den Augen unverwandt auf den Herrn gerichtet, folgt Stephanus den Fußstapfen seines Herrn. Als er gescholten wird, wehrt er sich nicht, und als er leidet, spricht er keine Drohung aus. Kein böser Gedanke kommt in seinem Herzen auf, kein finsterer Blick verunziert sein Gesicht, kein bitteres Wort kommt über seine Lippen. So wird Stephanus, indem er auf den Herrn blickt, in Sein Bild verwandelt und betet, wie der Herr, für seine Feinde und übergibt dem Herrn seinen Geist. So stellt der Mensch auf der Erde den Menschen in der Herrlichkeit dar. Er blickt unverwandt zum Himmel und sieht Jesus in der Herrlichkeit, und die Welt sieht unverwandt auf Stephanus und sieht Jesus in Stephanus.

Zuletzt sehen wir, dass der Christ, wenn Er Christus dargestellt und seinen Lauf vollendet hat, einer ist, der abscheidet, um bei Christus im Himmel zu sein. So entschläft Stephanus, und sein Geist wird von Christus in der Herrlichkeit aufgenommen. Der Weg der Leiden für Christus führt zur Herrlichkeit mit Christus.

So sehen wir in Stephanus eine schöne Darstellung von wahrem Christentum nach den Gedanken des Herrn. Wir sehen, dass ein Gläubiger, der mit dem Heiligen Geist erfüllt ist, die Worte des Herrn verwirklichen wird: „Wenn jemand mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf täglich und folge mir nach.“ Völlig mit Christus beschäftigt wird ein solcher wie Stephanus sich selbst verleugnen, sich nicht bemühen, sein Leben hier zu schonen, und wird Christus in die Herrlichkeit folgen. Er schaut auf Christus in der Herrlichkeit; indem er auf Christus schaut, wird er von Christus in der Herrlichkeit gestützt; gestützt von Christus, wird er zu einem Abbild von Christus in der Herrlichkeit; und nachdem er seinen Lauf vollendet hat, scheidet er ab, um bei Christus in der Herrlichkeit zu sein.

H. Smith

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2008, Heft 9, Seite 258

Bibelstellen: Apg 6; Apg 7

Stichwörter: Stephanus