Noch siebentausend übriggeblieben

7. Könige 19,18

*) Der Schreiber dieses Aufsatzes beschäftigt sich nicht mit dem öffentlichen Zeugnis für Jehova inmitten Seines abtrünnigen, dem Götzendienst verfallenen Volkes, wie es in Elias dargestellt wird, sondern mit denen, die, vielleicht aus Menschenfurcht, im Verborgenen an Jehova als dem wahren Gott Israels festgehalten haben Da Elia der einzige öffentliche Zeuge war, meinte er „allem übriggeblieben“ zu sein Gott belehrt ihn eines anderen.

Der Höhepunkt in der Geschichte des Propheten Elia war zweifellos der Augenblick, als er vor den vierhundertfünfzig Propheten des Baal und vor den Augen der abtrünnigen Israeliten aus den zehn Stämmen einen Altar im Namen Jehovas aus zwölf Steinen baute „nach der Zahl der Stämme der Söhne Jakobs“ und damit Gott Gelegenheit gab zu beweisen, daß Er noch immer der Gott Israels war (1. Kön 18,31). Was mußte es für Jehova gewesen sein, inmitten des finstersten Götzendienstes einen Mann zu sehen, der treu an Seinen Gedanken über ganz Israel festhielt und der diese Einheit furchtlos öffentlich vertrat. Wir bewundern den Glauben dieses Mannes, der Israel geeint sah, obwohl von dieser Einheit äußerlich nichts mehr zu erkennen war (und bis heute noch immer nichts zu erkennen ist). Sein Glaube stützte sich auf die Verheißungen Jehovas, und da war es für ihn bedeutungslos, daß die Umstände so ganz anders auszusehen schienen.

Aber im 19. Kapitel meinen wir einen ganz anderen Elia vor uns zu haben. Sahen wir ihn eben noch vor Jehova und auch vor Ahab stehend, finden wir ihn hier vor einer Frau fliehen. Und dennoch – so schnell wankt das menschliche Herz! – es ist derselbe Mann; doch wo ist sein Glaube geblieben? Was war geschehen, daß er die Macht Jehovas, die ihm so sichtbar beigestanden hatte, nicht mehr für ausreichend hielt, um ihn vor Isebel zu schützen? Der weitere Verlauf des Kapitels macht es uns klar: „Ich habe sehr geeifert für Jehova,… die Kinder Israel haben deinen Bund verlassen …; und ich bin allein übriggeblieben, und sie trachten danach, mir das Leben zu nehmen“ (Kap. 19,10.14). Sein Blick war nicht mehr nur auf Jehova gerichtet, sondern auch auf sich selbst und auf die Widersacher. Schon als ganz Israel zum Berge Karmel versammelt wurde, hatte er behauptet: „Ich allein bin übriggeblieben“ (Kap. 18,22). Solange er die Rechte Gottes vor der Öffentlichkeit vertrat, hatte Gott dazu geschwiegen; denn es ist nicht Gottes Weise, Seine Zeugen vor den Augen der Ungerechten zurechtzuweisen. Nichtsdestoweniger war Elia im Unrecht, und jetzt war der Zeitpunkt gekommen, daß Gott ihn beiseite nehmen mußte, weil er Sein Volk vor Ihm anklagte (Rom. 11,2 – 4). Stimmte es denn nicht, daß die Kinder Israel die Altäre Jehovas niedergerissen und Seine Propheten mit dem Schwerte getötet hatten? Ganz gewiß war das Verderben dieses Volkes groß. Doch Gott hatte noch nicht vor, es dahinzugehen. Jehova war nicht in dem Winde, nicht in dem Erdbeben und nicht in dem Feuer. Elia hätte am liebsten das Gericht Gottes an Israel vollstreckt gesehen, wie auch später Jona in Ninive (der ganz ähnliche Worte gebraucht wie Elia, Jona 4,1-4), oder wie die Jünger des Herrn, die Feuer vom Himmel herabkommen lassen wollten und sich dabei – wie bezeichnend! – auf Elia beriefen (Lk 9,54). Der Regen, den Gott auf das ernstliche Gebet Ellas kommen ließ, bewies, daß Er Absichten des Segens und der Gnade mit Seinem Volke hatte. Aber Elia ging nicht in die Gedanken Gottes ein. Darum mußte sein Dienst enden; denn wenn der Knecht nicht mehr mit den Plänen seines Herrn übereinstimmt, kann er keinen Dienst mehr tun.

Dann teilt Jehova ihm mit, warum Er an diesem schuldigen Volke noch Gnade üben wollte: „Aber ich habe mir siebentausend in Israel übriggelassen, alle die Knie, die sich nicht vor dem Baal gebeugt haben, und jeden Mund, der ihn nicht geküßt hat“ (Kap. 19,18). Inmitten dieses Volkes hatte sich Gott einen Überrest erhalten, und um seinetwillen konnte Er Gnade erweisen. „Fern sei es von dir,… den Gerechten mit dem Gesetzlosen zu töten, so daß der Gerechte sei wie der Gesetzlose; fern sei es von dir!“ (1. Mo 18,25). So konnte einst Abraham zu dem barmherzigen Gott reden. Elia dagegen wähnte sich allein in einer bösen Welt, aber Gott mußte ihn belehren, daß Er noch siebentausend andere hatte, die treu geblieben waren inmitten des allgemeinen Verfalls. Wie war es möglich, daß Elia nicht einen einzigen von ihnen kannte? Hatte Gott nicht schon einen über seinen Weg geführt? Denken wir an Obadja, von dem ausdrücklich gesagt wird, daß er Jehova sehr fürchtete (Kap. 18,3). Durch ihn erfuhr Elia von weiteren hundert Propheten Jehovas, die Obadja zu je fünfzig in einer Höhle versteckt und versorgt hatte, so daß sie vor dem Zugriff Isebels bewahrt blieben. Es scheint fast so, als ob Elia diesen zwar furchtsamen, aber doch treuen Mann nicht recht ernst nahm, vielleicht weil er in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Hause Ahabs stand. Aber Jehova sah ihn und nahm Kenntnis von seinem Tun.

Elia hatte sich in den Gedanken verirrt, der einzige Prophet Jehovas zu sein; so mußte Gott ihm zeigen, daß Er auf seinen Dienst nicht angewiesen war. „Und Elisa, den Sohn Saphats, von Abel-Mehola, sollst du zum Propheten salben an deiner Statt“ (Kap. 19,16). Da war ein anderer Getreuer, durch den Gott in Gnaden unter den Seinen segnen wollte. So wurde Elisa der Prophet der Gnade. Und der Dienst Eli-sas galt insbesondere dem Überrest aus Israel, der die Zeugnisse Jehovas bewahrt hatte (Ps 119,2), dargestellt in den „Söhnen der Propheten“, deren Dienst – beachtenswert genug – erst nach der Beiseitesetzung Elias in Erscheinung tritt (Kap. 20,35 – 43). Und das Vorhandensein von Prophetensöhnen setzt voraus, daß es Propheten gab, was uns durch die Mitteilung über die Glaubenstat Obadjas bereits bekannt ist. Ein solcher Prophet ist in 1. Könige 20,13 am Werke – namenlos zwar, aber von Gott gekannt und beauftragt, denn er kann sagen: „So spricht Jehova…“ Auch sei noch auf Micha, den Sohn Jimlas, hingewiesen, der ausdrücklich „Prophet Jehovas“ genannt wird (Kap. 22,7. 8).

Dann finden wir in Kapitel 21 Naboth, den Jisreeliter, der zwar nicht zu den Propheten gehörte, zweifellos aber zu den siebentausend Übriggebliebenen zu rechnen ist, denn er beruft sich Ahab gegenüber auf Jehova und auf die Segnungen, die Gott den Vätern hatte zuteil werden lassen, indem er entgegnet: „Das lasse Jehova fern von mir sein, daß ich dir das Erbe meiner Väter geben sollte!“ Diese Standhaftigkeit brachte ihm den Märtyrertod ein.

Aber danach sehen wir, daß Elia noch einmal ein Wort an Ahab empfängt: „Hast du gemordet und auch in Besitz genommen?“ Was Isebel Elia gegenüber angedroht hatte, nämlich ihn zu töten, hatte sie bei Naboth vollzogen. Zweifellos eine schreckliche Tat, an der Ahab sich durch seine Schwachheit mitschuldig gemacht hatte. Aber die Schrift läßt uns erkennen, daß das Gewissen Ahabs noch nicht restlos verhärtet war, und Jehova weist Elia ausdrücklich darauf hin, denn das war die Lektion, die Elia zu lernen hatte. „Hast du gesehen, daß Ahab sich vor mir gedemütigt hat? Weil er sich vor mir gedemütigt hat, will ich das Unglück in seinen Tagen nicht bringen, in den Tagen seines Sohnes will ich das Unglück über sein Haus bringen.“ Elia mußte erkennen, daß Jehova gnädig und barmherzig ist, „langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit“ (2. Mo 34,6). Jede Regung des Gewissens zur Buße wird von Gott zur Kenntnis genommen, und es ist kaum daran zu zweifeln, daß Gott diesem schuldigen König, der „sich verkauft“ hatte, um zu tun, was böse war in den Augen Jehovas (Kap. 21,25), noch eine Frist zur Umkehr geben wollte. „Er ist langmütig gegen euch, da er nicht will, daß irgendwelche verloren gehen, sondern daß alle zur Buße kommen“ (2. Pet 3,9). Es scheint so, als ob Elia die Gedanken Gottes verstanden hatte, denn in 2. Könige 1 finden wir Elia, wie er in Übereinstimmung mit den Anweisungen Jehovas sowohl Gericht auszuüben als auch Gnade zu erweisen versteht (Verse 10. 12.15).

Der Dienst Elias fiel in eine dunkle Zeit, in der Isebel alle Macht ausübte. Sie war eine Frau aus den Nationen, die Tochter des Königs der Zidonier, und verführte Israel zum Baalsdienst. Aber sie konnte ihren verderblichen Einfluß nur deshalb so ungehindert ausüben, weil der König Israels sich mit ihr verbunden hatte. Diese Verbindung Ahabs mit einer heidnischen Frau war die Wurzel des Verderbens. Wie weit war doch das Königtum entfernt von den Gedanken Gottes, wie sie z. B. im Königtum Davids und z. T. auch Salomos zum Ausdruck kamen: nämlich eine Vorschattung zu sein vom Königtum des Herrn Jesus, wenn Er in Gerechtigkeit über Israel und die Erde herrschen wird! Beim Königtum Ahabs war dieses Bild genau ins Gegenteil verkehrt: seine Regierung stand in Verbindung mit Götzendienst (Dämonen), und er selbst war das willenlose Werkzeug in der Hand einer ungerechten Frau.

In der Christenheit finden wir diese Kennzeichen wieder. Nach den Ratschlüssen Gottes hätte die Versammlung auf Erden die Herrlichkeiten und Tugenden ihres Herrn bekannt machen sollen; stattdessen hat sich die Kirche mit der Welt verbunden, ja sich selbst eine Herrscherrolle angemaßt, die nur dem Herrn zukommt. Wir finden das in den Sendschreiben an Pergamus und Thyatira dargestellt, wo gesagt wird, daß die Versammlung da wohnte, wo der Thron des Satans ist und wo später das Weib Jesabel geduldet wurde, die sich eine Prophetin nannte und die Knechte des Herrn zum Götzendienst und zur Hurerei verleitete (Off b. 2,13. 20).

Elia tat einst sein Glaubenswerk inmitten eines irregeführten Volkes, furchtlos zunächst und mit gottgewirkter Autorität. Auch die Christenheit hat gegen Ende des Mittelalters solche Gottesmänner gesehen; denken wir nur an die Reformatoren, durch welche Gott große Erweckungen in den sogen, „christlichen“ Ländern wirken konnte. Aber ähnlich wie Ellas‘ Dienst als Folge der Drohungen Isebels vorzeitig endete, so war es auch mit dem Dienst der Reformatoren und ihrer Nachfolger: obwohl sie sich wieder zur Lehre der Schrift zurückbewegten, blieben sie doch auf halbem Wege stehen. Es war nicht eine Rückkehr zu dem, was von Anfang war (1. Joh 1,1), zu der unverfälschten Lehre der Apostel (Apg 2,42). Menschenfurcht, Rücksichtnahme auf Fürsten und Regierungen sowie politische Strömungen behinderten die Ausbreitung der vollen Wahrheit, so daß schon bald die Wirkung des Geistes Gottes in den Kirchen ersetzt wurde durch menschliche Satzungen (Liturgie). „Du hast den Namen, daß du lebst, und bist tot“ (Offb. 3,1).

Aber Gott ist nie ohne Knechte, Er sah auch jetzt noch einen Überrest von siebentausend, der seine Knie nicht vor dem Baal gebeugt hatte, und dessen Mund ihn nicht geküßt hatte. Solche standhaft bleibenden Gläubigen gab und gibt es zu allen Zeiten, auch in der gegenwärtigen Haushaltung. Ihre charakteristischen Kennzeichen sind nicht so sehr aufsehenerregende Taten oder glänzende Gaben in der Weise eines Elia, sondern treues Festhalten an dem, was Gott sie hat verstehen lassen, wie wir es bei einem Obadja oder Naboth sehen. Ihr Verständnis mag gering sein und sich auf wenige Grundsätze des Glaubenslebens beschränken, wie z. B. Bereitschaft zum Dienst an den in Not befindlichen „Hausgenossen des Glaubens“ (Obadja) oder Festhalten am Erbe der Väter (Naboth). Sie nehmen nicht den Platz des Zusammenkommens zum Namen des Herrn Jesus ein, ebensowenig wie jene siebentausend aus Israel ihren Gottesdienst und ihre Anbetung im Tempel zu Jerusalem darbrachten, wie es Gott angeordnet hatte. Dennoch verachtet Gott sie nicht. Wie Er einst in Israel Propheten erweckte, so gibt Er auch unter ihnen noch Knechte, die mutig gegen das religiöse Böse (Irrlehren) auftreten, um den „glimmenden Docht“, das göttliche Leben, nicht auszulöschen, sondern anzufachen.

Laßt uns, die wir – bildlich ausgedrückt – im Tempel zu Jerusalem, d. h. auf schriftgemäßer Grundlage uns versammeln, in unseren Herzen Raum für jene Gläubigen haben. „Der Herr kennt, die sein sind“, auch wenn wir gewöhnlich nichts mit ihnen zu tun haben und oft nichts von ihnen wissen. Seien wir überzeugt, daß der Herr auch sie in Seinem Werke gebraucht, oft gerade dort, wo wir nicht hingehen können. Tragen wir dem Rechnung, indem wir im Gebet für sie eintreten vor dem Thron der Gnade!

W.K.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1978, Seite 255

Bibelstellen: 1Kö 19, 18

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