Der hebräische Knecht

(2. Mose 21,2-6)

Die Gebote des Gesetzes vom Sinai lassen sich in drei Gruppen einteilen: den sittlichen, den zeremoniellen und den sozialen Teil. Die erste Gruppe enthält die moralischen Anforderungen Gottes an die Israeliten, die Zeremonialgesetze regelten ihren Gottesdienst und alles, was damit zusammenhing, und die Gebote der letzten Gruppe betreffen das menschliche Zusammenleben im irdischen Volk Gottes. Im Wesentlichen enthalten die zehn Gebote die sittlichen Anforderungen Gottes und das dritte Buch Mose die zeremoniellen Satzungen. Die meisten sozialen Gesetze finden wir in 2. Mose 21 bis 23. Dazu gehört auch die Vorschrift über den hebräischen Knecht.

Das Neue Testament belehrt uns, dass die Anordnungen des Gesetzes „ein Schatten der zukünftigen Dinge sind“, dass aber der Körper, der den Schatten wirft, „des Christus ist“ (Kol 2,16.17; Heb 10,1). Das Gesetz galt zwar nur für Israel, aber die Gebote enthalten viele wertvolle geistliche Belehrungen, weil darin Vorbilder auf die christliche Wahrheit zu finden sind.

In 2. Mose 21,2-6 ist von einem Israeliten die Rede, der verarmt ist und als Sklave verkauft werden muss. Ein Beispiel dafür finden wir in 2. Könige 4, wo eine Witwe Elisa anfleht, weil ein Gläubiger ihre beiden Söhne als Sklaven fordert, da sie ihre Schulden nicht bezahlen kann. Aber Gott hilft ihr in wunderbarer Weise. Wenn ein solcher Knecht seinem Herrn sechs Jahre gedient hatte, durfte er im siebten Jahr frei ausgehen. War er allein gekommen, ging er allein zurück, hatte er bereits vorher eine Frau, nahm er sie wieder mit. Wenn aber sein Herr ihm während dieser Jahre eine Frau gegeben und sie ihm Kinder geboren hatte, blieben die Frau und die Kinder das Eigentum des Herrn. Brachte aber der Knecht es nicht übers Herz, seinen Herrn und die Seinen zu verlassen, dann konnte er bleiben – jedoch um den Preis eines lebenslangen Dienstes. Zum Zeichen dessen wurde sein Ohr an der Tür des Hauses durchbohrt.

Diese Anordnung weckt unser besonderes Interesse, weil sie ein zu Herzen gehendes Vorbild auf unseren Herrn Jesus enthält. Er ist der wahre „hebräische Knecht“. Schon im Alten Testament wird Er der „Knecht des Herrn“ genannt, Jahrhunderte bevor Er durch Seine Menschwerdung „Knechtsgestalt“ annahm (Jes 42,1; 49,3-6; 52,13; 53,11). In Philipper 2,6-8 wird von Ihm gesagt, dass Er, „da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist, und, in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz.“

Wenn ein Israelit verarmte, war er meistens selbst daran schuld, hatte Gott doch jeder Familie ein festes Erbteil im Land Kanaan zuweisen lassen. Aber der Sohn Gottes war reich und ist unsertwegen arm geworden, damit wir durch Seine Armut reich würden (2. Kor 8,9)! Er, der Gott war, wurde Mensch, Er, der Schöpfer, nahm freiwillig den Platz eines Geschöpfes ein! Von der höchsten Herrlichkeit stieg Er in die tiefste Schmach, das furchtbarste Leiden hinab. Doch Er nahm diesen Platz der Erniedrigung ein, ohne je aufzuhören, Gott zu sein. Nie sollten wir unsere Bewunderung und Anbetung für die freiwillige Erniedrigung unseres Erlösers verlieren, der sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm!

Freiwilliger Dienst

Als der Herr Jesus auf die Erde kam, nahm Er Seinen Platz als der wahre hebräische Knecht buchstäblich ein. Er wurde nicht nur von einer Frau geboren, sondern auch „geboren unter Gesetz“ (Gal 4,4). Er war „dem Fleisch nach“ ein Angehöriger des irdischen Volkes Gottes, obwohl er „über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit“ (Röm 9,5). Dadurch erfüllte Er alle alttestamentlichen Verheißungen, denn „das Heil ist aus den Juden“ (Joh 4,22). Er stellte sich damit auch freiwillig unter das Gesetz, das Er selbst als der „Jehova“ des Alten Testaments gegeben hatte.

Im Gegensatz zum hebräischen Knecht in unserer Verordnung nahm der Herr Jesus Seinen Platz jedoch vollkommen freiwillig ein. Er sagte: „Siehe, ich komme; in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben. Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust“
(Ps 40,8.9; Heb 10,7). Freiwillig „erniedrigte Er sich selbst, indem er gehorsam wurde bis zum Tod“. Er diente nicht nur Seinem Gott und Vater in vollkommener Hingabe, wie die Worte beweisen: „Denn ich bin vom Himmel herabgekommen, nicht um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“ (Joh 6,38). Und indem Er Gott diente, war Er auch inmitten der Menschen „wie der Dienende“ (Lk 22,27). Nur göttliche Liebe vermag einen solchen Weg zu gehen. Wahre Liebe erfreut sich daran, zu dienen, wogegen es der menschlichen Natur mehr gefällt, bedient zu werden.

Der Herr Jesus hat Seinen Dienst als Knecht Gottes vollkommen erfüllt. Sechs ist in Gottes Wort die Zahl des Menschen und seines Wirkens – allerdings meistens in negativer Weise gesehen (vgl. Off 13,18). Alle Menschen haben in ihrer Verantwortung gegenüber Gott versagt, nur Einer nicht: der wahre Knecht Gottes. Er ist dazu herabgekommen, Gott gerade in der Umgebung zu gehorchen und Ihn zu ehren, wo Er so verachtet wird. Alle Forderungen Gottes an den Menschen hat Er als Einziger vollkommen erfüllt, auch das Gesetz. Der Herr Jesus ist der einzige Mensch, der der Verantwortung, die der Mensch vor Gott trägt, in allen Einzelheiten völlig entsprochen hat.

Da Er ohne jede Sünde war, unterlag Er als Einziger nicht dem Todesurteil, denn der Tod ist der Lohn der Sünde (Röm 6,23). Er hätte aufgrund Seines vollkommenen Lebens in Gehorsam und Sündlosigkeit zu Gott zurückkehren – frei ausgehen – können. Kommt das nicht andeutungsweise auf dem Berg der Verklärung zum Ausdruck? Dort stand der vollkommene Diener mit Mose und Elia, die in Herrlichkeit aus dem Himmel erschienen und sich mit Ihm über Seinen Weg zum Kreuz und Sein Erlösungswerk unterredeten. In die Wolke der Herrlichkeit Gottes traten zwar der Herr und die beiden Propheten ein, nicht aber die drei Jünger, die als Augenzeugen dabeistanden. Nur Christus konnte von der Erde geradewegs in die Herrlichkeit eintreten, denn Er hatte alle Anforderungen Gottes an den Menschen in vollkommener Weise erfüllt und Gott dadurch völlig verherrlicht. Er war der einzige Mensch, an dem Gott Wohlgefallen haben konnte. Die Jünger hingegen standen außerhalb. Für sie gab es keinen Zugang zur Herrlichkeit, solange das Erlösungswerk nicht vollbracht war. Von Furcht erfüllt, als sie ihren Herrn mit Mose und Elia in die Wolke eintreten sahen, hörten sie aus der Wolke die Stimme des Vaters: „Dieser ist mein geliebter Sohn“ (Lk 9,35).

Völlige Hingabe

Doch wenn der Herr die Möglichkeit gewählt hätte, „frei auszugehen“, wäre Er allein geblieben. Das hätte weder dem Ratschluss Gottes noch Seiner eigenen Liebe entsprochen. Deshalb sagte Er im Bild unserer Verordnung: „Ich will nicht frei ausgehen.“ Wie der hebräische Knecht seinen Herrn, seine Frau und seine Kinder liebte, so liebte unser Herr Seinen Vater, Seine Versammlung und alle, die Er erlösen würde. In Johannes 14,31 sagt Er selbst: „Aber damit die Welt erkenne, dass ich den Vater liebe und so tue, wie mir der Vater geboten hat.“ Paulus schreibt von der Liebe des Christus, „der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“, und von Seiner Liebe zur Versammlung, für die Er sich ebenfalls hingegeben hat (Eph 5,2.25).

Unser Herr ist nicht nur gekommen, um zu dienen, sondern auch, um Sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben (Mt 20,28). Er wusste und verkündigte: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht“ (Joh 12,24). Nur durch Seinen Tod und Seine Auferstehung konnte es eine Verbindung, eine Gemeinschaft, zwischen Menschen und Gott geben.

„So soll sein Herr ihn vor die Richter bringen und ihn an die Tür oder an den Pfosten stellen, und sein Herr soll ihm das Ohr mit einem Pfriem durchbohren; und er soll ihm dienen auf ewig.“ Das Ohr ist nicht nur das Organ des Hörens, sondern auch das Symbol des Gehorsams. In Psalm 40,7 weisen die Worte „Ohren hast du mir bereitet [oder: gegraben]“ auf die Menschwerdung des Sohnes hin (vgl. Heb 10,5). In Jesaja 50,5 spricht das „geöffnete Ohr“ des Knechtes des Herrn vom Gehorsam, den Er in Seinem Erdenleben an dem, was Er litt, lernte (Heb 5,8), und hier ist das „durchbohrte Ohr“ das Bild Seines Gehorsams bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz. Was für einen Gehorsam, welche Hingabe legte unser Herr an den Tag! Er war nicht nur äußerlich gehorsam, sondern im Herzen. Er war nicht gekommen, seinen eigenen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der Ihn gesandt hatte, und es war Seine Speise, den Willen dessen zu tun, der Ihn gesandt hatte (Joh 4,34; 6,38). Wie das durchbohrte Ohr des hebräischen Knechtes sein Leben lang Zeugnis von seiner Liebe zu seinem Herrn, seiner Frau und seinen Kindern ablegte, so wird noch in der ewigen Herrlichkeit unser Erlöser als das „Lamm wie geschlachtet“ inmitten des Thrones Gottes den Mittelpunkt Seiner Erlösten bilden (Off 5,6)! Ja, das für uns geschlachtete „Lamm“ wird der ewige Gegenstand aller Anbetung sein.

„Dienen auf ewig“

Das Durchbohren des Ohres an der Tür des Hauses ist ein Bild der völligen Hingabe unseres Herrn an Seinen Gott und Vater und Seiner Liebe zu den Seinen. Es ist Sein Tod am Kreuz. Damit war die erste Periode Seines Dienstes beendet, und es begann ein neuer, beständiger Dienst. „Er soll ihm dienen auf ewig.“

Wenn es sich um die Vollkommenheit des Erlösungswerkes handelt, lässt uns Gott sagen: „Er aber, nachdem er ein Schlachtopfer für Sünden dargebracht hat, hat sich auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes, fortan wartend, bis seine Feinde hingelegt sind als Schemel seiner Füße“, und diesem ein für alle Mal vollbrachten Werk ist nichts mehr hinzuzufügen, denn „mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (Heb 10,12-14). Gott ist völlig verherrlicht, und diejenigen, die an Christus und Sein Werk glauben, stehen heilig und untadelig in Ihm vor Gott. Hier ist keine einzige Frage mehr offen.

Schluss folgt A. Remmers

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2008, Heft 11, Seite 332

Bibelstellen: 2Mo 21, 2-6

Stichwörter: hebräischer Knecht