Kurze Einführung in den Hebräerbrief

Der Brief an die Hebräer ist an Personen aus den Juden gerichtet, die an den Herrn Jesus glaubten. Der Inhalt des Briefes zeigt uns klar, daß er geschrieben wurde, um diese Gläubigen in der Wahrheit des Christentums mit allen Vorrechten und Segnungen zu gründen und sie so von dem jüdischen System zu befreien, mit dem sie durch Geburt verbunden waren.

Um die Bedeutung der Belehrung in diesem Brief zu verstehen, müssen wir uns des Charakters dieses religiösen Systems erinnern, mit dem der jüdische Überrest verbunden gewesen war. Es war eine nationale Religion, die jenen gegeben worden war, die durch natürliche Geburt von Abraham abstammten. Es stellte nicht die Frage nach der neuen Geburt; denn es war lediglich für die Erde bestimmt und hatte keine Auswirkung für den Himmel. Es regelte das Verhalten des Menschen zu Gott und zum Nächsten und verhieß irdisches Leben mit irdischen Segnungen denen, die seinen Vorschriften gemäß wandelten.

Diese Religion hatte als verbindendes Zentrum einen sichtbaren Tempel – das kostbarste Gebäude, das je von Menschen errichtet worden war – mit materiellen Altären, auf denen materielle Opfer dargebracht wurden durch eine besondere Klasse amtierender Priester, die eine äußerliche Gottesanbetung ausübten, begleitet von bis ins kleinste geregelten Zeremonien entsprechend einem vorgeschriebenen Ritual.

Sie wandte sich vornehmlich an den natürlichen Menschen, um zu beweisen, ob im Menschen nach dem Fleische irgend etwas ist, das der Güte Gottes zu entsprechen vermag. Diese Religion, die jede Einzelheit des menschlichen Lebens, von der Geburt bis ins hohe Alter, regelt, war gegeben worden, um die irdische Wohlfahrt des Menschen, seine Ruhe und sein Glück zu sichern.

Im Ergebnis diente dieser Appell an den natürlichen Menschen nur dazu zu zeigen, daß im nichterneuerten Menschen nichts ist, womit er Gott dienen könnte. So kam es dahin, daß dieses jüdische System, das anfänglich von Gott gegeben worden war, im Verlauf seiner Geschichte durch den Menschen verdorben wurde. Der Gipfelpunkt der Bosheit des Menschen unter diesem System war die Verwerfung und Ermordung des Messias.

Nachdem die Juden so den Becher ihrer Ungerechtigkeit gefüllt hatten, wurden sie reif zum Gericht. Ein System noch länger zu ertragen, das in der Hand des Menschen so weit entartet war, daß es den Sohn Gottes ermordete, hieße Seine Gerechtigkeit verdunkeln und die Sünde des Menschen entschuldigen. Daher ließ Er dem Gericht seinen Lauf, und zur bestimmten Zeit wurde Jerusalem zerstört und die Nation zerstreut.

Es lag jedoch noch eine andere Absicht im Gesetz. Seine Vorschriften regelten nicht nur das Leben des Menschen, indem sie ihm seine Pflichten gegenüber Gott und dem Nächsten zeigten, sondern das ganze System war der Schatten der zukünftigen Güter. Sein Heiligtum war ein Muster der Dinge in den Himmeln, sein Priester-tum sprach von dem priesterlichen Dienst Christi, und seine Opfer schauten voraus auf das große Opfer Christi.

Nachdem Christus, der herrliche Gegenstand all der Schatten, gekommen war, hatte das jüdische System seinen Zweck als ein Muster der Dinge, die kommen sollten, erfüllt. Es ist deshalb beiseite gesetzt worden, erstens, weil der Mensch es verdorben hat; zweitens, weil Christus seine Erfüllung ist.

Wir haben uns ferner daran zu erinnern, daß es innerhalb dieses Systems, obwohl es sich an den Menschen im Fleische wandte und die große Masse nur in einer äußerlichen und formellen Beziehung zu Gott ließ, doch solche gab, die durch den Glauben deutlich in einer wahren Beziehung zu Gott standen; und als Christus kam, erkannten sie Ihn als den Messias an. Sie bildeten nur einen Überrest der Nation undwerden in diesem Brief als schon in Beziehung zu Gott stehend anerkannt, noch bevor das Fundament des Christentums gelegt worden war.

An diesen gottesfürchtigen Überrest ist der Brief gerichtet, um ihn in die neue und himmlische Beziehung des Christentums zu bringen, indem er ihn von der irdischen Religion des Judentums löst.

Wenn nun das jüdische System durch die Bosheit des Menschen und das Kommen Christi beiseite gesetzt worden ist, so ist der Weg für die Einführung des Christentums geöffnet. Wann immer Gott das Alte beiseite setzt, geschieht es, um etwas Besseres einzuführen. Während Gott das alte System beiseite setzte, sonderte Er einen glaubenden Überrest aus den Juden ab, indem Er ihn in den christlichen Bereich einführte. Dieser jüdische Überrest hatte natürlich starke Bindungen zur Religion seiner Väter. Die Bande der Natur, die Liebe zum Vaterland, die irdischen Aussichten und die Vorurteile der Erziehung – alles war dazu angetan, sie an das System zu binden, das Gott beiseite gesetzt hatte. Es war daher sehr schwierig für sie, sich in den himmlischen Charakter des Christentums hineinzudenken. Noch mehr: Während der Tempel noch bestand und die aaronitischen Priester noch sichtbare Opfer darbrachten, bestand für jene, die sich zum Christentum bekannt hatten, die ständige Gefahr, sich zum Judentum zurückzuwenden.

Um dieser Neigung entgegenzutreten und um unsere Seelen in der christlichen Lehre zu gründen, stellt der Geist Gottes uns in diesem Brief folgendes vor:

1. Die Herrlichkeiten der Person Christi und Sein Platz im Himmel (Kapitel 1 und 2);

2. Das Priestertum Christi, das Er für Sein Volk auf seinem Weg zum Himmel ausübt (Kapitel 3 bis 8);

3. Das Opfer Christi, das dem Gläubigen den Himmel öffnet und ihn für den Himmel passend macht (Kapitel 9 und 10);

4. Der gegenwärtige Zugang zum Himmel, wo Christus ist (Kapitel 10);

5. Der Pfad des Glaubens, der zu Christus in den Himmel führt (Kapitel 11);

6. Die unterschiedlichen Wege, die Gott benutzt, um unsere Füße auf dem Pfad zu bewahren, der zu Christus in den Himmel führt (Kapitel 12);

7. Die Glückseligkeit des Platzes der Verwerfung mit Christus „außerhalb des Lagers“ auf Erden (Kap. 13).

So wird in diesem Brief klar, wie dauerhaft und gesegnet der Himmel für uns aufbewahrt ist. Es ist in Wahrheit der Brief der „geöffneten Himmel“. Die Darstellung des himmlischen Charakters des Christentums gibt diesem Brief seinen besonderen Wert in einer Zeit, wo die Christenheit den wahren Charakter des Christentums verloren hat, indem es auf ein weltliches System zur Verbesserung des Menschen reduziert wurde.

Mehr noch, wenn der Geist Gottes diese großen und himmlischen Wahrheiten an unseren Seelen vorüberziehen läßt, dürfen wir sehen, wie sie alles überragen, was vorher bestand, und es beiseite setzen. Die Herrlichkeiten Christi lassen jedes erschaffene Wesen, seien es Propheten oder Engel, verblassen. Das Priestertum Christi setzt das aaronitische Priestertum, das Opfer Christi die vielen Opfer unter dem Gesetz beiseite. Der unmittelbare Zugang zu Gott beseitigt den Tempel und seinen Vorhang. Der Pfad des Glaubens ersetzt das ganze System der sichtbaren Dinge. Der Platz „außerhalb“ macht das „Lager“ mit seiner irdischen Religion überflüssig.

Ferner ist zu bemerken, daß in diesem Brief die Versammlung als solche nicht vorgestellt wird. Sie wird nur einmal erwähnt, und dann als eines unter anderen Dingen, zu denen wir gekommen sind (Kap. 12,23*).

* Die Erwähnung in Kap. 2,12 ist ein Zitat aus Psalm 22.

Es ist die Größe Christi und des Christentums im Gegensatz zum Judentum, die an unseren Seelen vorüberzieht. Wir werden befähigt zu sehen, wie alles im Christentum im Bereich des Glaubens liegt, außerhalb der sichtbaren und sonst mit den Sinnen wahrnehmbaren Dinge. Christus in der Herrlichkeit, Sein Priestertum, Sein Opfer, der Zugang zu Gott, der Pfad des Glaubens, die himmlische Familie und die Dinge, zu denen wir gekommen sind, können nur durch den Glauben geschaut und gekannt werden. Die Wirkungen des Christentums mögen sich allerdings im Leben und im Charakter zeigen und sogar im Leben unbekehrter Menschen Folgen hervorrufen; aber alles das, was das eigentliche Christentum ausmacht, was die Wirkungen im Leben hervorbringt, ist unsichtbar, im Gegensatz zum Judentum mit seiner Anziehungskraft für das Auge und das Gefühl. Darüber hinaus sind wir, indem wir himmlische Dinge des Glaubens besitzen, zu Segnungen gelangt, die vor Gott und deshalb beständig sind. Jetzt sind wir noch von Dingen umgeben, die vergehen, sich verändern und erschüttert werden, aber durch das Christentum sind wir zu dem gebracht, was nie vergeht, sich nie verändert und nie erschüttert wird. Christus bleibt, Christus ist Derselbe, und alles, was auf Ihn und auf Seine ewige Erlösung gegründet ist, ist dauerhaft und unveränderlich.

Die praktische Wirkung der Lehre des Briefes muß sein, uns von jeder Form irdischer Religion zu lösen, sei es Judaismus oder verderbtes christliches Bekennertum, das sich nach dem Muster des Judentums gestaltet hat. Ja, noch mehr: Wenn die Wahrheit uns auf Erden an einen Platz „außerhalb des Lagers“ stellt, so gibt sie uns einen Platz „innerhalb des Vorhangs“, im Himmel selbst, und macht uns zu Fremdlingen und Pilgern in der Welt, durch die wir zu gehen haben.

H.S.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1982, Seite 324

Bibelstellen: Hebr