Der „Löwe“ aus dem Stamm Juda

(Offenbarung 5,5)

Dem Seher Johannes, diesem „Jünger, den Jesus liebte“, war es vergönnt, im Rahmen seiner Gesichte der „Offenbarung Jesu Christi“ einen Blick in den Himmel zu tun.

Zuvor schon hatte er seinen Herrn, an dessen Brust er sich einst vertrauensvoll gelehnt hatte, in Seiner richterlichen Herrlichkeit gesehen – ein Gegensatz, wie er größer wohl nicht vorstellbar ist. Die Schilderung in Offenbarung 1,12-16 gipfelt in der Aussage, dass „sein Angesicht war, wie die Sonne leuchtet in ihrer Kraft“. Der Anblick hatte Johannes buchstäblich zu Boden geworfen. Aber die Berührung der Hand des Herrn und das vertraute „Fürchte dich nicht“ aus Seinem Mund (vgl. Mt 17,6.7) richteten ihn wieder auf und riefen ihm ins Bewusstsein, dass sein Herr immer noch derselbe war.

Doch diese Überraschung sollte nicht die einzige bleiben in dem an Kontrasten so reichen Buch der Offenbarung. Nach Niederschrift der Kirchengeschichte Gottes – wenn wir die Briefe an die sieben Versammlungen einmal so nennen wollen – wird Johannes aufgefordert: „Komm hier herauf.“ Er sieht „im Geist“ eine eindrucksvolle Schau des Thrones Gottes und „den, der darauf saß“, umgeben von himmlischen Würdenträgern. In der Rechten „dessen, der auf dem Thron saß“, sieht Johannes eine von beiden Seiten beschriebene Buchrolle. Noch ist sie mit sieben Siegeln versiegelt, und „ein starker Engel“ ruft „mit lauter Stimme“ aus: „Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu brechen?“ Es zeigt sich, dass niemand im Himmel noch auf der Erde, noch unter der Erde „vermochte das Buch zu öffnen noch es anzublicken“ (Off 5,3). Die Gegenüberstellung „wer – niemand“ zeigt, dass es hier um eine Person geht und nicht um eine Machtentfaltung Gottes, die Ihm ja jederzeit möglich ist (Hiob 42,2).

Da bricht Johannes in Tränen aus: „Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch zu öffnen noch es anzublicken“ (V. 4). Beachten wir den Ausdruck „würdig“: Der Vollstrecker der Absichten Gottes musste nicht nur stark, imstande sein, „vermögen“, das Buch zu öffnen; das betrifft seine Fähigkeiten. Er musste auch dazu „würdig“, dessen wert geachtet sein, sich dafür verdient gemacht haben; und das betrifft seine Person.

Ein tiefes Empfinden für die Rat- und Hilflosigkeit des Menschengeschlechts steht sicher hinter den Tränen von Johannes. Aber vielleicht ist ein noch höherer, edlerer Beweggrund die Beschämung darüber, dass unter allen geschaffenen Wesen keines diesen Anspruch Gottes erfüllen kann – auch unter denen, die nicht gesündigt haben. Aber Johannes wird getröstet. Durch einen der Ältesten ergeht an ihn die Botschaft: „Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe, der aus dem Stamm Juda ist, die Wurzel Davids, das Buch zu öffnen und seine sieben Siegel“ (V. 5). Es ist kein Engel, der ihm diesen Trost spendet, sondern einer der Ältesten, der himmlischen Heiligen, insofern also einer seinesgleichen. Eigentlich rührend!

Wie so oft im Buch der Offenbarung, haben wir hier einen Bezug auf das Alte Testament. Der Gedanke an den Löwen entstammt dem Segen Jakobs über Juda. In der Person Davids hat er eine erste Erfüllung gefunden, und es wird auch bereits auf einen Kommenden hingewiesen, den eigentlichen Erfüller, auf den es ankommt (1. Mo 49,9.10). Er begegnet uns hier: Als „Löwe“ hat Er „überwunden“; darum ist Er würdig. Es ist nicht der wesensmäßige Vorrang Christi als Sohn Gottes, sondern eine erworbene Würde aufgrund Seines Überwindertums, auf die es hier ankommt.

Doch nun tritt der „Löwe“ vor uns; und was sehen wir? Ein Lamm! Es steht da „wie geschlachtet“; es liegt nicht tot da, sondern es steht, trägt aber die Merkmale der Schlachtung (als Opfertier) an sich. Und noch dazu hat es sieben Hörner und sieben Augen – was die übernatürliche Bedeutung des Ganzen unterstreicht. Wir lesen nichts von einem Erstaunen des Sehers; um seine Empfindungen geht es jetzt nicht. Als getreues Werkzeug des Heiligen Geistes berichtet er, was er sah. Immer wieder begegnet uns in der Folge dieses „Ich sah“ bzw. „hörte“.

Das Werk eines „Löwen“, ausgeführt durch ein „Lamm“. Das ist „Gottes Weisheit in einem Geheimnis, die verborgene, die Gott vor den Zeitaltern zu unserer Herrlichkeit zuvor bestimmt hat …“; so drückt sich der Apostel Paulus aus, wenn auch in einem anderen Zusammenhang (1. Kor 2,7). Diese Art Weisheit können die Großen dieser Welt nicht nachvollziehen – und auch wir nicht.

„Ich habe die Welt überwunden“, so konnte der Herr Seinen Jüngern sagen, noch bevor Er ans Kreuz ging (Joh 16,33). Und doch ist Er dann „in Schwachheit gekreuzigt worden“ (2. Kor 13,4); das bedeutet kein Nachgeben, kein Schwach-Werden, sondern den Verzicht auf jedes eigene Wollen, und ist eigentlich die letzte Konsequenz des Gedankens „Dein Wille geschehe“, der den Herrn erfüllte.

Hatte der Herr nicht auch zu Paulus gesagt: „Meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht“? Paulus hat das gut verstanden, denn er wünschte, dass die Kraft Christi „über“ oder „bei“ ihm wohne – nicht „in“ ihm; dann wäre sie ja wieder aus ihm gekommen (2. Kor 12,9).

Werfen wir noch einen Blick auf die Anbeter bei der Szene in Offenbarung 5: Das Schönste und Kostbarste ist wohl das unvermittelte „DU“ im „neuen Lied“ der vier lebendigen Wesen und der himmlischen Heiligen (V. 9). Sie müssen nicht erklären, wen sie meinen, wie die Engel in Vers 11 oder die übrigen Geschöpfe in Vers 13; sie sagen einfach „Du“. Und sie wissen auch, warum Er würdig ist, der Vollstrecker der Absichten Gottes zu sein: „… denn du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft, durch dein Blut, [Menschen] aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation.“

Das ist auch unsere Sprache schon heute und wird es sein, wenn wir im Himmel um Ihn geschart sein werden.

E. E. Hücking

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2011, Heft 5, Seite 129

Bibelstellen: Offb 5, 5