Zurück aus den Gefilden Moabs

Es ist stets die Zeit der Ernte, wenn der Wanderer „zurückkehrt“ Das wird uns so lieblich im Buche Ruth vorgestellt „Und sie kamen nach Bethlehem beim Beginn der Gerstenernte“ (Kap 1,22) Wer anders als nur der Gott aller Gnade hat für den Umkehrenden Segnungen bereit, wie groß dessen Abweichen auch gewesen sein mochte Er ist es, der die Seele umkehren macht, Er ist es, der Fülle von Segen für den bereithalt, der gebeugt zurückkommt Und wie das m Bezug auf die einzelne Seele wahr ist, so gilt es auch für die Zurechtbringung Seines irdischen Volkes Israel Hauptsächlich mit dieser letzten Seite mochten wir uns heute ein wenig näher beschäftigen Noomi ist ein Bild des wegen seiner Untreue verwitweten Volkes Israel, und die Propheten sind voll von Hinweisen auf das Zurückkehren der verwitweten Nation zu Gott Das ganze Buch der Klagelieder Jeremias konnte man „Noomi“ oder besser „Mara“ („Bittere“) überschreiben „Wie sitzt einsam die volkreiche Stadt, ist einer Witwe gleich geworden‘ Bitterlich weint sie des Nachts, und ihre Tranen sind auf ihren Wangen Von der Tochter Zion ist all ihre Pracht gewichen In den Tagen ihres Elends und ihres Umherirrens gedenkt Jerusalem all ihrer Kostbarkeiten, die seit den Tagen der Vorzeit waren All ihr Volk seufzt, sucht nach Brot Merket ihr es nicht, alle, die ihr des Weges ziehet1? Schauet und sehet, ob ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mir angetan worden, mir, die Jehova betrübt hat am Tage seiner Zornglut“

Hier wird uns mit bewegenden Worten das Elend Zions vorgestellt, und ein wenig später hören wir das Bekenntnis des Überrestes „Jehova ist gerecht, denn ich bin widerspenstig gegen seinen Mund gewesen …. denn ich bin sehr widerspenstig gewesen“ (Klgl 1)

Im Propheten Hosea sehen wir die wiederherstellende Barmherzigkeit des Herrn, obgleich hier das Haus Ephraim im Vordergrund steht, Wie sollte ich dich hingeben, Ephraim, dich überliefern, Israel? Mein Herz hat sich m mir umgewendet, erregt sind alle meine Erbarmungen Nicht will ich ausführen die Glut meines Zornes, nicht wiederum Ephraim verderben, denn ich bin Gott und nicht ein Mensch“ (Hos 11) „Ich will ihre Abtrunnig-keit heilen, will sie willig heben, denn mein Zorn hat sich von ihm abgewendet Ich werde für Israel sein wie der Tau blühen soll es wie die Lilie und Wurzel schlagen wie der Libanon“ (Kap 14) Viele solcher Stellen gibt es m den Propheten, die uns einerseits den elenden, aber bußfertigen Zustand der Nation, andererseits jedoch die ewige Liebe unseres Gottes zeigen Was für ein Tag wird es sein, wenn Jehova wieder tröstlich mit Jerusalem reden, wenn Er sich erneut mit Israel verheiraten wird Gerade davon haben wir im Buch Ruth ein liebliches Bild.

Gleich zu Beginn des zweiten Kapitels wird uns eine besondere Persönlichkeit vorgestellt, Boas, der der Herr der Ernte und der Spender des überreichen Segens ist Sem Name – „in ihm ist Stärke“ – erinnert uns sogleich an den Einen, von dem er ein Vorbild ist Er ist, wie es wörtlich heißt, „ein Mann, gewaltig an Vermögen“ In Boas sehen wir den Herrn Jesus in Auferstehung, der Sein Leiden und die Not Seines Werkes hinter Sich hat und nun in Seine Freude eintritt; in Ihm ist ewige Kraft und Stärke Er kann sagen „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden“ und auch „Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig m die Zeitalter der Zeitalter und habe die Schlüssel des Todes und Hades“ (Matth 28,18, Offb 1,18)

So wie Boas vom Geschlecht Ehimelechs war, so nahm Sich der Herr des Samens Abrahams an und schämt Sich nicht, sie Bruder zu nennen Seme Beziehung zu Ehimelech erinnert uns auch daran, was Israel für Gott hatte sein sollen, aber durch seine Untreue ist diese Beziehung verlorengegangen, denn Elimelech ist tot Aber m dem Herrn Jesus sehen wir den Einen, der m Seinem Leben stets die Beziehung zu Gott offenbarte (worin Israel versagt hatte), der m Gnaden m den Tod und das Gericht hinabstieg, das Israel verdient hatte In Boas sehen wir, wie Jehova bereit ist, die verwirkte Beziehung wieder aufzugreifen und m Auferstehung das wiedergutzumachen, was sie verloren hatten

Welche Flut von Erinnerungen muß Noomi beim Anblick jener vertrauten Gefilde überwältigt haben1 Als sie sie das letzte Mal gesehen hatte, war ihr Leben noch strahlend und voller Hoffnungen gewesen Aber nun war alles verändert Zweifellos blickte sie durch ihre Tränen auf all die Freude und den Überfluß vor ihr Sie hatte an all dem keinen Anteil Wie wir schon gesehen haben, wird dieses Bewußtsein des Elends und der Vereinsamung das Teil des Überrestes aus Israel sein Ob wir es auf Israel oder den fehlgehenden Gläubigen anwenden, immer muß ein tiefes Werk Gottes in der Seele geschehen, wenn man sich der wiederherstellenden Gnade Gottes erfreuen soll Dies wird oft vom Volke Gottes auch heute vergessen, zu leicht und oberflächlich wird oft das „Verletzte“ geheilt Es ist gut, im „Hause der Trauer“ zu sein, es bildet die geeignete Vorbereitung für das „Haus des Gelages“ So ist auch Noomis Traurigkeit und Schweigen natürlich und angemessen

Bei Ruth jedoch sehen wir etwas anderes Sie stellt uns, den Glauben m dem Überrest vor, der keine Ansprüche auf vermeintliches Recht erhebt, sondern einfach hingeht, um auf dem Gefilde göttlicher Barmherzigkeit aufzulesen „Laß mich doch Ähren lesen hinter dem her, in dessen Augen ich Gnade finden werde“ (Kap 2,2) Sie wird hier „Ruth, die Moabitin“ genannt, ihre heidnische Abstammung schloß sie von jedem gesetzlichen Anspruch auf irgendein Teil in Israel aus Gerade dadurch ist sie ein so geeignetes Vorbild des gläubigen Überrestes Israels, weil dieses Volk alle Anrechte auf Segen verloren hat und „Lo ammi“, „Nicht mein Volk“, auf sich geschrieben tragt Aber gerade für solche Fremdlinge hatte Gott Vorsorge getroffen „Und wenn ihr die Ernte eures Landes erntet, sollst du den Rand deines Feldes nicht gänzlich abernten und sollst keine Nachlese deiner Ernte halten, für den Armen und für den Fremdling sollst du sie lassen“ (3. Mo 23,22) Hier haben wir gleichsam die Brosamen, die von dem Tisch ihrer Herren fallen, die den Bedürfnissen der Ruth ebenso überreich entsprechen werden wie denen des kanaanaischen Weibes.

Es ist auffallend, daß die zitierte Stelle im dritten Buch Mose zwischen dem Fest der Webe-Brote (Pfingsten) und dem Laubhütten-Fest steht Damit wird wohl der verwitwete Zustand des Überrestes angedeutet, der ihrer Zeit der Freude vorausgehen muß – jener glücklichen Zeit, wo ein jeder unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum sitzen wird Pfingsten bezeichnet die Segnung der Versammlung, die mit Christus m Auferstehung verbunden ist Wenn der Herr Jesus Seme himmlische Braut zu Sich genommen haben wird, wird der verwitwete Überrest Israels anerkennen, daß er all seine Vorrechte verwirkt hat, aber er wird auch im Glauben -einer Ruth gleich – beginnen, entsprechend der besonderen Vorsorge, welche die Barmherzigkeit Gottes getroffen hat, „aufzulesen“

Ein anderer Schreiber (W K) bemerkt zu 3. Mose 23,22 „Wir haben hier, glaube ich, absichtlich eine gewisse Unbestimmtheit Es wird am Ende des Zeitalters ein bestimmtes Zeugnis Gottes geben Das himmlische Volk wird in die Scheune gesammelt sein, aber auf dem Feld wird ein Überrest gelassen werden, der wirklich von Ihm ist Die Nachlese wird, wie hier gesagt wird, für den Armen und den Fremdling sein Der Herr wird Sem Zeugnis selbst m dunkelsten Zeiten und auf bedeutsamste Weise aufrechterhalten Auch nach der Entrückung der Kirche werden wieder wahre Gläubige auf Erden sein, natürlich sind sie nicht Glieder des einen Leibes Aber Gott hat noch andere Vorhaben, Vorhaben sowohl für die Juden als auch für die Nationen Darauf deuten die übriggelassenen Ähren auf dem Feld für den Armen und den Fremdling hin. Die Heiligen in der Offenbarung mögen dies verdeutlichen – Heilige, die während der letzten Danielswoche leben, nachdem die.Ältesten‘ bereits im Himmel gesehen wurden.“ So weisen beide Bilder, das in 3. Mose 23,22 und das in Ruth 2, auf den jüdischen Überrest späterer Tage und auf die ihnen zuteil werdende wiederherstellende Gnade Gottes hin.

Es ist vielleicht noch wichtig zu bemerken, daß Noomi in das Begehren Ruths einwilligt und sich somit mit all dem, was der jüngeren Frau widerfährt, einsmacht. Wie gesegnet ist es zu sehen, wie hier ein zerbrochenes Herz und ein einfältiger Glaube vor Gott miteinander verbunden werden! Der Glaube blickt durch die Tränen der Reue, und beide sind eins in Gottes Augen. Es ist alles Gnade, und Ruth versteht das, wenn sie sagt, daß sie auflesen wolle hinter dem her, in dessen Augen sie Gnade finden werde. Immer ist es ein Kennzeichen eines ungebrochenen Geistes oder einer nur teilweise wiederhergestellten Seele, wenn dieses demütige Bewußtsein der völligen Unwürdigkeit fehlt. Gnade ist nur für die Niedrigen da, gleich, ob wir dabei an den Sünder, an den Gläubigen der jetzigen oder auch den Gläubigen der noch zukünftigen Tage denken.

Boas bemerkt sogleich die Anwesenheit der Fremden, und wieder fällt uns auf, daß der Knecht sie als ein „moabitisches Mädchen“ beschreibt. Damit wird sie deutlich von den Töchtern Israels unterschieden. Aber mit der Nennung ihrer Herkunft wird zugleich auch ihr Glaube erwähnt, der sie dahin geleitet hatte, der verwitweten Noomi zurück in das Land Israel zu folgen, anstatt zu dem Hause ihres Vaters mit seinen Götzen zurückzukehren. Auch berichtet der Knecht von ihrem Begehren, unter den Garben aufzulesen, und von ihrem Fleiß bei dieser niedrigen Arbeit.

Israel hat, wie wir schon gesehen haben, alle Rechte zu einer Stellung vor Gott durch Untreue verloren, und es muß anerkennen, daß es vor Gott auf der gleichen Ebene steht wie die Nationen. Wenn es zu Gott umkehrt, muß und wird es bereit sein, als eine „Moabitin“, eine Heidin, bezeichnet zu werden. In gleicher Weise beschreibt der Prophet Hesekiel das abtrünnige Jerusalem: „Dein Ursprung und deine Abstammung ist aus dem Lande der Kanaaniter; dein Vater war ein Amoriter und deine Mutter eine Hethiterin“ (Kap. 16,3. 45). Samaria und Sodom werden ihre Schwestern genannt, und es gab nichts Verderbteres als sie. Schon bei ihrem ersten Eintritt in das Land hatten sie beim Darbringen ihrer Erstlinge des Landes bekennen müssen: „Ein umherirrender Aramäer war mein Vater“ (5. Mo 26,5). So wird auch der bußfertige Überrest bei dem ersten Aufglimmen des Glaubens nicht ungehalten sein, wenn er mit den Nationen auf eine Stufe gestellt wird, die keinerlei Anrechte an Gott und Seine Segnungen haben.

Aber Ruth kommt, um aufzulesen. Während der Glaube anerkennt, daß es eigene Würdigkeit, eigene Anrechte nicht gibt, will er doch etwas bekommen. Wir sehen diese Beharrlichkeit des Glaubens auch bei der von ihrem Feind bedrängten Witwe in Lukas 18. Dabei möchten wir bemerken, daß diese Witwe, ebenso wie Ruth hier, den Überrest vorschattet. Aber der Glaube ist zu allen Zeiten derselbe; und wer auch immer sein Herz darauf gerichtet hat, das Angesicht des Herrn zu suchen, wird sich mit keiner Ablehnung abfinden. Ist nicht das Fehlen dieses ernsten Verlangens der Grund von all der betrübenden Oberflächlichkeit heute?

Möge der Herr schenken, daß wir ernsthaftere Sucher sind, daß wir mehr der Ruth gleichen! Auch unser „Boas“ weiß um alles auf Seinem Felde, „es ist mir alles wohl berichtet worden“. Er weiß auch heute noch die Berührung des Glaubens von dem ungeduldigen Drängen einer sorglosen Menge zu unterscheiden. Bedenke, zaghafte Seele, Sein Auge der Liebe ruht auf dir!

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1984, Seite 133

Bibelstellen: Rth 1, 22

Stichwörter: Boas, Noomi, Ruth