Er aber hat die Sünde vieler getragen

(Jes 52,13-53,12)

(Fortsetzung von Seite 277)

Buße und Umkehr des Volkes (Kapitel 53,4-6)

Der Überrest wird einmal vor Gott und den Menschen anerkennen, dass es die Liebe Gottes war, die sich in dem von ihnen so verachteten Christus offenbart hat. In völliger Verkennung ihres eigenen Zustandes und Seiner wunderbaren Gnade meinten die Juden damals jedoch, der Herr Jesus sei der Gegenstand des Missfallens Gottes und werde „von ihm geschlagen und niedergebeugt“. Dass Er bei der Heilung von Kranken, der Befreiung von Besessenen und der Auferweckung von Toten die Leiden und Schmerzen der Menschen zu Seinen eigenen machte, sahen sie nicht. Während Er Seine Taten vollbrachte, fühlte und trug Er im Geist in vollkommener Weise all das durch die Sünde entstandene Leid (vgl. Mk 1,41). Seine Wunder waren keine bloßen Machterweisungen, sondern immer Beweise der Liebe und Barmherzigkeit Gottes. „Unsere Leiden“ und „unsere Schmerzen“, die Er in Seinem Leben auf sich nahm, rührten nicht nur von körperlichen, sondern auch von seelischen Krankheiten her (V. 4; vgl. V. 3; Mt 8,17). – Aus diesen Worten darf man jedoch nicht ableiten, der Herr Jesus habe die Krankheiten aller Gläubigen getragen, weshalb wir jetzt nicht mehr darunter zu leiden brauchten. Es handelt sich hier nicht um die Leiden aller Menschen, sondern um die, denen der Herr während Seines Erdenlebens in Seinem irdischen Volk begegnete. Selbst da konnte Er einmal wegen des Unglaubens der Menschen nicht viele Wunder tun (Mt 13,58)!

Den Höhepunkt Seiner Leiden stellt jedoch das Sühnungswerk dar. Mit Recht kann Petrus die Verse 5 und 6 auf das Werk Christi am Kreuz beziehen, wo Er selbst unsere Sünden an Seinem Leib trug und Gottes gerechte Strafe dafür auf sich nahm (1. Pet 2,24 f.). Der gläubige Überrest wird zu der Erkenntnis kommen, dass es „unsere Übertretungen, … unsere Ungerechtigkeiten“ waren, um derentwillen Er verwundet und zerschlagen wurde, aber auch, dass nur Sein Leiden unter Gottes heiligem und gerechtem Gericht Frieden und Heilung bringen konnte. Sowohl die „Strafe zu unserem Frieden“ als auch „seine Striemen“ sprechen von den Leiden vonseiten Gottes, nicht vonseiten der Menschen (V. 5). – Im Unterschied zum jüdischen Überrest, der die volle Erkenntnis dieser Tatsache erst bei der Erscheinung Christi empfangen wird, dürfen alle wahren Christen schon heute wissen, dass Christus Frieden gemacht hat durch das Blut Seines Kreuzes und unser Frieden geworden ist. Jeder, der durch den Glauben an Ihn gerechtfertigt ist, besitzt den ewigen, unerschütterlichen Frieden mit Gott (Kol 1,20; Eph 2,14.17; Röm 5,1). Wie hat unser Herr dafür leiden müssen!

Nach den Übertretungen und Ungerechtigkeiten, derentwegen Christus leiden und sterben musste, wird in Vers 6 der elende Zustand des Volkes Gottes beleuchtet. Sie alle „irrten umher wie Schafe und wandten sich jeder auf seinen Weg“. Wie oft mag der Herr Jesus innerlich bewegt Sein Volk gesehen haben „wie Schafe, die keinen Hirten haben“ – ein Zustand, in dem ein großer Teil des jüdischen Volkes und der gesamten Menschheit bis heute verharrt (s. Mt 9,36)! Jeder geht von Natur aus seinen eigenen, bösen Weg, der ins ewige Verderben führt, von dem ihn nur Einer erretten kann. Ihn hat Gott unser aller Ungerechtigkeit, unsere Schuld und unsere Strafe treffen lassen.

Das Lamm Gottes (Kapitel 53,7-9)

Die vierte Strophe enthält die Antwort Gottes auf das Bekenntnis des Überrestes. Gott allein sah in jenen furchtbaren Stunden des Leidens die reine Gesinnung und die vollkommenen Beweggründe Seines Sohnes, der auf die Erde gekommen war, um als Lamm Gottes zu sterben.

In diesen Versen müssen wir unterscheiden zwischen den Leiden vonseiten der Menschen und vonseiten Gottes, der ungerechten Verurteilung durch die jüdischen und römischen Gerichtshöfe und dem gerechten Gericht Gottes über die Sünde. Ferner sehen wir hier einerseits das ganze Ausmaß der Verdorbenheit und Bosheit der Menschen, andererseits die Vollkommenheit des Herrn Jesus, aber auch, wie Gott Ihn betrachtete und behandelte.

Welch ein Gegensatz zwischen dem Weg des Lammes Gottes und dem der verirrten Schafe in Vers 6! Er beugte sich still und schweigend unter alle Misshandlungen, die frevelhafte Sünder Ihm körperlich und seelisch zufügten (Mt 26,63; 27,12.14; Lk 23,8.9; Joh 19,9; vgl. 1. Pet 2,23). Er schwieg, weil es Sein Vorsatz war, sich in vollkommenem Gehorsam zur Verherrlichung Gottes hinzugeben (vgl. Ps 38,14-16). Er, der Löwe aus dem Stamm Juda, „tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern; und er tat seinen Mund nicht auf“ (V. 7; vgl. Off 5,5). Wenn Er Seinen Mund während der Gerichtsverhandlungen doch einmal öffnete, dann nur um der Ehre Gottes willen, nie um zu klagen!

Der Vergleich mit einem Lamm bezieht sich hier zwar auf die Haltung des Herrn gegenüber den Menschen, die Ihn so quälten. Doch wecken die Worte nicht nur die Erinnerung an die Antwort Abrahams auf die bange Frage seines Sohnes Isaak: „Gott wird sich ersehen das Schaf [oder: das Lamm] zum Brandopfer, mein Sohn“, sondern auch an das Passahlamm in Ägypten sowie an den Ausruf Johannes‘ des Täufers: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“, und letztendlich an den prophetischen Ausblick, der dem Apostel Johannes gewährt wurde, als er „inmitten des Thrones und der vier lebendigen Wesen und inmitten der Ältesten ein Lamm … wie geschlachtet“ sehen durfte. Wer weiß, wie bald der Augenblick kommt, wo in der ungestörten, vollkommenen Herrlichkeit des Himmels Millionen und Abermillionen Erlöster sprechen werden: „Würdig ist das Lamm, das geschlachtet worden ist…“ (Off 5,12)!

Vers 8 enthält einige Schwierigkeiten, die sich in den unterschiedlichsten Übersetzungen und Erklärungen niederschlagen. Um dieser Problematik Rechnung zu tragen, betrachten wir den Vers Satz für Satz.

„Er ist weggenommen worden aus der Angst [oder: der Bedrückung] und aus dem Gericht.“

Die Angst oder Bedrückung und das Gericht, aus denen Er weggenommen wurde, beziehen sich auf das schändliche Gerichtsverfahren und die ungerechte Verurteilung des Herrn durch Seine Feinde. Gott hat den unwürdigen, erniedrigenden Prozess beendet und Seinen Christus weggenommen. Pilatus wunderte sich darüber, dass der Gekreuzigte so bald gestorben war (Mk 15,44). Der Gedanke liegt auch dem etwas abgewandelten griechischen Text der Septuaginta zu Grunde, wie ihn der äthiopische Kämmerer auf seinem Rückweg von Jerusalem las: „In seiner Erniedrigung wurde sein Gericht weggenommen“ (Apg 8,33). Auf die drei Stunden der Finsternis unter dem Gericht Gottes können diese Worte sich nicht beziehen, denn da gab es kein „Wegnehmen“, wenn der bittere Kelch des Leidens bis zur Neige geleert werden sollte. In dieser Zeit blieb dem Heiland nichts erspart; selbst auf Seinen Ruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, erhielt Er keine Antwort (Ps 22,2.3).

„Und wer wird sein Geschlecht aussprechen [oder: bedenken]?“

Das hebräische Hauptwort dor, das gewöhnlich mit „Geschlecht, Generation“ übersetzt wird, kommt zum ersten Mal – was manchmal bedeutungsvoll für das geistliche Verständnis der Bedeutung eines Wortes ist – in 1. Mose 6,9 vor und wird dort durch „Zeitgenossen“ wiedergegeben. In ähnlicher Weise werden mit den Worten „sein Geschlecht“ hier die ungläubigen Juden bezeichnet, die ihren ganzen Hass an dem Sohn Gottes ausließen. Sie waren „die Seinen“, zu denen Er in erster Linie gekommen war, die Ihn aber ablehnten und des Todes für schuldig hielten (s. Joh 1,11; vgl. Lk 17,25; Apg 2,40). Über dieses Volk sagte der Herr Jesus im Blick auf die zukünftige Drangsal zu Seinen Jüngern: „Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen ist“ (Mt 24,34). Angesichts derartiger Bosheit ruft der Prophet voller Entsetzen aus: „Und wer wird sein Geschlecht aussprechen?“ – Es handelt sich bei Seinem „Geschlecht“ also nicht um diejenigen, die an Christus glauben. Die Frucht der Mühsal Seiner Seele finden wir in den Versen 10-12.

„Denn er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen.“

Gottes besondere Beziehung zu diesem „Geschlecht“ durch den Messias ist seit dessen Verwerfung unterbrochen. Christus ist gestorben, aber auch auferstanden und in den Himmel aufgenommen worden. Beides scheint in diesen Worten zum Ausdruck zu kommen, denn das „Land der Lebendigen“ ist die Erde (s. Kap. 38,11). Sein „Abgeschnittenwerden“ hat der Herr Jesus selbst angekündigt: „Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: .Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!‘ “ (Mt 23,39; vgl. Dan 9,26).

„Wegen der Übertretung meines Volkes
hat ihn Strafe [oder: Schlag, Plage] getroffen.“

Am Ende des Verses wird deutlich, dass Gott, der die Juden als „mein Volk“ bezeichnet, der Redende ist. Er wiederholt noch einmal die wahre Ursache der furchtbaren Strafe, die Sein Knecht am Kreuz von Golgatha tragen musste (vgl. V. 5.6). Es war nicht Seine Schuld, nicht Gottes Missfallen an Seiner Person, sondern „die Übertretung meines Volkes“. Das wird auch der Überrest im Glauben anerkennen, wenn er zur Umkehr zu Gott und dem Messias kommen wird.

Nach der vorangegangenen Verurteilung zum Tod wäre das dem Herrn Jesus bestimmte Grab „bei Gottlosen“ gewesen. So hatten es die Menschen im Sinn. Aber Gott ließ nicht auch noch diese Schmach für Seinen Knecht zu. Joseph, „ein reicher Mann von Arimathia“, wie das Wort Gottes ausdrücklich vermerkt, gab Ihm ein würdiges Begräbnis in einer Gruft, „wo noch nie jemand gelegen hatte“ (Mt 27,57; Lk 23,53). So ehrte Gott Ihn, „weil er kein Unrecht begangen hat, und kein Trug in seinem Mund gewesen ist“. In all Seinem Leiden tat Er Seinen Mund nicht auf, aber wenn Er Ihn öffnete, kam nie etwas Böses daraus hervor (V.9).

(Schluss folgt)

A. R

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2005, Seite 304

Bibelstellen: Jes 53, 4-9