Dies ist das ewige Leben

Liebe – Merkmal der Kinder Gottes

1. Johannes 3,11-23

(Fortsetzung von Seite 383, 2008)

Leben oder Tod?

Der Apostel sprach soeben von der Welt und ihrem Hass. Jetzt zeigt er den großen Gegensatz zum wahren Christentum auf. Und wieder beginnt er mit dem uns schon bekannten „Wir wissen“:

„Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben“ (1. Joh 3,14a).

Wir, die Brüder, wissen (bewusst), dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind. Die griechische Präposition (Verhältniswort) „ek“ (= aus) bedeutet nicht „von – her“, sondern „aus – heraus“; das heißt, sie bezeichnet nicht einen Ort, von dem man herkommt, sondern einen Zustand, den man verlässt. Wir sind also durch die Gnade Gottes aus dem Zustand des geistlichen Todes in den Zustand des geistlichen, des ewigen Lebens hinübergegangen. Das Verb „hinübergegangen“ steht in der Perfekt-Form und besagt, dass wir aus dem alten Zustand ein für alle Mal befreit worden sind und nun in den neuen Zustand gelangt sind und darin bleiben. „Aus dem Tod in das Leben hinübergegangen“ – das ist eine tiefgründige Beschreibung dessen, was wir bei unserer Bekehrung erlebt haben, als wir als geistlich Tote in geistlicher Hinsicht lebendig gemacht wurden. Zugleich ist es eine schöne Erklärung dafür, was es heißt, „aus Gott geboren“ zu sein.

In Johannes 5,24 begegnet uns derselbe Ausdruck „aus dem Tod in das Leben übergegangen“. Dort handelt es sich allerdings um eine Verheißung, mit der sich der Herr Jesus an Sünder wendet, während unsere Stelle Kinder Gottes im Auge hat, die durch den Glauben bereits in die Segnung gelangt sind.

Woher wissen wir nun, dass sich in uns dieser gewaltige Zustandswechsel vollzogen hat? Ganz schlicht deswegen, „weil wir die Brüder lieben“. Das ist in der Tat eine interessante Begründung! Es wird nicht gesagt:
„… weil die Schrift uns das zeigt“, oder: „… weil Christus für uns gestorben ist“. Das würde unbedingt auch der Wahrheit entsprechen. Doch als Grund wird eine innere Empfindung in uns genannt, die wir „den Brüdern“ gegenüber haben: Wir lieben sie.

Der Anlass für diese besondere Art der Beweisführung ist, dass der Apostel einen weiteren „Test“ mit Blick auf christliche Bekenner anstellen will. Deswegen macht er deutlich, wie sich – neben anderen Kennzeichen – das neue Leben im Gläubigen offenbart: durch die Bruderliebe. Die deutlichste Tätigkeit des geistlichen Lebens in uns ist, dass wir die lieben, die eins mit uns sind, die geistlicherweise unsere Brüder sind.

Und so heißt es: „die Brüder“, nicht: „gewisse, liebe Brüder“, durch die wir viel Nutzen oder Segen hatten. Das gibt es natürlich, und die Heilige Schrift lässt auch dafür Raum. Hatte nicht auch der Herr Jesus zu bestimmten Jüngern besondere Zuneigungen? Aber worum es hier geht, wenn gesagt wird: „… weil wir die Brüder lieben“, das ist doch die grundsätzliche Liebe zu den Brüdern, zu den Brüdern als solchen – unabhängig davon, ob sie viel oder wenig von Christus offenbaren.

Ich entsinne mich eines kleinen Mädchens von etwa fünf oder sechs Jahren, das eine bestimmte „Tante G.“, die sie von den Zusammenkünften her kannte, alles andere als liebte und sie, wo immer möglich, mied. Diese ältere Schwester im Herrn wurde wohl nicht nur von den Kindern als etwas unnahbar oder kühl angesehen. Sie konnte ihre Liebe nicht so zeigen wie andere. Aber eines Tages bekehrte sich das Mädchen zum Herrn Jesus. Manche bezweifelten, ob man sich schon in so jungen Jahren bekehren kann, oder ob die Bekehrung echt sei. Doch alle Zweifel schmolzen dahin, als man sie bei der nächsten Zusammenkunft gerade zu jener „Tante“ laufen und sie dann an ihrem Hals hängen sah: „Tante G., jetzt habe auch ich den Heiland!“

Ja, weil wir die Brüder lieben, wissen wir, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind. Vielen Kindern Gottes, unter ihnen auch dem Verfasser, ist dieses Indiz (Anzeichen) zum tiefen Trost geworden, und es hat sie in ihrer Glaubensgewissheit gestärkt. Und selbst in solchen Fällen, wo man im Leben des einen oder anderen Menschen nicht viel vom Glauben hat erblicken können, hat die Tatsache, dass irgendwie doch Liebe zu den Brüdern vorhanden war, dennoch Klarheit verschafft und die Herzen nicht wenig getröstet.

Aber jetzt kommt der „Test“:

„Wer den Bruder nicht liebt (wörtlich: Der den Bruder nicht Liebende), bleibt in dem Tod“ (V. 14b).

Wieder stellt der Apostel den Menschen auf den Boden seines Bekenntnisses, und wer in dieser Hinsicht seinen Bruder grundsätzlich nicht liebt, beweist nur, dass er selbst nie einer war: Er bleibt in dem Tod. Er ist nicht nur geistlich tot (Eph 2,1.5), sondern er bleibt – was immer sein Bekenntnis sein mag – in diesem beklagenswerten Zustand. Das Fehlen der Bruderliebe ist ein Kennzeichen des geistlichen Todes.

Wir hatten vorher gehört: „Wer da sagt, dass er in dem Licht sei, und hasst seinen Bruder, ist in der Finsternis bis jetzt“ (Kap. 2,9). Und hier: „… bleibt in dem Tod.“ Finsternis und Hass und Tod gehen miteinander, so wie auch Licht und Liebe und Leben stets miteinander bestehen. Wo allein eine von den drei göttlichen Tugenden fehlt, sind auch die anderen nicht wahr. Und wo statt Liebe Hass ist, sind auch unweigerlich die unheilvollen Begleiter vorhanden: geistliche Finsternis und geistlicher Tod. Was ist dein Teil, lieber Leser, das Leben oder – der Tod?

Menschenmörder

Was Johannes zur Vertiefung des Gesagten anfügt, mag viele von uns überraschen oder uns zu hart vorkommen. Doch es ist die Wahrheit.

„Jeder, der seinen Bruder hasst (wörtlich: Jeder seinen Bruder Hassende), ist ein Menschenmörder, und ihr wisst, dass kein Menschenmörder ewiges Leben in sich bleibend hat“ (1. Joh 3,15).

Der Apostel geht hier auf den Grund der Dinge. Wie die Liebe die Tätigkeit und der Beweis des ewigen Lebens ist, so ist Hass in geistlicher Hinsicht die Tätigkeit des Todes – es ist Mord. Dieselbe Sache, die die Sünde des Mordes hervorruft, ist es auch, die jemand seinen Bruder hassen lässt. Es mag nicht bis zum Äußersten gekommen sein, aber es ist dieselbe Sache, die Tätigkeit des Todes. Wenn die Welt die Kinder Gottes hasst, so offenbart sie damit ihre Kains-Natur. Ob tatsächlich Blut vergossen wird oder nicht, macht im Prinzip keinen Unterschied (vgl. Mt 5,22). Gott handelt im Christentum mit dem Inneren, nicht nur mit dem Äußeren. So nennt der Herr den einen Ehebrecher, der der Begierde nach einer Frau auch nur mit den Augen nachgibt: In seinem Herzen hat er bereits Ehebruch mit ihr begangen (Mt 5,28). Und wer seinen Bruder hasst, ist ein potenzieller (möglicher) Mörder, ist der Anlage oder dem Geist nach ein Menschenmörder. Das ist nicht nur in einem sittlichen, geistlichen Sinn zu verstehen, sondern auch buchstäblich, physisch. Doch selbst wenn die letzte Tat nicht ausgeführt wird, so ist doch der Beweggrund dafür vorhanden, und der Herr beurteilt Beweggründe.

„Menschenmörder“ ist genau das Wort, das der Herr Jesus im Blick auf den Teufel benutzt (Joh 8,44). Letzten Endes bezieht es sich auf alle Kinder des Teufels (1. Joh 3,10b) und schließt besonders die mit ein, die als Antichristen „von uns ausgegangen“ sind (Kap. 2,19). Johannes hatte vor dem Lügner gewarnt (Kap. 2,22), und jetzt warnt er vor dem Menschenmörder. Auch der Herr hatte den Teufel in einem Atemzug Menschenmörder und Lügner genannt. Was für eine schreckliche Verwandtschaft zwischen dem Teufel und den von ihm Verführten! Dass das doch alle die bedächten, die abschätzig vom Herrn Jesus sprechen und die Seinen hassen!

„… und ihr wisst, dass kein Menschenmörder (wörtlich: jeder Menschenmörder nicht) ewiges Leben in sich bleibend hat (Kap. 3,15b).

Hier wird der, der physisches Leben zerstört (Menschenmörder), in Gegensatz gesetzt zu dem, der geistliches Leben besitzt (Kind Gottes). Von Ersterem wird gesagt, dass er nicht ewiges Leben bleibend in sich hat. Diese Wendung drückt in keiner Weise einen möglichen Verlust des ewigen Lebens aus, als hätte diese Person einmal das ewige Leben besessen, es aber dann durch Sünde verloren. Solch einen Gedanken kennt die Heilige Schrift nicht, und auch hier wird so etwas nicht gesagt. Rein textlich gesehen würde solch eine Deutung das „bleiben“ über alle Gebühr betonen.

Es wird vielmehr eine Parallele zum Ende von Vers 14 gezogen: Der Menschenmörder – derjenige also, der „den Bruder nicht liebt“ – hat kein ewiges Leben als bleibenden Besitz, sondern „bleibt in dem Tod“. Er war noch nie woanders, und dort bleibt er, wenn er sich nicht noch von der Gnade Gottes finden lässt.

Noch ist Gnadenzeit, noch steht die Tür der Gnade Gottes jedem Sünder offen, und selbst ein Menschenmörder kann heute noch Vergebung finden. Sollte er aber in seinen Sünden sterben und unversöhnt in die Ewigkeit gehen, wird sein Teil in dem See sein, der mit Feuer und Schwefel brennt, welches der zweite Tod ist (Off 21,8).

Die Liebe Christi – Maßstab für unsere Liebe

Wir sind im Vorhergehenden ermahnt worden, einander zu lieben. Obwohl die Liebe zu den Brüdern ein wesentliches Merkmal des göttlichen Lebens ist – und somit in jedem wahren Kind Gottes vorhanden ist -, so haben wir es dennoch nötig, zu ihrer Ausübung ermahnt zu werden.

Es ist ja verhältnismäßig leicht, einen geistlich gesinnten Christen zu lieben, jemand zu lieben, der in der Gnade gewachsen ist und in den verschiedenen Situationen die Züge des göttlichen Lebens offenbart. Indes fällt es uns erheblich schwerer, ein Kind Gottes zu lieben, das noch fleischlich ist und mancherlei Grillen und Wunderlichkeiten an sich hat, um nicht von offenbar Bösem zu reden. Wie sehr nahe liegt es uns, solche zu verachten oder gering zu schätzen. Doch davor müssen wir auf der Hut sein. Nicht, dass wir die Ungezogenheiten unserer Brüder lieben sollen. Gott liebt sie auch nicht. Aber die Bruderliebe muss „bleiben“ (Heb 13,1). Seien wir versichert, Gott wird es zulassen, dass unsere Liebe zu den Brüdern auf die Probe gestellt wird.

Wir haben im Verlauf der Betrachtung dieses Briefes wiederholt gesehen, dass das ewige Leben in dem Gläubigen nicht autark, nicht selbstständig ist. Es bedarf der Speisung und Leitung durch Gottes Wort, ja durch Christus selbst, der die Quelle des Lebens ist. So verhält es sich auch mit der Liebe. Wenn wir Kraft gewinnen wollen, den Bruder trotz seiner Fehler zu lieben, dann müssen wir von uns und auch von dem Bruder weg- und hin auf Christus schauen. Dort allein sehen wir, was wahre Liebe ist. Und dorthin lenkt der Apostel jetzt unseren Blick.

„Hieran haben wir die Liebe erkannt, dass er für uns sein Leben hingegeben hat; auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben“ (1. Joh 3,16).

„Hieran“ (oder wörtlich: „In diesem“) bezieht sich auf die nachfolgende Feststellung: „In diesem haben wir die Liebe erkannt, dass …“ Hier steht jetzt nicht das Wort für bewusstes, inneres Wissen (oída), sondern „ginósko“. Dieses griechische Wort bezeichnet ein Kennenlernen durch persönliche Erfahrung und Beziehung (siehe zu 1. Joh 2,3 unter „Eine textliche Besonderheit > Kennen – wissen). Und da es im Perfekt steht, können wir übersetzen: „Wir haben die Kenntnis darüber erlangt und wissen es jetzt.“ Worauf erstreckt sich nun dieses Kennen, dieses Wissen? Auf „die Liebe“. Nicht auf Liebe im Allgemeinen, sondern auf „die Liebe“ im Besonderen. Das mag sich durchaus auf die Liebe Gottes beziehen, obwohl es nicht direkt gesagt wird. Aber dies ist der große und unwiderlegbare Beweis der Liebe (Gottes), dass Er (Christus) für uns Sein Leben hingegeben hat. Hierin fand sie ihren höchsten und kostbarsten Ausdruck.

Ehe wir uns mit diesem segensreichen Gegenstand weiter beschäftigen, müssen wir noch kurz auf das hier gebrauchte Wort für „Leben“ eingehen.

(Wird fortgesetzt) Ch. Briem

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2009, Heft 1, Seite 24

Bibelstellen: 1Joh 3, 14-16