Christus als Gegenstand für das Herz

(Ein Brief an einen Freund)

Lieber…, ich denke oft an meinen Besuch daheim zurück, an all das, was sich ereignete. Ich war sehr glücklich darüber, wieder einmal bei ihnen zu sein und nach so langer Abwesenheit die Fäden der alten Beziehungen wieder aufzugreifen. Sicher, gewisse Veränderungen waren nicht zu übersehen, aber weißt Du, was mir mehr auffiel als alles andere und was mir sehr kostbar war? Daß in meinen kleinen Plaudereien mit M. ihre Bereitschaft offenbar wurde, über unseren Herrn Selbst zu reden. Vielleicht rührt meine besondere Freude darüber daher, daß ich selbst erst kürzlich aufgewacht bin, für mich selbst den Unterschied zwischen einer Wahrheit, mag sie noch so gesegnet sein, und Dem zu sehen, der Selbst in Seiner Person die Wahrheit ist – den Unterschied zwischen den Dingen, den herrlichen Dingen, die für uns getan wurden, und Dem, der sie getan hat.

Ich war eben ein wenig ausgegangen, und auf dem Wege kam mir ein Gedanke. Ich hatte darüber nachgedacht, was ich geschrieben hatte, hatte mich darüber gewundert, daß ich so wenig von der Wirklichkeit eines persönlichen, liebenden Heilandes kannte; da kam mir dieser Vers in den Sinn: „Wie neugeborene Kindlein seid begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, auf daß ihr durch dieselbe wachset zur Errettung.“ Ich weiß nicht, wie es bei Dir ist, aber ich finde, daß mir irgendwie irgend jemand eine erstaunliche Anzahl von Hindernissen in den Weg legt, um mich daran zu hindern, täglich eine kurze, stille Zeit zum Lesen meiner Bibel zu haben. Und während ich darüber nachsann, worin meine so geringe Vertrautheit mit dem Herrn Jesus ihre Ursache fände, kam dieser Vers als Antwort auf meine Frage vor mich.

Ich bin über diesen Punkt vollkommen klar: Solange wir einen Gegenstand direkt vor unsere Augen halten, werden wir diesen einen Gegenstand und kaum noch etwas anderes sehen. Nun, der eine Gegenstand, der stets vor meinen Augen war, war ich selbst, war mein ständiges Versagen. Mir ist klar, daß es zur tiefen Verunehrung des Herrn ist und daß ich, solange ich mit mir beschäftigt bin, Sein vollbrachtes Werk verkleinere; denn dieses Werk hat mir das Recht erworben, mich selbst zu vergessen und mich der Tatsache zu erfreuen, daß ich in Christus allein angenommen bin. In diesen Tagen, wo „die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit“, ist es einer der wichtigsten Grundsätze, der heute alles für den Christen regiert, daß uns alle Dinge auf Grund dessen gegeben sind, was Gott für uns ist, und nicht auf Grund dessen, was wir für Gott sind. Wenn es um unsere Errettung oder vielmehr um unser zukünftiges Glück geht, so verwirklichen wir diesen Grundsatz; was aber unser Glück hier angeht, so vernachlässigen wir ihn oft. Wir gehen Tag für Tag voran, indem wir auf uns selbst schauen und uns auf unsere armselige Weise verurteilen, weil wir dies oder das nicht für Gott sind. Ich glaube, daß der Schlüssel für das ganze Geheimnis darin liegt, daß wir nicht sehen, wie schlecht wir sind. Würden wir es sehen, wir würden, den Ratten gleich, das sinkende Schiff verlassen.

Es hat lange gedauert, bis ich verstand, was für ein Trost in dem dritten Vers von Römer 8 liegt: „Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleische verurteilte.“ Ich glaube, darin liegt für uns eine unermeßliche Wahrheit, da wir oft den besten Teil unserer Zeit mit geringfügigen Verurteilungen von uns selbst verbringen. Aber dieser Vers zeigt uns, daß das, was wir Tag für Tag in kleinen Schritten zu tun versuchen, Gott ein für allemal am Kreuz getan hat. Wir wissen ganz genau, daß wir aus dem Fleisch nichts Gutes hervorbringen werden; und doch ist es unsere Schlinge, daß wir uns, ohne es zu wissen, täglich als im Fleische betrachten und verurteilen. Wir haben irgendwie die verschwommene Vorstellung, daß wir nicht das Fleisch, sondern uns selbst als solche verurteilen, die in Christo sind. Ich glaube, es ist die Schlinge des Vogelstellers. Wären meine Augen mehr geöffnet, um das zu sehen, was die Schrift „einen Menschen in Christo“ nennt, so würde ich Christus, und Christus allein sehen, und nicht den Menschen. „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“ „Da ihr den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen und den neuen angezogen habt… wo nicht ist Grieche und Jude, Beschneidung und Vorhaut, Barbar, Scythe, Sklave, Freier, sondern Christus alles und in allen.“ Dieses versagende „ich“ ist der alte Mensch, die Sünde im Fleische, und ich vergeude meine Zeit, wenn ich es Stückchen für Stückchen verurteile und nicht sehe, daß ich mit dem beschäftigt bin, was Gott bis zum Äußersten verurteilt hat, als Christus für uns am Kreuz zur Sünde gemacht wurde. Nur Gericht ist dieser Sünde im Fleische angemessen, und das Gericht ist ausgeführt worden. Wenn wir so weit gekommen sind zu glauben, daß „in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt“, dann brauchen wir keine Furcht davor zu haben, uns selbst zu vergessen. Solange, wie wir uns selbst nicht vergessen, werden wir auf uns sehen und elend sein; wenn wir uns aber vergessen, oder wenn wir es ablehnen, uns selbst zu betrachten, dann werden wir glücklich sein und uns der Freiheit erfreuen, zu der uns Christus freigemacht hat. Dann werden wir auch Augen haben, die frei sind, Den anzuschauen, von dem Gott gesagt hat, daß Er a//es sei. Dann, und nicht vorher, werden wir „mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauen“ und „nach demselben Bilde verwandelt werden von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,18).

Wunderst Du Dich, daß dieser eine Gegenstand meinen ganzen Brief füllt? Und schreibe ich als jemand, der das alles verstanden hat, der sich in der Wirklichkeit dieser Dinge erfreut? Es ist nicht so. Lange Zeit bin ich herumgetappt, herumgetappt, herumgetappt; Du bist selbst Zeuge dieses Herumtappens geworden, als ich vor einigen Monaten daheim war. Was ich schreibe, ist, wie ich glaube, die Frucht der ziellosen Wanderung. Es ist ein Gegenstand, von dem ich sehr erfüllt bin. O, daß uns der Herr die Augen öffnen könnte, damit wir sähen, daß wir in Seinem vollbrachten Werk nicht nur die Vergebung unserer Sünden, sondern auch die Befreiung von uns selbst erlangt haben! Ungeahntes Glück liegt am Grunde dieser Wahrheit. Viel Frucht für Christus, unseren Herrn, würde das Ergebnis sein, wenn wir sie im Glauben ergreifen würden. Aber nun muß ich Auf Wiedersehen sagen. Der Herr sei mit Dir!

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1982, Seite 225

Bibelstellen: 2Kor 3, 18