Der Lobpreis Daniels

(Daniel 2,20-23)

Das zweite Kapitel des Buches Daniels enthält neben bemerkenswerten prophetischen Aussagen über die vier Weltreiche eine Reihe von praktischen Denkanstößen für unser Glaubensleben.

Daniel befand sich gemeinsam mit seinen Freunden in einer äußerst schwierigen und brisanten Situation: Alle Weisen von Babel – dazu gehörten auch sie – sollten umgebracht werden, weil niemand dem König Nebukadnezar seinen Traum und dessen Deutung mitteilen konnte. In seiner Not wandte Daniel sich mit seinen Freunden im Gebet an ihren Gott, um den Traum zu erfahren. Daniel erlebte das, was viele Gottesmänner erlebt haben: Gott antwortete zur rechten Zeit. Er tat es in einem Nachtgesicht und offenbarte Daniel den Traum Nebukadnezars und seine Deutung. Die Reaktion Daniels auf diese Offenbarung ist bemerkenswert. Es fällt auf, dass der Bibeltext nicht sagt, dass er zuerst zu seinen Freunden ging, die mit ihm gebetet hatten. Er ging auch nicht sofort zum König, um ihm das Geheimnis mitzuteilen. Nein, es gab für Daniel etwas, das ihm wichtiger war. Er nahm sich zuerst Zeit für einen außergewöhnlichen Lobpreis.

Der Psalmdichter Asaph hatte von Gott gelernt: „… rufe mich an am Tag der Bedrängnis: Ich will dich erretten, und du wirst mich verherrlichen!“ (Ps 50,15). Genau das war hier geschehen. In seiner großen Not hatte Daniel Gott sein Problem vorgelegt – und Gott gab ihm eine Antwort. Als Reaktion darauf verherrlicht Daniel seinen Gott.

Der Lobpreis Daniels ist nicht sehr lang und dennoch sehr inhaltsreich. Es ist einer der herausragenden Lobgesänge in der Bibel. Wir können ihn vergleichen mit dem Lied der Erlösung (2. Mo 15), mit dem Lobpreis von Hanna
(1. Sam 2), von Maria oder Zacharias (beide Lk 1). Die Parallelen sind augenscheinlich.

Daniels Lobpreis macht deutlich, dass er ein erstaunliches Verständnis über Gott hatte. Er kannte Ihn als den barmherzigen, gnädigen, weisen und allmächtigen Gott. Der Lobpreis zeigt, was in Daniels Herz war. Bemerkenswert ist, wie er seinen Gott anredet:

– Daniel sagt: „Gepriesen sei der Name Gottes“. Das ist der allmächtige Gott, der ihm das Geheimnis kundgetan hatte. Es war gleichzeitig der Gott Daniels, den er aus der Nähe kannte. Er wünschte, dass der Name dieses Gottes von Ewigkeit zu Ewigkeit gepriesen sei. Gott ist dieser Ehre würdig.

– Am Ende seines Gebets nennt Daniel ihn den „Gott meiner Väter“. Daniel erinnert sich an die Treue Gottes im Blick auf seine Vorväter. Diese hatten herrliche Erfahrungen mit ihrem Gott gemacht, und die gleichen Erfahrungen machte Daniel jetzt. Der „Gott seiner Väter“ hatte sich nicht geändert. „Auf dich vertrauten unsere Väter; sie vertrauten, und du errettetest sie“ (Ps 22,5).

Dieser junge Mann gab Gott den ersten und höchsten Platz und wird hier zu einem Anbeter. Das ist letztlich immer das Ziel, wenn Gott sich offenbart. Es geht nicht nur darum, dass wir uns freuen, wenn Gott uns rettet und uns hilft oder wir etwas von Ihm lernen. Es geht nicht nur darum, dass wir dankbar sind, weil Gott uns reichlich segnet. Das sollte unbedingt so sein. Aber über allem möchte Gott erreichen, dass wir uns vor Ihm niederbeugen und Ihn anbeten. Sicher ist das ein Punkt, der viel zu selten erreicht wird. Wir entsprechen zu wenig unserer Stellung als Anbeter vor Gott.

Aus dem Gebet Daniels sollen uns noch sechs Punkte beschäftigen:

1. „Weisheit und Macht, sie sind sein“. Es war Gottes Weisheit, die Daniel das Geheimnis offenbart hatte. Aber nicht nur das. Es war Seine Macht, die ihn vor dem Tod bewahren würde. Die auf den ersten Blick einfache Aussage geht sehr weit. Wenn wir Weisheit und Macht suchen, finden wir sie nur bei Gott. Wirkliche Erkenntnis ist sonst nirgendwo zu finden. Hiob sagt: „Bei ihm ist Weisheit und Macht, sein ist Rat und Einsicht“ (Hiob 12,13). Daniel war ein weiser Mann und Nebukadnezar war mächtig. Aber Gott verfügte über beides – und das in einem völlig anderen Maß als jeder Mensch. In dem Lobpreis des Lammes in Offenbarung 5 werden „Macht“ und „Weisheit“ ebenfalls miteinander verbunden. Sie gehören zu der Würde des Lammes Gottes (Off 5,12).

2. „Er ändert Zeiten und Zeitpunkte“. Gott ist ein Gott, der alle Geschehnisse auf der Erde souverän kontrolliert. Ihm läuft nichts aus dem Ruder. Er lässt Haushaltungen und Zeitperioden beginnen und ändert sie. Das erkennt Daniel an. Der Ausdruck „Zeiten und Zeitpunkte“ kommt im Neuen Testament noch zweimal vor (vgl. Apg 1,6-7; 1. Thes 5,1). Vergleicht man alle drei Stellen, erkennt man, dass es immer um Ereignisse geht, die mit dieser Erde in Verbindung stehen. Mit „Zeiten“ wird eine Zeitdauer oder Zeitlänge beschrieben. „Zeitpunkte“ nimmt Bezug auf gewisse Merkmale, die eine Zeitperiode kennzeichnet. Wir lernen für uns, dass wir nicht in einer Welt leben, die irgendwie und irgendwann außer Kontrolle geraten könnte. Nein, Gott wird mit Seinen Absichten ganz sicher zum Ziel kommen. Letztlich zielt alles in der Weltgeschichte auf den großen Augenblick ab, wenn der Herr Jesus in Seinem Reich herrschen wird.

3. „Er setzt Könige ab und ein“. Könige herrschen auf dieser Erde. Damals kamen sie vordergründig entweder durch Erbfolge an die Macht oder sie rissen sie gewaltsam an sich. Heute sind Regierungen häufig demokratisch legitimiert. Aber in Wirklichkeit ist es immer Gott, der Regierungen einsetzt. Das war damals so und das ist heute so. Gott hatte dafür gesorgt, dass es in Jerusalem keinen König mehr gab. Er hatte dafür gesorgt, dass Nebukadnezar Jerusalem zerstört hatte und in Babel regierte. Daniel anerkennt, dass dieser König Macht hat, aber er wusste gleichzeitig, dass er sie von Gott bekommen hatte. Als der Herr Jesus vor Pilatus, dem Repräsentanten des Römischen Reiches stand, sagte Er die bedeutungsvollen Worte: „Du hättest keinerlei Gewalt gegen mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre“ (Joh 19,11). Das gilt unverändert. Gott „kümmert“ sich nicht nur um die Dinge im Himmel, sondern ebenso um diese Erde. Er ist völlig souverän. Politisch Verantwortliche sind Werkzeuge in Seiner Hand. Das gibt uns Ruhe in der Unruhe der Zeit.

4. „Er gibt den Weisen Weisheit, und Verstand den Verständigen“: Dieser Punkt ist der Zentralpunkt in Daniels Lobpreis. Er unterstreicht die Bescheidenheit dieses Knechtes Gottes. Ihm war klar, dass Gott die einzige Quelle wirklicher Weisheit und Einsicht ist. Dieses Prinzip finden wir wiederholt in der Bibel. In den Sprüchen lesen wir: „Denn der HERR gibt Weisheit; aus seinem Mund kommen Erkenntnis und Verständnis“ (Spr 2,6). Ein Beispiel finden wir bei Bezaleel und Oholiab „in die der HERR Weisheit und Verstand gelegt hatte, damit sie alles Werk der Arbeit des Heiligtums zu machen wüssten“ (2. Mo 36,1). Weisheit und Verständnis sind nie etwas, auf das ein Mensch sich etwas einbilden könnte. Es fällt auf, dass Daniel sagt, dass Weise Weisheit bekommen und Verständige Verstand. Es gibt also zum einen die Seite unserer Verantwortung. Von nichts kommt nichts. Zum anderen sind Weisheit und (geistlicher) Verstand etwas, das nie zu einem Abschluss kommt, sondern im Gegenteil immer wachsen soll. „Denn wer hat, dem wird gegeben werden“ (Mk 4,25). Dabei wollen wir bedenken, dass Weisheit nicht mit Kenntnis verwechselt werden darf. Kenntnis allein bläht auf (1. Kor 8,1). Wahre Weisheit hingegen ist immer mit gutem Verhalten verbunden. Es geht nicht nur darum, etwas zu wissen, sondern es zu praktizieren. Göttliche Weisheit Gottes ist nie theoretisch oder intellektuell, sondern immer gleichzeitig praktisch.

Daniels Auge war einfältig. Deshalb hatte er Licht. Das ist das wahre Geheimnis von geistlichem Wachstum. Gott sagte Seinem irdischen Volk: „Siehe, ich habe euch Satzungen und Rechte gelehrt, … damit ihr so tut … Und so haltet sie und tut sie! Denn das wird eure Weisheit und euer Verstand sein vor den Augen der Völker, die alle diese Satzungen hören und sagen werden: Diese große Nation ist ein wahrhaft weises und verständiges Volk“ (5. Mo 4,5-6). Das zeigt uns die Voraussetzung und den Weg, um weise und verständnisvoll zu werden und macht zugleich klar, dass man göttliche Weisheit und geistliches Verständnis auf keiner Hochschule dieser Erde, sondern nur in der Schule Gottes lernen kann.

5. „Er offenbart das Tiefe und das Verborgene“. Daniel war sich bewusst, dass vor Gott nichts verborgen bleiben kann. Gott kannte die Gedanken und Empfindungen des Herzens von Nebukadnezar. Er wusste um seine Zukunftssorgen im Blick auf sein Reich. Was vor Menschen verborgen werden kann, ist vor Gott völlig aufgedeckt. „… kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern alles ist bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben“ (Heb 4,13). Er allein ist der allwissende Gott. Aber Gott ist nicht nur ein Gott, der das Tiefe und Verborgene kennt, sondern Er kann es – wenn es Ihm gefällt – offenbaren. „Das Verborgene ist des Herrn, unseres Gottes; aber das Offenbarte ist unser und unserer Kinder in Ewigkeit, damit wir alle Worte dieses Gesetzes tun“ (5. Mo 29,28). Gott hatte Daniel das Geheimnis offenbart, so dass er nun dem König den Traum sagen und seine Deutung geben konnte. Auch uns hat Gott gewaltige Dinge offenbart. Das Neue Testament spricht von verschiedenen Geheimnissen, die uns offenbart worden sind und an denen wir uns freuen können.

6. „Er weiß, was in der Finsternis ist, und bei ihm wohnt das Licht“. Das Neue Testament macht völlig klar, dass Gott Licht ist. Aber hier geht es darum, dass das, was für Nebukadnezar dunkel war (die Bedeutung des Traums) und Daniel bisher ebenfalls nicht bekannt war, für Gott kein Geheimnis war. Für Gott ist alles im Licht. Er sieht alle Dinge so, wie sie tatsächlich sind. Für Nebukadnezar blieben der Traum und seine Deutung so lange im Dunkeln, bis Daniel im Auftrag Gottes Licht hinein gab. Uns mag es oft scheinen, dass gewisse Ereignisse in unserem Leben im Dunkeln bleiben. Wir verstehen das Tun Gottes oft nicht. Dennoch bleibt diese Gewissheit, dass Gott alles sieht und beurteilt. Für Ihn sind alle Dinge im Licht.

Daniel hatte sein Gebet mit einem Lobpreis begonnen und so endet er auch. Ihm war bewusst, dass alles von dem Gott seiner Väter kam. Daniel suchte keine Anerkennung für sich, sondern gab alle Ehre seinem Gott. Bemerkenswert ist dabei, dass er seine Freunde in den Lobpreis einschließt, denn sie hatten mit ihm zu Gott gebetet. Er sagt: „Dich, Gott meiner Väter, lobe und rühme ich, dass du mir Weisheit und Kraft gegeben und mir jetzt kundgetan hast, was wir von dir erbeten haben; denn du hast uns die Sache des Königs kundgetan“ (V. 23). Das ist echte Demut. Daniel macht sich mit denen eins, die sich mit ihm eins gemacht hatten. Daniel wusste, dass er nicht allein war, obwohl er persönlich den Traum und seine Deutung empfangen hatte. Er war ein Teil des Überrestes und fühlte sich mit seinen drei Freunden eng verbunden. Wenn heute ein Gläubiger etwas vom Herrn empfängt, dann gehört es nicht unbedingt ihm allein. Er teilt es gern mit anderen.

Der Lobpreis Daniels trägt sehr deutlich Merkmale eines alttestamentlich Gläubigen. Wir beten heute anders als Daniel, weil wir Gott als den „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“ kennen. Die Kenntnis Gottes prägt immer die Art und Weise, wie wir mit Lob und Dank zu Ihm kommen. Dennoch enthält dieses alte Gebet wichtige Impulse, die bis heute ihre Bedeutung haben.

E.-A. Bremicker

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2014, Heft 5, Seite 139

Bibelstellen: Dan 2,20-23