Vorrechte und Verantwortlichkeit des Christen

Wir möchten die Aufmerksamkeit des Lesers auf drei kostbare Stücke lenken, die allen wahren Gläubigen verliehen sind, auf drei heilige Würden, mit denen sie bekleidet sind: Sie sind die Kanäle des Heiligen Geistes (Joh 7,38), sie strahlen Christum wider (2. Kor 3,18), und sie sind Nachahmer Gottes (Eph 5,1).

Das sind in Wahrheit Vorrechte von erhabenster Größe. Sie gehören jedem Kinde Gottes, jedem Glied des Leibes Christi auf der ganzen Erde. Aber ach, manche kennen sie nicht, genießen sie nicht und schätzen sie daher auch nicht, wie es eine große Anzahl Christen gibt, die nicht einmal wissen, daß ihre Sünden vergeben sind und daß sie das ewige Leben haben. Wir können jedoch versichert sein, daß es der Wunsch des Herzens Gottes ist, daß das schwächste Kind in der Familie des Glaubens die Dinge kennt und genießt, welche allen geschenkt worden sind, die in Wahrheit an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes glauben.

Die Vorrechte und Würden der christlichen Stellung, die Fähigkeit, sie zu genießen, und die Kraft, sie festzuhalten und zu offenbaren, sind die kostbare Frucht der unumschränkten Gnade. Das ewige Leben samt allen damit verbundenen Segnungen ist die Gabe Gottes. Die Quelle, aus der alle diese Segnungen fließen, ist das Herz Gottes; der Kanal, durch den sie uns zuströmen, ist das vollbrachte Werk Christi; die Autorität, durch welche wir sie empfangen, ist das Wort Gottes, und die Kraft, die sie uns genießen und schätzen läßt, ist der Heilige Geist. So ist alles von Gott, dem großen und herrlichen Geber jeder guten Gabe und jedes vollkommenen Geschenkes. Ihm sei ewiger Ruhm!

Betrachten wir nun den ersten Teil unseres Gegenstandes, und wir werden sehen, auf welche Weise ein jeder von uns ein Kanal des Heiligen Geistes werden kann. „An dem letzten, dem großen Tage des Festes aber stand Jesus und rief und sprach: Wenn jemand dürstet, so komme er zu mir und trinke. Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Strome lebendigen Wassers fließen“ (Joh 7,37. 38).

Welche Gnade strahlt aus diesen Worten! Jede durstige Seele wird eingeladen zu kommen. Nichts könnte einfacher sein. Hat jemand Durst? An ihn richtet sich diese kostbare Einladung. Das moralische Recht zu kommen besteht darin, daß man durstig ist. Christus gibt das lebendige Wasser jedem, der kommt, wie Er zu dem samaritischen Weibe sagt: „Wenn du die Gabe Gottes kenntest, und wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken, so würdest du ihn gebeten haben, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben“, und „Wer irgend aber von dem Wassertrinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm eine Quelle Wassers werden, das ins ewige Leben quillt“ (Joh 4,10. 14).

Ob es sich nun um die sprudelnde „Quelle“ handelt oder um die fließenden „Ströme“, sie sind die reine, unumschränkte Gabe Gottes für jede arme, dürstende Seele, umsonst wie die Luft, die wir atmen, oder das Licht, das uns leuchtet. Es bedarf keiner Anstrengungen, und es gibt keine gesetzlichen Forderungen, es heißt einfach: „Er komme zu mir und trinke!“ Der Herr sagt nicht: „Er komme und schöpfe!“ Zwischen trinken und schöpfen besteht ein großer Unterschied. Wir könnten vielleicht für andere schöpfen und doch nicht selbst trinken. Aber wenn wir Kanäle des Segens sein wollen, müssen wir selbst trinken, und dann fließen die Ströme. Wenn man Durst hat und das lebendige Wasser da ist, so ist keine Anstrengung nötig, um zu trinken, sondern man findet reichlichen Genuß und einen unaussprechlichen Segen für sich, und die praktischen Folgen werden Ströme des Lobes sein, die zu Gottes Thron emporsteigen, und Fluten des Segens, die sich ringsumher ausbreiten. Mehr wollen wir über diesen Teil unseres Gegenstandes, über die unendliche Gnade, Kanäle des Heiligen Geistes zu sein, nicht sagen.

Betrachten wir nun kurz den Christen als Widerschein Christi, wie wir ihn in 2. Korinther 3 sehen. Dieses große und erhabene Vorrecht ist jedem Gliede des Leibes Christi verliehen. Nicht alle mögen es kennen, genießen und schätzen, nichtsdestoweniger gehört es ihnen, und es gibt keinen Grund, aus welchem der schwächste Christ nicht der Abglanz Christi sein könnte.

Aber wie wird er es? Hören wir die Antwort des Apostels: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,18). Die letzten Verse von Apostelgeschichte 7 geben uns eine schöne und treffende Illustration zu diesen Worten des Apostels. Wir sehen dort in Stephanus einen strahlenden Abglanz Christi, wie jeder Christ es sein sollte. Er war „voll Heiligen Geistes“, seine Augen waren gen Himmel gerichtet und sahen den verherrlichten Sohn des Menschen. Das Ergebnis war, daß er praktisch Dem gleichförmig wurde, Den er anschaute. Sein Angesicht war wie „eines Engels Angesicht“ (Apg 6,13), es warf Strahlen der moralischen Herrlichkeit unseres anbetungswürdigen Herrn zurück. Die bei ihm standen, konnten nicht sehen, was er sah, aber sie sahen in ihm dessen Widerschein. Die Welt kann Jesum nicht sehen, aber wir sehen Ihn durch den Glauben, und je inniger wir Ihn anschauen, desto getreuer werden wir Ihn widerspiegeln. So sollte es jedenfalls sein. Es macht keine Mühe, einen Gegenstand anzuschauen, der uns anzieht und gänzlich hinnimmt, und notwendigerweise werden wir widerspiegeln, was wir anschauen. Wenn ich sage: „Ich will versuchen, Christum widerzuspiegeln“, offenbare ich nur meine Torheit; denn wenn mein Herz mit Christo beschäftigt, ganz von Ihm erfüllt ist, werde ich Ihn in allen meinen Worten und Wegen darstellen. Das ist wahres praktisches Christentum und sehr verschieden von Religiosität, Glaubensschwärmerei und fleischlicher Frömmigkeit, die nur elende Zerrbilder ohne göttliche und himmlische Wirklichkeit sind.

Man wird vielleicht sagen, Stephanus sei ein ungewöhnlicher Fall. Gewiß, er war ein Märtyrer, doch sind wir nicht alle berufen, das auch zu sein? Ein Märtyrer ist nichts anderes als ein Zeuge. Wir kennen den Ausdruck vom „Heer der Märtyrer“, womit alle die bezeichnet werden, die für den Glauben an den Herrn Jesus gestorben sind. Aber es ist nötig, uns daran zu erinnern, daß es sowohl lebende Zeugen gibt, als auch solche, die für den Herrn starben, und daß wir nur durch die Gnade Gottes das eine oder das andere sein können. Wenn ein Mensch berufen ist, auf den Scheiterhaufen oder das Schafott zu gehen, so ist es die Gnade Gottes, die ihn aufrecht erhält. Seine Leiden dauern nur kurze Zeit. Aber auch der lebende Zeuge, der berufen ist, durch Leiden, Schmerzen, Prüfungen, Kämpfe und Übungen einer langen Pilgrimschaft zu schreiten, indem er die Schmach Christ! trägt und unter dem Bösen in der Kirche und in der Welt seufzt, findet die Gnade Gottes, die ihn auf seinem ganzen Wege begleitet. Es ist dieselbe Gnade, sei sie nun konzentriert auf die letzte Stunde des Lebens oder verteilt auf eine große Anzahl von Jahren.

Beachten wir, daß Stephanus Christum in seinem Leben wie in seinem Tode widerstrahlte. Nicht nur glänzte sein Angesicht wie das eines Engels, sondern er war auch in der Kraft des Heiligen Geistes fähig, wie sein göttlicher Meister für seine Mörder zu beten und in Frieden zu entschlafen. Welch ein erhabener, herrlicher Triumph, der uns in dem inspirierten Buche als ein schönes Beispiel davon mitgeteilt wird, was jeder Christ in seinem Leben und in seinem Tode sein sollte, nämlich jemand, der durch die Kraft des Geistes Christum darstellt.

Lieber christlicher Leser! Denken wir ernsthaft darüber nach! Es ist kostbar und praktisch zugleich. Das Gesetz würde niemals etwas Ähnliches hervorbringen können. Kein Religionssystem unter dem Himmel könnte ein so herrliches Ergebnis bewirken. Es ist die kostbare Frucht des wahren Christentums, das uns einen verherrlichten Menschen im Himmel und Gott, im Menschen auf der Erde wohnend, offenbart. Nachdem Er das Werk der Versöhnung vollbracht und Gott in allem vollkommen verherrlicht hat, was die Frage der Sünde betrifft, hat Christus Seinen Platz zur Rechten Gottes eingenommen und den Heiligen Geist herniedergesandt, um in allen wahren Gläubigen zu wohnen und sie dem Bilde ihres verherrlichten Hauptes gleichförmig zu machen. Das normale Bild eines Christen ist ein vom Heiligen Geist erfüllter Mensch, der völlig ausgefüllt ist von einem auferstandenen und erhöhten Heiland und inmitten aller Umstände und Verhältnisse des menschlichen Lebens Dessen Tugenden verkündigt. Das, und das allein, ist wahres Christentum. Seien wir nicht mit weniger zufrieden! Mögen wir durch den kraftvollen Dienst des Heiligen Geistes unseren Blick unverwandt auf den Herrn Jesus gerichtet haben und so Abbilder von dem sein, was Er ist!

Betrachten wir noch kurz den letzten Teil unseres Gegenstandes: der Christ als „Nachahmer Gottes“. „Seid nun Nachahmer Gottes als geliebte Kinder“, sagt der Apostel in Epheser 3,1. Welch ein kostbares Vorrecht! Ist es nicht wunderbar, daß Geschöpfe wie wir berufen sind, es zu genießen? Es übersteigt in Wahrheit alles menschliche Denken und offenbart in bezeichnender Weise die unumschränkte Gnade Gottes und die herrlichen Ergebnisse der Erlösung. Wir waren „tot in unseren Vergehungen und Sünden … Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht … Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittelst des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, auf daß niemand sich rühme“ (Eph 2).

Wir sind also durch die Gnade Gottes in die Stellung und die Beziehungen als „geliebte Kinder“ eingeführt. Das ist von Anfang bis Ende ein göttliches Werk. Der Herr sei dafür gepriesen! Wir werden nicht aufgefordert, „Nachahmer Gottes“ zu sein, um „geliebte Kinder“ zu werden. Was würde aus uns werden, wenn es so wäre? Nein, es sind die reiche Barmherzigkeit Gottes und Seine große Liebe, der in dem vollkommenen Werke Christi ausgeführte Ratschluß Gottes und die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, die uns in die ewige Kindesstellung eingeführt und uns angenehm gemacht haben gemäß der ganzen Vortrefflichkeit des „Vielgeliebten“. Und all diese herrlichen Segnungen werden uns als uns gehörend vorgestellt, bevor ein einziges Wort der Ermahnung an uns gerichtet wird. Die göttliche Reihenfolge im Haushalt der Gnade ist Vorrecht und Verantwortlichkeit, im Gegensatz zum Gesetz. Man erlangt nicht Segnungen, indem man der Verantwortlichkeit entspricht, sondern wir genügen ihr durch den Genuß der Vorrechte, die uns geschenkt sind.

Wie werden wir nun Nachahmer Gottes? Die Antwort auf diese Frage geben uns die letzten Verse von Matthäus 5. Der Herr zeigt uns dort unseren himmlischen Vater als Vorbild, Der „seine Sonne aufgehen läßt über Böse und Gute, und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte“, und Er fügt hinzu: „Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“.

Das ist ebenso einfach wie schön und praktisch. Unser Vater handelt heute der Welt gegenüber in unvergleichlicher Gnade – wenn Er sie auch später in Gerechtigkeit richten wird – und das ist unser Vorbild.

Da der Sohn dem Vater ähnlich sein muß, müssen wir Ihn nachahmen, um der Ausdruck dessen zu sein, was Er ist. Wir haben das Vorrecht, in unserem ganzen Betragen, Wesen, Denken, überhaupt in unserem ganzen Leben, die wunderbare Gnade unseres himmlischen Vaters zu offenbaren. Und wir können das nur, wenn wir unser göttliches Vorbild studieren. Welche herrliche Aufgabe ist dies! Möchten wir uns mit ungeteiltem Herzen durch die Kraft des Heiligen Geistes ihr hingeben! Je ernster und gründlicher wir unser Vorbild betrachten, desto getreuer werden wir es wiedergeben. Je mehr wir die himmlische Atmosphäre in der Gegenwart unseres Vaters einatmen, Seine Gnade, Liebe und Güte genießen, desto gesegneter werden unsere Pfade sein.

Geliebter Leser, indem wir schließen, bitten wir dich dringend, mit uns zum Herrn zu flehen, daß diese großen Wahrheiten, mit denen wir uns beschäftigen, mit immer neuer Kraft in unseren Herzen und den Herzen aller Geliebten des Herrn wirksam sein möchten. Sie vollständig zu behandeln, würde Bände erfordern. Der Geist Gottes allein kann uns befähigen, sie zu ergreifen, sie zu verwirklichen und ihre Kraft in allen Umständen unseres täglichen Lebens zu offenbaren.

Wir können zusammenfassend auf die Frage: „Was ist ein Christ?“ die erschöpfende Antwort geben: Ein Christ ist ein Kanal des Heiligen Geistes, er strahlt Christum wider, und er ist ein Nachahmer Gottes. Und wenn jemand fragt: „Wie kann dies geschehen?“, lautet die Antwort: Keinesfalls durch gesetzliche Anstrengung, sondern allein durch den einfachen und stillen Genuß der Segnungen, die uns durch die Gnade in einem auferstandenen Christus geschenkt und durch den Heiligen Geist in den inspirierten Schriften geoffenbart worden sind.

Und vergessen wir nicht, daß der wahre Genuß unserer Vorrechte stets von dem ernsten Begehren begleitet sein wird, der damit verbundenen Verantwortlichkeit zu entsprechen. Leider ist es wahr, daß wir armselige Geschöpfe sind und häufig fehlen, aber wir können den zuverlässigen Grundsatz aufstellen, daß wir unsere Vorrechte nicht genießen werden, wenn wir unsere Verantwortlichkeit vernachlässigen. „Wer da sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht. Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet. Hieran wissen wir, daß wir in ihm sind. Wer da sagt, daß er in ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat“ (1. Joh 2,4-6). Welchen Beweis haben wir, daß die Wahrheit im Herzen ist, wenn sie sich nicht im Leben offenbart?

Wir müssen also festhalten: Wenn wir Kanäle des Segens sein wollen, müssen wir trinken; wünschen wir Christum widerzustrahlen, müssen wir Ihn anschauen; wollen wir Nachahmer sein, müssen wir unser Vorbild studieren.

Der Herr gebe, daß diese Dinge im praktischen Leben eines jeden Gliedes des Leibes Christi verwirklicht werden, damit zu sehen ist, daß das Christentum nicht eine Sammlung von Meinungen oder nur ein System von Verordnungen ist, sondern eine lebendige, göttliche Wirklichkeit, die sich in einem Leben tiefer Ergebenheit unter Christus und Seine Interessen auf der Erde kundtut.

C. H. M.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1963, Seite 1

Bibelstellen: Joh 7, 38; 2Kor 3, 18; Eph 5, 1