Sie werden die Ohren von der Wahrheit abkehren

5. Vom Seelenschlaf.

Seltsam sind die Verirrungen, zu welchen der menschliche Geist fähig ist, aber man wird immer wieder finden, daß der böse Wille des Menschen und die Neigung, seine ernste Verantwortlichkeit Gott gegenüber zu schwächen, diesen Verirrungen zu Grunde liegen.

Der Gedanke an den Tod ist für den natürlichen Menschen erschreckend, so erschreckend, daß Bildad, einer der Freunde Hiobs, den Tod geradezu den „König der Schrecken“ nennt. Und kein Wunder! Denn nicht nur „wird das Licht finster in dem Zelte“ des Sterbenden, nicht nur „erlischt seine Lampe über ihm“ und „schwindet sein Gedächtnis von der Erde“ (Hiob 18), sondern er geht in eine finstere Ewigkeit hinüber, um dort vor einem vergeltenden, gerechten Gott zu erscheinen und den Urteilsspruch über sein Leben hienieden zu vernehmen. Daher sein Bestreben, an den einfachsten, klarsten Aussprüchen der Schrift zu deuteln und ihnen ihre Schärfe, ihren Stachel zu nehmen.

Ruhe ist es, wonach der Mensch sich sehnt, nachdem dieses Leben ihm Mühsal, Arbeit und Not und Enttäuschungen aller Art gebracht und ihn rastlos umhergetrieben hat von einem Orte zum anderen. Vergessen möchte er alles, was ihm auf dem langen Wege begegnet ist und was sein Inneres mit Vorwürfen und Anklagen, vielleicht auch mit Schmerz und Reue erfüllt, ins Meer des Nichts möchte er hinabsinken und sich verlieren in dem süßen Gefühl des Nichtmehrseins, der völligen Auflösung oder des Erlöschens des persönlichen Daseins. So war es schon zur Zeit Buddhas, des indischen Weisen, und genau so ist es heute noch.

Allen diesen Wünschen kommt der Feind bereitwilligst entgegen, nicht nur durch die alles verneinenden Lehren des Unglaubens, nein, durch angeblich auf Gottes Wort gestützte Behauptungen „ernster Bibelforscher“, durch die vermeintlichen Ergebnisse eines tieferen Studiums der Schriften, oder auch durch besondere Erleuchtungen und Offenbarungen, die man von oben erhalten zu haben behauptet. Die Seele des Menschen, so sagt man, schläft ein, wenn der Mensch stirbt, und sie wird erst wieder aus ihrem Schlafe, aus dem Zustande einer völligen Bewußtlosigkeit, aufgeweckt werden, wenn die Stimme des Sohnes Gottes sie ruft. Inzwischen verwest der Leib, „der Staub kehrt zum Staube zurück“, und Gott gibt der Seele in der Auferstehung einen anderen, neuen Leib. Daß es eine leibliche Auferstehung nicht geben kann, „hat ja die Wissenschaft längst bewiesen“. Auch Christus ist, wie wir bereits anführten, nur dem Geiste nach lebendig gemacht worden, jedwede andere Behauptung wird als unbiblisch zurückgewiesen.

So darf man denn beim Tode eines ungläubigen Menschen ganz ruhig sein, er geht ja nicht in eine finstere Ewigkeit hinüber, wo ein ernstes Gericht seiner wartet, sondern seine Seele schläft ein, „ruht sanft, friedlich und ohne irgend welchen Kummer“, und wenn sie bei der Wiederkunft Christi wieder aufgeweckt wird, erhält sie, falls sie „in der gegenwärtigen Lebenszeit keine volle Gelegenheit zum Heil gehabt hat“, dort eine neue Gelegenheit, sich für Christum zu entscheiden und so „die ihr in dem Erlösungswerk verbürgten Segnungen zu empfangen“. Erweist sich ein Mensch auch dann noch als „unverbesserlich“, so fällt er mit den übrigen Gottlosen, die sich schon während ihrer Lebenszeit als „unverbesserlich“ erwiesen haben, in dem Feuersee, dem zweiten Tode, der Vernichtung anheim. Nimmt er das Heil an, so hat er zwar nicht teil an den höheren Segnungen der „Auserwählten“ und „Überwinder“, wird aber mit den übrigen „Willigen und Gehorsamen auf einer wiederhergestellten Erde zu menschlicher Vollkommenheit (!) emporgehoben werden“. –

Welch ein Wust von verworrenen Gedanken und bösen Erfindungen! Aber sie enthalten gerade das, was der Mensch will: sie verheißen ihm Ruhe und Vergessen und am Ende Vernichtung. Ist es auch ein Ende mit Schrecken, was macht’s aus? In einem Augenblick ist ja alles vorüber! Darum: „Laßt uns essen und trinken, denn morgen sterben wir!“ Wahrlich, vor solchen Propheten kann man nicht laut genug warnen. Von ihnen gilt das Wort des Propheten Jeremia: „Sie spannen ihre Zunge, ihren Bogen mit Lüge“ und „führen mein Volk irre mit ihren Lügen“. Gott helfe allen Seinen Kindern, nicht auf sie zu hören! „Die Welt hört sie“, dieselbe Welt, welche der Gläubige gerade deshalb überwindet, weil er glaubt, „daß Jesus der Sohn Gottes ist“, was jene Leute nicht tun (1. Joh 4,3.6. und 5,3). Laßt uns vielmehr lauschen auf das lautere Wort Gottes und dessen einfache, klare Zeugnisse bewahren!

Was lehrt denn die Heilige Schrift über diese Dinge? Was den Gläubigen angeht, gibt sie zunächst die deutlichsten Belege dafür, daß bei seinem Abscheiden unmittelbar Freude und Seligkeit in Christo seiner warten. Der Räuber am Kreuz empfing vom Herrn die durch ein feierliches „Wahrlich“ bestätigte Verheißung: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“. Stephanus schaute in dem geöffneten Himmel die Herrlichkeit Gottes, sah den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen und betete sterbend: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ Paulus hatte Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein, weil es weit (eig. um vieles mehr – ein sehr starker Ausdruck) besser war. Wenn der Herr Jesus wiederkehrt, wird Gott die „durch Jesum Entschlafenen mit Ihm bringen“ (1. Thes 4,14); sie müssen also schon vorher bei Ihm gewesen sein.

Es ist freilich noch nicht der Endzustand, in den der entschlafende Gläubige eintritt, noch nicht „das Vollkommene“ oder die Herrlichkeit in ihrer vollen Entfaltung. Es ist ein vorübergehender Zwischenzustand, ein Warten auf die endgültige Vollendung, aber ein Weilen bei Christo, da wo Er sich jetzt als der verherrlichte Menschensohn befindet. Als solcher wartet Er ja auch noch auf die Erfüllung der Verheißung von Psalm 110,1 (vergl. Heb 2,8.9 und a. St.), auf die Zeit, wo alles Ihm unterworfen sein wird und selbst die „Unterirdischen“ (die bösen Geister) sich vor Ihm beugen und anerkennen werden, „daß Jesus Christus Herr ist“. Er wartet, und die Seinigen warten mit Ihm in dem seligen Genuß Seiner Gegenwart. Wie ein Geist Christum genießt, d. h. in welcher Weise und in welchem Maße, können wir freilich nicht sagen; aber das verursacht durchaus keine Schwierigkeit. Mein Geist genießt Christum jetzt trotz des Hindernisses, welches das arme, irdene Gefäß ihm bereitet; ja, obgleich ich Ihn noch nicht sehe, „frohlocke ich mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude“ (1. Pet 1,8). Es ist nicht mein Leib, der genießt, sondern meine Seele. Geistlicherweise genießt sie jetzt trotz des genannten Hindernisses und obwohl ich noch abwesend von meinem Herrn bin. Dann wird sie ohne das Hindernis und als „einheimisch“ bei Ihm genießen. Muß dieser Genuß nicht unendlich höher, tiefer und inniger sein?

Die in Christo entschlafenen Gläubigen harren also auf den Morgen der Auferstehung, auf die Wiedervereinigung von Seele und Leib, wo dann der Ratschluß Gottes im Blick auf sie, nämlich ihre Umgestaltung in das Bild Seines Sohnes (Röm 8,29), in Erfüllung gehen wird. Wie sie hienieden das Bild dessen von Staub getragen haben, so sollen sie dann das Bild des Himmlischen tragen (1. Kor 13,49; vergl. 1. Joh 3,2). Mit Ihm, dem Erstgeborenen vieler Brüder, werden sie eingehen in die vielen Wohnungen des Vaterhauses, d. i. in den ewigen Zustand der Freude und Herrlichkeit, den Gott für Seine Kinder bestimmt und bereitet hat. In diesem Zustand der vollen Entfaltung und Ausführung der Ratschlüsse Gottes befinden sich die „Entschlafenen“ heute noch nicht. Sie warten darauf als solche, die „ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn“ sind. Sie haben ihren Leib abgelegt, sind „entkleidet“, aber sie warten bei dem Herrn auf den seligen Augenblick, wo Er aufstehen und die „Toten in Christo“ (1. Thes 4,16) aus ihren Gräbern hervorrufen wird.

Nach diesem „bei Christo sein“ verlangte der Apostel Paulus, wenngleich es noch etwas Begehrenswerteres für ihn gab, nämlich „überkleidet“ zu werden, d. h. unmittelbar, ohne den Tod gesehen zu haben, in jenen ewigen Zustand der Gleichförmigkeit mit Christo eingeführt zu werden.

(Fortsetzung folgt)

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1962, Seite 197

Stichwörter: Seelenschlaf, Zeugen Jehovas