Unser alter Mensch

Im Neuen Testament begegnen uns die Begriffe der erste Mensch, der zweite Mensch, der alte Mensch und der neue Mensch. Damit verwandt sind Bezeichnungen wie der erste und der letzte Adam sowie der Irdische und der Himmlische. Bevor wir in die vorliegende Betrachtung eintreten, ist eine kurze Gegenüberstellung dieser Begriffe vielleicht nützlich.

Der „erste Mensch“ nahm seinen Anfang, als er im Garten Eden als Geschöpf aus der Hand Gottes hervorging. Genommen von Staub, wurde er durch die Schöpfermacht Gottes zu einer „lebendigen Seele“ (einem „beseelten“ Wesen, daher der gelegentliche Gebrauch des Wortes „seelisch“ für „natürlich“, z. B. 1. Kor 15,44). Es ist Adam als Haupt des Menschengeschlechts im geschöpflichen Sinn, zu dem wir auch als Gläubige immer noch gehören, weil wir bis zur Auferstehung bzw. Entrückung alle noch „das Bild dessen von Staub“ tragen (1. Kor 15,49).

Dem „ersten Menschen“ steht der „zweite Mensch“ gegenüber. Es ist Christus, der nicht wie Adam „von der Erde, von Staub“ ist, sondern „aus dem Himmel“. Er hat das Leben nicht empfangen, sondern „hat es in sich selbst“. Dieses ewige Leben teilt Er anderen mit, wie wir Adam das natürliche Leben verdanken, und „macht lebendig, welche er will“ (Joh 5,26.21). Wegen dieser Entsprechung wird Er auch „der letzte Adam“ genannt – der „letzte“ deshalb, weil Er die letzte, endgültige Antwort Gottes auf die Frage nach dem Leben ist.

Der „alte Mensch“ nahm seinen Anfang mit dem Sündenfall, als Adam das Recht verwirkte, in Eden zu bleiben. Auch darin ist er das Haupt des ganzen Menschengeschlechts, aber im geistlichen Sinn, als Haupt eines gefallenen Geschlechts. Und deshalb gehören wir als Gläubige nicht mehr dazu, denn wir haben den alten Menschen „ausgezogen“ und den neuen „angezogen“ (Kol 3,9.10). Dieser Glaubens-Akt war uns nur möglich, weil Gott am Kreuz durch Sein Gerichtsurteil ein für allemal mit dem alten Menschen abgerechnet hat. – An diesen Punkt knüpft unsere heutige Betrachtung an.

* * *

Wir wissen dieses, „dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, damit der Leib der Sünde abgetan sei, dass wir der Sünde nicht mehr dienen“ (Römer 6,6).

Der Tod Christi ist die großartige, alles überragende Tatsache, die das gesamte christliche Leben und Erleben beherrscht, und es ist eindrucksvoll, wie sehr das im Römerbrief in den Kapiteln 6, 7 und 8 zutage tritt. In Kapitel 6 gibt uns beispielsweise Vers 6 die feste Grundlage, auf der die ganze Lehre des Briefes ruht; dieser Vers trägt unsere Gedanken hin zum Kreuz Christi und zu dem, was Gott dort zustandegebracht hat.

Der Apostel zeigt auf, wie undenkbar es ist, dass der Gläubige in der Sünde verharren sollte, und er beruft sich auf das, was über die Taufe allgemein bekannt war, nämlich, dass sie „auf“ oder „in“ den Tod Christi ist (V. 4). Die Taufe trägt daher den Charakter eines Begräbnisses mit Ihm, und das birgt die zwingende Konsequenz in sich, dass unser ferneres Leben einer neuen Ordnung angehören soll: „… damit, so wie Christus aus den Toten auferweckt worden ist …, so auch wir in Neuheit des Lebens wandeln“ (V. 4).

In Vers 6 werden unsere Gedanken nicht mehr auf die Taufe gelenkt, sondern auf jenes unvergleichlich größere Geschehnis, auf das die Taufe hinweist. Die Verse 3 und 4 stellen uns die Taufe vor und das, was wir darüber wissen sollen. Vers 6 aber zeigt uns das Kreuz und was wir darüber wissen sollen. Hinter der Taufe steht das Kreuz – wenn man das so formulieren darf. Ohne Kreuz ist die Taufe nichts.

„Unser alter Mensch“ ist also mit Ihm gekreuzigt worden, damit „der Leib der Sünde“ abgetan sei und wir der Sünde nicht mehr dienen. Die Schwierigkeit dieses Verses liegt weitgehend in den beiden Ausdrücken, die hier in Anführungszeichen stehen. Was bedeuten sie?

Der Ausdruck „unser alter Mensch“ bezeichnet eine abstrakte (d. h. nicht gegenständliche) Vorstellung, denn wir können nicht auf irgendeinen bestimmten Menschen hinweisen, als ob er ein solcher wäre. Wir können nicht einmal auf Adam verweisen, obwohl all die Wesenszüge, die den „alten Menschen“ charakterisieren, genau jene sind, die zu Adam als einem gefallenen Geschöpf gehören und sich in der traurigen Geschichte seiner Nachkommen entfaltet haben.

Vergegenwärtigen wir uns aber gedanklich für einen Augenblick Adams Wesen und Veranlagungen, wie sie nicht nur bei ihm selbst, sondern auch in der gesamten Geschichte seiner Nachkommenschaft hervortreten, dann begegnet uns sogleich das „Verderben nach den betrügerischen Begierden“ (Eph 4,22). So bekommen wir eine gewisse Vorstellung davon, was der „alte Mensch“ in seinen moralischen Wesenszügen ist.

Unser Vers befasst sich jedoch nicht mit „dem alten Menschen“, sondern mit „unserem alten Menschen“ – ein wichtiger Unterschied. „Der alte Mensch“ ist etwas Verurteiltes; der Christ hat ihn „abgelegt“ (Eph 4,22),
d. h. seine Fähigkeiten und Wesenszüge verleugnet. Aber es ist „unser alter Mensch“, von dem gesagt wird, dass er mit Ihm mitgekreuzigt wurde (Römer 6,6).

Werfen wir einen kurzen Blick auf Römer 3, um das klarer aufzuzeigen. Dort heißt es zunächst: „Alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist“ (V. 22.23). Hier haben wir die breite und allgemeine Tragweite jener Gerechtigkeit, die sich auf die durch Christus bewirkte Sühnung gründet (V. 25). Aber dann lesen wir von der Erweisung der Gerechtigkeit Gottes in der jetzigen Zeit, „dass er gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesus ist“ (V. 26). Das ist die tatsächliche Wirkung der Anwendung jener Gerechtigkeit – streng begrenzt auf diejenigen, in denen der Glaube besteht, der sich das Werk Christi im stellvertretenden Sinn zu Eigen gemacht hat. Dafür ist Römer 4,25 ein Beispiel. Als Stellvertreter starb er für ‚unsere‘ Missetaten, also für die Missetaten von Gläubigen, und nicht für die Missetaten von jedermann.

Was nun in Römer 4,25 in Bezug auf Missetaten zutrifft, ist in Römer 6,6 ebenso zutreffend in Bezug auf das Wesen, aus dem die Missetaten herrühren. Es ist ebenso wenig „der alte Mensch“, der mit Christus gekreuzigt wurde, wie Er für jedermanns Missetaten hingegeben wurde. Wäre Er für jedermanns Missetaten hingegeben und wäre der „alte Mensch“ mit Ihm gekreuzigt worden, dann könnte ganz offensichtlich niemand zu Recht für seine Missetaten bestraft oder für das, was er ist, verurteilt werden. Mit anderen Worten, dann müssten wir logischerweise eine allgemeine Errettung behaupten.

Genau dasselbe wird in 2. Korinther 5,21 angesprochen, obwohl man hier häufig dazu neigt, beim Zitieren die beiden kleinen Wörter wegzulassen, die die Feststellung einschränken: „für uns“. Die Aussage lautet: „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht.“ Und wieder sagen wir: nicht „für jedermann“.

„Unser alter Mensch“ ist also unser Adamswesen, wie es sich in seinen moralischen Wesenszügen zeigt (in allem, was wir als Kinder Adams waren) – und das ist mit Christus gekreuzigt worden. Das Gerichtsurteil darüber ist von Ihm getragen worden, so wahrhaftig, dass wir mit allem, was wir waren, in der großen Gerichtshandlung des Kreuzes ebenfalls gestorben sind. Deshalb greift der Apostel in Vers 8 genau diesen Ausdruck auf und benutzt ihn als Grundlage für eine weitere Schlussfolgerung: „Wenn wir aber mit Christus gestorben sind …“ usw. Nicht die Welt ist mit Christus gestorben, sondern wir sind es.

Aus all dem folgt, dass der „Leib der Sünde“ abgetan ist (V. 6) – ein weiterer abstrakter Gedanke. Kolosser 2,11 liefert uns eine ähnliche Formulierung. Dort wird vom „Ausziehen des Leibes des Fleisches“ gesprochen. In beiden Abschnitten scheint das Wort „Leib“ sinngemäß das Ganze darzustellen, im Gegensatz zu Teilen oder Bruchstücken. Zum Beispiel verglich Amos die Rettung eines Teils von Israel mit einem Hirten, der aus dem Maul eines Löwen „zwei Beine oder einen Ohrzipfel“ (Am 3,12) rettet; es wurden also nur Bruchteile gerettet. Gott aber hat sich nicht teilweise oder bruchstückartig mit der Sünde befasst. Sein Ziel bestand nicht einfach darin, gewisse hässliche Wesenszüge der Sünde zu tilgen, sondern ihren gesamten „Leib“. Und das tat Er, indem Er unseren alten Menschen – alles, was wir als Kinder Adams waren – zur Kreuzigung, einem Tod in Schande, brachte.

Dieser große Gerichtsakt und das Urteil des Kreuzes entscheidet alles. Er bedeutet für den Gläubigen die Freiheit, hinfort nicht mehr der Sünde zu dienen. Im Wissen um das, was das Kreuz bewirkt hat, hält er dafür, dass er der Sünde tot ist (V. 11) und stellt sich und seine Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit dar (V. 13). Das neue Leben des Gläubigen ist ein Leben des Gehorsams, denn das ist mit dem Ausdruck „sich darstellen“ gemeint.

F. B. Hole

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2008, Heft 3, Seite 72

Bibelstellen: Rö 6, 6

Stichwörter: alter Mensch