Vom Kreuz zum Paradies
„Einer aber der gehenkten Übeltäter lästerte ihn und sagte: Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns! Der andere aber antwortete und strafte ihn …“ (Lk 23,39-43). Wie wunderbar! Während der eine der beiden seine Bosheit immer deutlicher offenbart, indem er von Schmähungen zu Lästerungen fortschreitet, ist bei dem anderen eine völlige, unerwartete Wendung eingetreten. Er „strafte“ den lästernden Genossen – gab „die Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis“ auf, handelte als ein „Kind des Lichts“ (Eph 5,8.11).
Was hatte diese Sinnesänderung in diesem Räuber hervorgerufen? Nur eine Erklärung gibt es: Gott hatte in seinem Herzen ein stilles, verborgenes Werk gewirkt, um eine schuldige Seele noch in letzter Stunde dem drohenden Verderben, der ewigen Qual, zu entreißen. – Lukas allein berichtet uns dies; er zeigt uns den Menschen in den Tiefen seiner Bosheit, aber auch die Gnade in ihrer ganzen anbetungswürigen Entfaltung.
Denn hier kam keines Menschen Tun und Wirken in Frage. So gewiß wir verantwortlich sind, die Menschen um uns her auf ihren verlorenen Zustand und das Heil in Christus hinzuweisen – wenn Gott nicht wirkt, so ist all unser Wirken wertlos. Wie das Werk für den Sünder, so ist auch das Werk an dem Sünder ganz allein Gottes Werk, und in inniger Verbindung mit dem einen, dem Werke auf Golgatha, zeigt uns Gottes Wort hier, wenn wir so sagen dürfen, ein Musterbeispiel des anderen Werkes, desjenigen an der Seele, in der Bekehrung des „Schachers am Kreuze“.
„Der andere aber antwortete und strafte ihn und sprach: Auch du fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist?“ (Vers 40). Hier sehen wir einfach und klar die erste kostbare Frucht dieses verborgenen göttlichen Wirkens: die Furcht Gottes. Er, der vor kurzem noch selbst geschmäht hatte, fand es nun unfaßlich, daß ein Mensch angesichts des Todes den heiligen Gott und ewigen Richter nicht fürchten sollte, vor den sie beide in Kürze treten mußten. Furcht Gottes war eingezogen in sein Herz, und sie ist, wie uns Gottes Wort sagt, „der Erkenntnis Anfang“ (Spr 1,7). Denn diese Furcht Gottes führt den am Kreuze Hängenden in das göttliche Licht und ruft zweierlei hervor (was sie immer hervorrufen wird, wenn sie tief und echt ist): Er verurteilt sich und rechtfertigt Gott. Bei dem anderen Übeltäter finden wir genau das Gegenteil; er glaubt einen Anspruch auf Rettung zu besitzen und ist voller Vorwurf gegen den Herrn: „Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns!“ Aber dieser hier sagt: „Und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan“ (Vers 41).
Zwei Fehler begeht der Mensch so gern: Er sucht die Schuld anstatt bei sich selbst bei anderen oder gar bei Gott. Wie groß ist die Zahl derer, die andere haftbar machen dafür, daß sie selbst noch nicht Buße taten! Aber die Frage der Schuld ist eine Frage zwischen Gott und dem Sünder allein, und vor dem großen, weißen Thron, am Tage des Gerichts, werden die Toten gerichtet werden „ein jeder nach seinen Werken“ (Offb. 20,13). Wohl „strafte“ der Räuber seinen Gefährten (und warnte ihn dadurch); „auch du“, sagt er, aber dann schließt er sich mit ein und fährt fort: „… und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind.“ Hier sehen wir ein durch nichts gehemmtes Gewissen und ein Herz voller Einfalt; er verurteilt sein Leben, fühlt, daß er den Tod verdient hat, und offenbart so alle Kennzeichen einer aufrichtigen und wahren Buße.
„Ich kenne meine Übertretungen“, ruft David aus, „und meine Sünde ist beständig vor mir. Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt… damit du gerechtfertigt werdest, wenn du redest, rein erfunden, wenn du richtest“ (Ps 51,3.4). Ein gottgewirktes Gefühl über die eigene Schuld schließt andererseits ebenso jene Torheit aus, in der man Gott anklagt, als habe Er es an etwas fehlen lassen. Der Schacher aber rechtfertigt Gott: „Wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan.“ Er hatte sich selbst im Lichte Gottes gesehen, aber das gleiche Licht fiel auch mit ganzer Helligkeit auf Den, der als der eine Mittler zwischen Gott und Menschen dort neben ihm am Kreuze hing.
„Dieser aber…“ – wie schön! Glaubend erkannte der Schacher den Abstand zwischen sich und dem Herrn, obwohl das natürliche Auge in diesem Augenblick keinen zu erkennen vermochte. Obwohl der Herr als ein Gerichteter am Kreuze hing, sah er Ihn doch ohne jede Schuld. Und nicht nur das! „Dieser hat nichts Ungeziemendes getan“: Das ging weiter als die Zeugnisse des Judas, des Pilatus und der anderen alle – es war dem „Schacher am Kreuz“ vorbehalten, die ganze sittliche Vollkommenheit des Herrn zu bezeugen.
Wie wußte die Gnade das Licht in der Seele des Schachers zu vermehren! Obwohl die Herrlichkeit des Gekreuzigten hinter tiefster Erniedrigung verborgen war, erkannte er Ihn als den „Herrn“ an; obwohl es nur eine Krone von Dornen war, die man spottend auf Sein Haupt gedrückt hatte, wandte er sich doch an Ihn als an den rechtmäßigen König des Reiches; obwohl es am Kreuz kein Entrinnen vom Tode mehr gab, verwirklichte er doch, daß der Herr „in seinem Reiche kommen“ werde (Vers 42). In welch kurzer Zeit wirkte der Geist Gottes alles dies in seiner Seele!
An diesen Herrn, der „nichts Ungeziemendes getan“, wendet sich nun der arme, einem qualvollen Tode preisgegebene Mann als an den Einzigen, an den er sich in seiner Not wenden konnte. „Er sprach zu Jesu: Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reiche kommst!“ Er wollte Rettung, gewiß, aber nicht für dieses Leben; und, von Gott selbst belehrt, verstand er, daß er diese Rettung nur finden könne bei dem Erretter. Nicht Linderung seiner Todesqual, nicht Änderung seiner Lage erbittet er (obwohl er wußte, daß, wenn einer, der Herr sie herbeiführen konnte), er wünscht nur das eine, nämlich da zu sein, wo der Herr Jesus sein würde. „Gedenke meiner“ -ach, wenn diese einfache Bitte glaubenden Vertrauens doch noch über viele Lippen käme, solange es an der Zeit ist! Wie bei dem Schacher am Kreuz, so würde auch bei diesen allen die göttliche Antwort alle Erwartungen in den Schatten stellen!
„Wahrlich, ich sage dir“ – mit einem feierlichen Schwur leitet der Gekreuzigte Seine Botschaft an den Räuber ein. „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“ (Vers 43) – „mit mir!“ Das war genau das, wonach den armen Räuber in seiner Sünden- und Todesnot verlangt hatte. Und „heute“, am gleichen Tage, nicht erst in der Zukunft, lag das, was er erbat, für ihn bereit; andernfalls wäre, so wissen wir, sein Wunsch heutigentags noch nicht in Erfüllung gegangen. Und nicht das Reich, sondern das Paradies, der Zustand der Seligen, war das, woran er teilhaben sollte, das von dem Menschen verwirkte Paradies, das Paradies Gottes, wozu der Herr Jesus im Begriff stand, durch Seinen Tod ihm den Zugang zu öffnen. Denn das Werk der Gnade auf Golgatha führte ein Neues ein, nicht die Herrlichkeit des Reiches, sondern das weit herrlichere Teil mit Jesu in ewiger Glückseligkeit und Wonne.
Ach, wäre es anders gewesen, hätte der Herr von dem am Kreuze Hängenden irgendein Tun verlangt, auch nur ein gutes Werk, dann wäre dem Unglücklichen nichts weiter übriggeblieben, als alle Hoffnung fahren zu lassen. Hier sehen wir, was Rechtfertigung aus Glauben ist, aus freier, bedingungsloser, göttlich vollkommener Gnade! „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Das war in der Tat eine Antwort „über alles hinaus, über die Maßen mehr, als was wir erbitten oder erdenken“, eine Antwort der „die Erkenntnis übersteigenden Liebe des Christus“!
So fand der arme Gehängte, in elfter Stunde errettet, ewigen Trost in Dem, der sich anschickte, um seiner Schuld und Sünde willen mit Seinem eigenen Blute vor Gott zu erscheinen. Und auch der Herr fand köstlichen Trost in dieser Erstlingsfrucht Seines bitteren Leidens und Sterbens. Schon am Kreuz hatte Er so „von der Mühsal seiner Seele Frucht“ gesehen und sich gesättigt (Jes 53,11). Er zog nicht allein ins Paradies ein, und wir werden, so viele wir errettet sind, unter der unzähligen Schar der Erlösten droben auch dem Schacher am Kreuz begegnen.
Aber, beachten wir, es stand dort auf Golgatha noch ein drittes Kreuz; welch einen anderen Weg ging der zweite Übeltäter! Er ist, weil er „keinen Raum für die Buße fand“ (Heb 12,17), heute in der Qual und wird sein ewiges Teil in dem Feuer- und Schwefelsee finden. Er hat „um den Preis seiner Seele geirrt“ (Jer 42,20); und „wie werden wir entfliehen, wenn wir eine so große Errettung vernachlässigen“ (Heb 2,3)?
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