Ich vermag nicht – ich vermag alles

„Ich vermag nicht“ (4. Mo 11,14). „Ich vermag alles“ (Phil 4,13). Diese beiden Aussagen von Mose und Paulus markieren die Endpunkte der ganzen Skala unserer Empfindungen, wenn wir in unserem Glaubensleben vor großen Herausforderungen stehen. Mose befand sich damals an einem Tiefpunkt seines Glaubenslebens, Paulus im Gefängnis dagegen auf der Höhe seines Glaubens. Zweifellos kannte auch Paulus Mutlosigkeit und scheinbare Aussichtslosigkeit: Angesichts seiner Bedrängnis in Asien schreibt er davon, dass er mit seinen Begleitern „übermäßig beschwert wurde, über Vermögen, so dass wir sogar am Leben verzweifelten“ (2. Kor 1,8).

Bei der Gegenüberstellung dieser beiden Aussagen geht es nun nicht um die unterschiedlichen Stellungen eines Gläubigen des Alten Testaments und eines Gläubigen des Neuen Testaments. Es geht um unsere Lebenspraxis: Welche Blickrichtung, Erwartungen und Kraftquellen haben wir als Glaubende?

Außer der Begebenheit in 4. Mose 11 lesen wir noch von zwei weiteren Begebenheiten, wo der resignierte Einwand: „Ich vermag nicht“, bzw.: „Wir vermögen nicht“, zu hören war. In beiden Situationen stand Entscheidendes auf dem Spiel: Große Aufgaben mussten bewältigt werden, und vorzeitiges Kapitulieren hätte Verlust und Schaden bedeutet – nicht nur für einzelne Gläubige, sondern für das ganze Volk Gottes. Auch heute gibt es viele unterschiedliche und schwere Aufgaben für den Herrn und für Sein Volk zu erfüllen, und wir wollen lernen, wie wir solch ein Resignieren vermeiden können. Dabei kann uns besonders das Vorbild des Apostels Paulus die richtige Perspektive in unserer Lebenssituation geben.

„Ich allein vermag nicht zu tragen“ (4. Mo 11,14)

Obwohl die göttliche Speise, das Man, auf vielerlei Art und Weise verarbeitet werden konnte und den Nährstoffbedarf des menschlichen Körpers vollständig deckte, murrte und weinte das Volk: Es wollte unbedingt Fleisch haben. Mose fühlte sich in dieser Lage völlig überfordert. Wie sollte er den Wünschen und Ansprüchen des Volkes entsprechen? Diese Frage lastete schwer auf ihm. Und als er auf die Umstände und auf sich selbst sah, empfand er angesichts dieses anspruchsvollen Dienstes nur seine eigene Kraftlosigkeit.

Doch als Mose erkannte und bekannte, dass seine eigene Kraft nicht ausreichte, gab Gott ihm eine Antwort: Er sollte siebzig Älteste auswählen, die mit ihm die Last des Volkes tragen würden. Gott würde von dem Geist, der auf Mose war, nehmen und ihn auf diese siebzig Ältesten legen. Die Kraft blieb dabei die gleiche, sie wurde nur auf mehr Schultern verteilt. Man könnte also sagen, dass sich für das Volk kein zusätzlicher Nutzen aus dieser Maßnahme ergab; allein Mose wurde wohl entlastet – gleichzeitig bedeutete es aber auch einen gewissen persönlichen Verlust für ihn!

„Wir vermögen nicht hinaufzuziehen“ (4. Mo 13,31)

Nur kurze Zeit später sehen wir in 4. Mose 13 ein weiteres Beispiel für eine verkehrte Blickrichtung. Gott hatte zugestimmt, zwölf Kundschafter in das verheißene Land senden zu lassen, um so gewissermaßen die Verlässlichkeit Seiner Verheißungen durch menschliche Augen überprüfen und bestätigen zu lassen. Eigentlich entsprach der Auftrag Gottes in 4. Mose 13 dem Begehren des Volkes, wie aus 5. Mose 1,22 ff. deutlich wird. Gott hatte gewähren lassen, was das Volk aus mangelndem Vertrauen in Seine Zusagen als Bitte an Mose geäußert hatte.

Und so durchzogen die zwölf Kundschafter vierzig Tage lang das verheißene Land und fanden alles genau so vor, wie Gott es ihnen verheißen hatte. Als Beweis nahmen sie sogar von der Frucht des Landes mit. Dann traten diese zwölf Männer vor das ganze Volk und berichteten über ihre Erkundungen. Aber seltsam: Obwohl alle dasselbe beobachtet und wahrgenommen hatten, unterschieden sich die Schlussfolgerungen, die sie daraus zogen, entscheidend. Sie alle hatten die Verheißungen Gottes über das Land bestätigt gefunden, und sie alle hatten auch die Hindernisse gesehen – das starke Volk und die sehr großen, befestigten Städte. Aber zehn der zwölf Kundschafter zogen nicht in Betracht, dass Gott stärker ist als das starke Volk des Landes und größer als die großen Städte. Sie brachten ihren Unglauben und ihren Zweifel an Gottes Zusagen durch ein böses Gerücht über das Land zum Ausdruck und verunsicherten das ganze Volk im Blick auf die Einnahme des Landes. Es ging sogar so weit, dass das Volk Josua und Kaleb steinigen wollte, als diese das Volk ermutigten, doch dem Herrn und Seinen Zusagen zu vertrauen.

Bei dieser Begebenheit blieb das Gefühl des eigenen Unvermögens also nicht auf den einzelnen Gläubigen beschränkt, sondern ein ganzes Volk wurde mutlos –
mit tragischen Folgen: Alle, die durch Unglauben Gott verachtet hatten, sollten das verheißene Land nicht sehen, und ihre Leichname sollten in der Wüste fallen. Außerdem mussten sie nach der Zahl der Tage, die sie das Land ausgekundschaftet hatten – je ein Jahr für einen Tag -, vierzig Jahre lang durch die Wüste ziehen (4. Mo 14,23-34).

„Wir vermögen nicht mehr an der Mauer zu bauen“ (Neh 4,4)

Bei einer weiteren Begebenheit sind wir nicht mehr in den Anfangstagen der Geschichte des irdischen Volkes Gottes, sondern fast am Ende seiner wechselhaften
Geschichte im Alten Testament angelangt. Das Buch Nehemia zeigt, dass das Volk nach seiner Rückkehr aus der siebzigjährigen Gefangenschaft in Babel wieder in seinem eigenen Land wohnt. Unter Serubbabel und Esra waren zuerst der Altar und der Tempel wiederaufgebaut worden. Nun hatte Nehemia die Aufgabe, die Mauer der Stadt Jerusalem wiederaufzubauen, um dadurch für das gefahrlose und ungestörte Zusammenleben des Volkes zu sorgen. Trotz des allmählich wachsenden Unmuts und Widerstands der Feinde von außen gab es große Fortschritte beim Mauerbau. Der letzte Vers des 3. Kapitels des Buches Nehemia – diesem detailgetreuen und unbestechlichen Bericht über Eifer und Einsatz, aber auch über Nachlässigkeit und Verweigerung – stellt fest: Die Mauer war „bis zur Hälfte“, also wohl bis zur halben Höhe, gebaut, und „das Volk hatte Mut zur Arbeit“
(Neh 3,38).

Nun aber nahm der Widerstand von außen zu. Aus dem anfänglichen Ärger und Spott wurde eine Verschwörung zum Kampf gegen Jerusalem. Nehemia ergriff jedoch effektive Gegenmaßnahmen: Gebet und Wachsamkeit. So hatten die bewusste Abhängigkeit von Gott und die gelebte eigene Verantwortlichkeit das rechte Verhältnis zueinander. Doch dann fiel der Blick des Volkes auf die Berge von altem Schutt und auf die sinkende Kraft der Arbeiter, und resigniert stellten sie fest: „Wir vermögen nicht mehr an der Mauer zu bauen.“

Im Unterschied zu den ersten beiden Begebenheiten sehen wir hier nicht Zweifel und Zurückschrecken vor dem Beginn einer anstehenden Aufgabe, sondern hier führt die Entmutigung dazu, dass der Eifer nachließ und man die Arbeit an einem Werk schließlich beendete: angefangen, aber nicht vollendet.

Schlussfolgerungen für uns

Vielfältige und schwere Aufgaben für den Herrn und Sein himmlisches Volk gibt es auch in unseren Tagen. Vielleicht tragen wir wie Mose für die unterschiedlichsten Bedürfnisse des Volkes Gottes Sorge. Vielleicht haben wir wie die Kundschafter die Aufgabe, den Geschmack am Genuss der himmlischen Segnungen zu wecken und dazu zu ermuntern, diese Segnungen auch ganz persönlich in Besitz zu nehmen. Vielleicht sollen wir auch wie Nehemia die Mauer der Trennung von drinnen und draußen für ein gesichertes Zusammenleben des Volkes Gottes fertigstellen. Für alle diese Aufgaben gilt: Wir können sie nicht in eigener Kraft durchführen und vollenden.

Wenn wir unser eigenes Unvermögen empfinden, dann darf uns das Wort des Herrn durch Jesaja eine Ermunterung sein: „Ein ewiger Gott ist der Herr, der
Schöpfer der Enden der Erde; er ermüdet nicht und
ermattet nicht, unergründlich ist sein Verstand. Er gibt
dem Müden Kraft, und dem Unvermögenden reicht er Stärke dar in Fülle. Und Jünglinge ermüden und ermatten, und junge Männer fallen hin; aber die auf den Herrn harren,
gewinnen neue Kraft: Sie heben die Schwingen empor wie die Adler; sie laufen und ermatten nicht, sie gehen und ermüden nicht“ (Jes 40,28-31).

„Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt“ (Phil 4,13)

Eine ganz andere Sichtweise – nämlich die richtige Sichtweise – hatte der Apostel Paulus im Gefängnis in Rom. Die äußeren Umstände waren denkbar ungünstig: Er war eingeschränkt in seiner Tätigkeit; er war in seinen äußeren Bedürfnissen in gewisser Hinsicht abhängig von wohlwollenden Geschwistern; und er sah die Notwendigkeit, den geliebten Gläubigen in den einzelnen örtlichen Versammlungen zu dienen, was ihm durch die Gefangenschaft nun aber verwehrt war. Doch er verlor in all diesen Überlegungen und Umständen nicht den Blick auf seinen Herrn. Deshalb dieser glaubensfeste Ausruf: „Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt.“

Der Herr Jesus, der alles vermag

Das Bestehen des Apostels Paulus in seinen Schwierigkeiten sowie unser Bestehen in unseren Aufgaben ist also nicht vom eigenen Vermögen abhängig, sondern es ruht in dem, der uns kräftigt und der über allen Umständen thront. Paulus war sich völlig bewusst, dass er es in allen Umständen mit Dem zu tun hatte, von dem das Neue Testament an vielen Stellen zeigt, was Er alles vermag. Er vermag …

– aufrechtzuerhalten (Röm 14,4)

– zu befestigen (Röm 16,25)

– jede Gnade gegen uns überströmen zu lassen (2. Kor 9,8)

– über alles hinaus zu tun, mehr als wir erbitten oder erdenken (Eph 3,20)

– alle Dinge sich zu unterwerfen (Phil 3,21)

– zu helfen (Heb 2,18)

– Mitleid zu haben (Heb 4,15)

– zu erretten (Heb 7,25)

– zu bewahren (Jud 24).

Im Alten Testament ist, neben vielen anderen, Boas ein Hinweis auf den Herrn Jesus. Es ist interessant, dass
dieser Mann in dem geschichtlichen Bericht in Ruth 2,1 mit den Worten eingeführt wird, dass er „ein vermögender Mann“ war. Das heißt nicht nur, dass er reich an irdischen Gütern war, es beschreibt vielmehr einen besonders mächtigen und tüchtigen Mann, der aufgrund seiner Tatkraft, seines Vermögens, für besondere Aufgaben befähigt ist. Und der Name Boas bedeutet bekanntlich: „In ihm ist Stärke.“

Paulus hatte es mit dem wahren Boas zu tun, und mit Ihm haben auch wir es zu tun. So wollen wir uns in allen unseren Aufgaben für den Herrn und für Sein Volk – auch dann, wenn diese Aufgaben wie Berge vor uns stehen – ganz bewusst auf diesen „vermögenden Mann“ stützen. Er vermag uns Kraft zu schenken, wenn wir wie Mose unsere eigene Kraftlosigkeit empfinden; Er vermag unseren Glauben zu stärken, wenn wie bei den
Kundschaftern Unglaube und Zweifel an Gottes Zusagen sich in uns breitmachen wollen; und Er vermag uns neuen Mut zu verleihen, wenn wir wie die Israeliten zur Zeit Nehemias mitten in einem begonnenen Werk mutlos zu werden drohen und vielleicht sogar aufgeben wollen.

A. Zöfelt

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2014, Heft 10, Seite 289

Bibelstellen: 4Mo 11,14; Phil 4,13