Jakob in Pniel

1. Mose 32

Die Jahre des Dienstes und der Mühsal Jakobs im Haus Labans waren zu Ende. Gott hatte ihn aufgefordert: „Kehre zurück in das Land deiner Väter und zu deiner Verwandtschaft, und ich will mit dir sein“ (1. Mo 31,3). Da war Jakob mitsamt seiner Familie und seiner Habe weggezogen, und Gott hatte darüber gewacht, dass die anfängliche Verfolgungsjagd, mit der Laban ihn zurückzuholen suchte, durch ein Bündnis zwischen den beiden Männern beendet wurde.

Jakob und das Heerlager Gottes

Jakobs Befürchtungen (V. 2-6)

Nun setzt Jakob seinen Weg fort und ist im Begriff, bald in das Land der Verheißung einzuziehen. Aber der Herr lässt das erst zu, nachdem Er ihn aufs Tiefste erprobt hat, damit er seine Wege vor Ihm verurteilt und dementsprechend einrichtet. Zuvor aber ermutigt Er ihn dadurch, dass Er ihm Engel entgegensendet, wie sie ihm in Bethel erschienen waren, als sie auf der Leiter auf- und niederstiegen. Jetzt kommen sie, um ihn bei seiner Rückkehr willkommen zu heißen. Dadurch bringt Gott ihm in Erinnerung, dass Er die Verheißung von Bethel gehalten und zugleich den Wunsch Seines Knechtes erfüllt hat, ihn auf seinem Weg zu bewahren (Kap. 28,15). Es ist zugleich die Zusicherung, dass er auch „in Frieden zurückkehren werde zum Haus seines Vaters“ (Kap. 28,21).

So hat also Jakob unter dem Schutz des „Heeres Gottes“ nichts zu fürchten vom Heer Esaus. Aber die Vergangenheit ist noch nicht aus seinem Gedächtnis geschwunden, und zwar aus gutem Grund. Den Ausspruch Esaus „Ich werde meinen Bruder Jakob erschlagen“ (Kap. 27,41) kann er nicht vergessen, denn der ist ja bestehen geblieben. So rechnet Jakob mit seinen eigenen Hilfsquellen, mit denen er in selbstgefälliger Weise Eindruck zu machen sucht (V. 6). Innerlich bezweifelt er die Wirksamkeit des Heeres Gottes, denn sein Herz verurteilt ihn (1. Joh 3,21). Doch es gibt kein größeres Glück als ein Herz, das frei ist vor Gott und allen Menschen. Das schenkt volles Glaubensvertrauen in Schwierigkeiten.

Jakob hat nicht den moralischen Mut, das zu tun, was der Herr mit den Worten lehrte: „Wenn … dein Bruder etwas gegen dich hat, … so geh hin, versöhne dich mit deinem Bruder“ (Mt 5,23.24), und das ist nicht zu erreichen durch die schmeichelhaftesten Worte oder großzügigsten Geschenke, sondern nur durch das Bekennen der begangenen Verfehlungen.

Die Erprobung durch Esau

und das Gebet Jakobs (V. 7-13)

Was für ein Untertanengeist liegt in der Botschaft, die Jakob seinem Bruder übermittelt! Isaak hatte in seinem Segen erklärt: „Sei Herr über deine Brüder, und vor dir sollen sich niederbeugen die Söhne deiner Mutter!“ (Kap. 27,29). Aber bald würde er sich siebenmal vor seinem Bruder zur Erde niederbeugen, und in seinem Bittgesuch an Esau spricht er wie ein Knecht zu seinem Herrn und bietet ihm seine Güter an. Ist das eine normale Sprache unter Brüdern? Verliert Jakob nicht seine ganze Würde in diesen Kriechereien und Berechnungen? All das macht ihn klein und schwach, während die Wahl der göttlichen Gnade ihn höher gestellt hat als seinen Bruder.

Weil Jakob auf den Menschen vertraut, stellt Gott ihn jetzt ernstlich auf die Probe. Esau zieht mit 400 Mann heran; damit hatte Jakob sicher nicht gerechnet, und sein schlechtes Gewissen lässt ihn das Schlimmste ahnen. Warum hatte Esau sich zu dem Treffen mit Jakob mit dieser Truppe umgeben? Der Bericht sagt uns nichts darüber. Isaak hatte über Esau geweissagt: „Von deinem Schwert wirst du leben“ (Kap. 27,40). Darum sind auch seine Nachkommen die stolzen Fürsten Edoms (Kap. 36,19). Dieser Hochmut ist seitdem im Wandel Esaus erkennbar, verfehlt aber nicht seinen Eindruck auf den armen schutzlosen Jakob und stürzt ihn in tiefe Angst. Er hat das Empfinden, dass seine Botschaft ihre Wirkung verfehlt hat und dass er den Gunstbeweis nicht erlangt hat, den er von seinem Bruder erwartet hatte. Gott konnte das nämlich nicht zulassen.

Die Erprobung verschärft sich also und führt Jakob endlich dahin, zu beten (V. 10). Ohne jeden Zweifel zeigt sich Glaube in dieser flehentlichen Bitte; auch Demut fehlt nicht, und auch nicht Dankbarkeit und die Erinnerung an die Verheißungen. Aber es verbindet sich damit nicht das wahre Vertrauen, denn das kann nur aus einer glücklichen Gemeinschaft mit Gott hervorgehen.

In welcher Gesinnung beten wir? Sind wir immer bereit, Gott allein handeln zu lassen; ohne Ihm zu sagen, was Er tun muss; ohne zu meinen, wir müssten Ihm helfen; ohne eine andere Hilfe zu suchen oder die Geduld zu verlieren? Wenn wir doch für unser ewiges Heil unser Vertrauen auf Ihn und Sein Wort gesetzt haben, mit wie viel mehr Grund müssten wir dann in den Schwierigkeiten jedes Tages alles Seinen Händen überlassen! Er ist unser Vater: „… indem ihr all eure Sorge auf ihn werft; denn er ist besorgt für euch“ (1. Pet 5,7).

Die Pläne Jakobs (V. 14-24)

So ist Jakob sich der Antwort Gottes nicht sicher, denn er hat sich nicht selbst gerichtet und seine Wege vor Gott nicht eingerichtet. Selbst bevor er seine Angst zum Ausdruck bringt, trifft er Maßnahmen, die ganz menschlich und ohne große Wirkung sind (V. 9). Und nach seinem Gebet verfolgt er seinen Plan, indem er seine großzügigen Geschenke in einer eindrucksvollen Folge anordnet, um seinen Bruder zu besänftigen.

Das ist ganz die Art des Menschen, aber nicht die Weise Gottes, für den es nur auf eines ankommt: Man muss vor Ihm und vor seinem Bruder den begangenen Fehltritt bekennen, um Vergebung bitten und dann Gott in allem Seelenfrieden die Folgen überlassen. Jakob aber bleibt tätig; die Nacht kommt, und es gibt keine Ruhe für ihn. In dieser beklemmenden Dunkelheit schickt er sich an, seine verängstigte Familie über den Fluss zu führen. Und das ist der Augenblick, wo Gott ihn findet.

Pniel: Der Finger Gottes (V. 25.26)

„Und Jakob blieb allein zurück.“ Diese Nacht erinnert an die von Bethel. Gott nimmt ihn zur Seite, denn Er hat ihn etwas zu lehren. Das Gebet Jakobs (V. 10-13) zeigt, dass er immer noch von der Angst vor Esau befallen ist. Die Zeit löscht die Fehltritte nicht aus; selbst wenn mehr als 20 Jahre verstrichen sind, muss man sie im Licht Gottes verurteilen. Vor allem aber muss Jakob verstehen, dass er sich als „Überlister“ gegen Gott vergangen hat. Er muss sich dessen bewusst werden und es rückhaltlos bekennen, indem er seinen Namen offen legt (V. 28). Dann erst wird Gott sein Gebet erhören können: Er wird ihn erretten und segnen.

Nach Einbruch der Nacht versperrt ein geheimnisvoller „Mann“ Jakob den Weg beim Eintritt in das Land und kämpft mit ihm. Jakob kennt seinen Gegner (Gott selbst) noch nicht und führt einen heftigen Kampf die ganze Nacht hindurch. Wir verstehen die geistliche Bedeutung davon: Dieser Kampf zeigt das, was der Wille des Menschen in Jakob während so vieler Jahre gewesen ist, und dem will Gott ein Ende setzen. Das Fleisch ist nicht zu zähmen, es stellt sich Gott entgegen und kann weder verbessert noch unterjocht werden. Zu allen Zeiten haben sittliche Gebote, soziale Einrichtungen und religiöser Beistand nicht weiter geführt, als das zu verdecken, was den Menschen von Natur kennzeichnet, nämlich „Feindschaft gegen Gott“ (Röm 8,7).

Das Fleisch ist also unverbesserlich, und der Kampf endet, als der Beweis erbracht ist, dass der alte Jakob immer die Oberhand behält. Gott beendet ihn durch einen ganz kurzen Handgriff, indem Er die Hüfte dieses Kämpfers verrenkt und damit symbolisch die fleischliche Stütze in seinem Wandel zerbricht, damit dieser hinkende Mann sich künftig auf Gott allein stützt. Wir unsererseits haben verstanden, dass das Kreuz Christi das Ende der Kraft des Menschen in Adam ist. Dieses Kreuz drückt von nun an all unseren Wegen seinen Stempel auf; es öffnet den Zugang zu einem „Wandel durch den Geist“.

Pniel: Der Gotteskämpfer (V. 27-33)

In Vers 27 beginnt ein anderer Kampf (Hos 12,5). Jakob nimmt einen großartigen Kampf mit Gott auf, der am Ende durch Glauben gekennzeichnet ist. Er hat gelernt, dass in Dem, der ihn körperlich geschlagen hat, alle Kraft ist, aber auch die Macht, zu segnen. Und diesen Segen will Jakob erlangen; er weint und fleht, während der Engel sich anschickt, zu gehen. „Was ist dein Name?“ Es ist sehr nötig, den jetzt anzuerkennen: Jakob, der Betrüger, „der Überlister“. Auf dieses Bekenntnis hin gewährt Gott ihm den Sieg (Israel: Gotteskämpfer).

Jakob hat durch Glauben den begehrten Segen erlangt (V. 27.30), und darin besteht sein Sieg. Trotz allem steht dieser Vorgang unter dem Zeichen der Zucht. Es wird ihm nämlich im Moment noch nicht erlaubt, den Namen Dessen zu kennen, der ihn gesegnet hat, nachdem Er ihn zerbrochen hatte; er kann also die Gemeinschaft mit Ihm noch nicht genießen. Dazu muss er erst in Bethel ankommen (Kap. 35).

Dennoch geht ein neuer Tag über ihm auf (V. 32). Er hat einige Strahlen der Herrlichkeit Gottes ergreifen können, den er von Angesicht zu Angesicht gesehen hat („Pniel“), und seine Seele ist gerettet worden. Von nun an lebt er im Licht Gottes. Er kann jetzt mit besserem Schritt vorangehen – trotz seiner verrenkten Hüfte -, denn seine Schwachheit wird ihn ständig daran erinnern, dass die Kraft Gottes in Schwachheit des Menschen vollbracht wird – aufgrund einer Gnade, die für alles genügt (2. Kor 12,9.10).

In Vers 33 wird die Erinnerung an diesen Kampf im Gedächtnis der Söhne Israels zu ihrer Belehrung verankert: Sie essen nicht vom Hüftmuskel. Wir wollen, geistlich gesprochen, dasselbe tun und darauf verzichten, uns selbstgefällig von dem zu „nähren“, was an Nachteiligem bei unseren Brüdern zu finden ist. Vielmehr wollen wir das in ihnen suchen, was von Christus ist: Seine Kraft und nicht ihre Schwachheit.

J. Jeannin

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2008, Heft 2, Seite 47

Bibelstellen: 1Mo 32

Stichwörter: Jakob, Pniel