Eliphas, der Temaniter

Die drei Freunde Hiobs kannten Gott wohl ganz gut als Schöpfer. Aber von der Herrlichkeit Gottes in sittlicher Beziehung, von Seiner Güte, Barmherzigkeit, Gnade und Liebe, wußten sie anscheinend nichts. So hatten sie von Gott nur eine sehr enge und zu einseitige Vorstellung. Sie glaubten nämlich, daß Gott die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Dieser Gedanke zieht sich durch die Reden aller drei Freunde. Er ist zwar richtig, aber Gottes herrliche Wesenszüge sind damit, auch soweit wir kleine Menschen sie erkennen können, bei weitem nicht erschöpft. Auch wenn man alle in der Schrift geoffenbarten Wesenszüge und Absichten Gottes weiß, kann man Seine Wege mit den Menschen nicht immer verstehen. In Psalm 77,19 wird gesagt: „Im Meere ist dein Weg, und deine Pfade in großen Wassern, und deine Fußstapfen sind nicht bekannt.“ In diesem Sinn seien hier auch die Worte des Herrn Jesus an Petrus angeführt: „Was ich tue, weißt du jetzt nicht, du wirst es aber hernach verstehen“ (Joh 13,7).

Eliphas war der geehrteste der drei Männer, die gekommen waren, um Hiob zu trösten. Er fängt als erster an zu reden. Er beginnt sehr vorsichtig: „Wenn man ein Wort an dich versucht, wird es dich verdrießen?“ (Hiob 4,2). Dann kennzeichnet er das bisherige vorbildliche Verhalten Hiobs: „Siehe, du hast viele unterwiesen, und erschlaffte Hände stärktest du; den Strauchelnden richteten deine Worte auf, und sinkende Knie hast du befestigt“ (Verse 3 4) Wahrlich, ein gutes Beginnen, um das Herz eines Leidenden, dessen sehr großen Schmerz er und seine Freunde sahen, zu trösten und es für das Annehmen einer Ermahnung geneigter zu machen!

Aber Ehiphas bewegten ganz andere Gedanken Nach seiner und seiner beiden Freunde einzigen Regel für Gottes Wege mit den Menschen, nach einer so stark eingeschränkten Vorstellung vom Wesen Gottes mußte Hiob, weil er so sehr leiden mußte, ein großer Sünder sein Doch es fiel Ehiphas schwer, die Gedanken, die ihn beschäftigten, zurückzuhalten (V 2b) Von Mitgefühl kann da keine Rede sein Als wenn es sich um alltägliche Note handelte, die Hiob erduldete‘ Hatten doch Hiob sehr schwere Schlage getroffen An einem einzigen Tage hatte er seinen großen Reichtum und seine zehn Kinder verloren, einige Zeit darauf auch seine Gesundheit Große Schmerzen quälten ihn beständig

Wie merkwürdig ist doch das Verhalten Eliphas! Er wie auch seine beiden Freunde kannten nur eine Regel über das Tun Gottes mit dem Menschen Er belohnt die Guten und bestraft die Bösen Es ist doch seltsam, daß er, der von seiner Erfahrung, „so wie er es gesehen hatte“, ausging, sein eigenes Zeugnis über Hiobs vorbildlichen Wandel unberücksichtigt ließ Hierbei wurde er seinem Grundsatz untreu Sein gute Beobachtung über Hiobs Verhalten wird entkräftet, damit die Regel – und zwar nur in ihrem negativen Teil – wirken kann Merkwürdige „Logik“‚ Er dringt in Hiob, doch seinen Gedanken anzunehmen Er sagt „Gedenke doch Wer ist als Unschuldiger umgekommen, und wo sind Rechtschaffene vertilgt worden? So wie ich es gesehen habe Die Unheil pflügen und Mühsal säen, ernten es Durch den Odem Gottes kommen sie um, und durch den Hauch seiner Nase vergehen sie“ (V 7-9)

Wieviel können wir doch hier lernen, bei der Beurteilung von Personen und ihren Führungen gewisse Umstände, die uns nicht genehm sind, unbedingt zu berücksichtigen‘ Wir sollten uns bei solcher Beurteilung sehr davor hüten, uns nicht passende Tatsachen oder Umstände schon in unseren Gedanken nicht anzuerkennen

Auch die Junger in späteren Tagen verfielen beim Anblick des Blindgeborenen derselben pharisäischen Haltung wie die drei Freunde Hiobs Sie fragten den Herrn Jesus „Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde? Jesus antwortete Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern, sondern auf daß die Werke Gottes an ihm geoffenbart wurden“ (Joh 9,2 3) Wieviel Herzeleid und Zwiespalt unter Gläubigen sind zur Verunehrung des Herrn durch vorschnelles, einseitiges und verkehrtes Urteilen von Brüdern oder Schwestern verursacht worden! Welch ernste Warnung für uns!

Nachdem alle drei Freunde mit Hiob zweimal geredet hatten und Hiob jedem einzeln geantwortet hatte, beginnt Ehiphas die dritte Runde mit einigen Fragen, über den Nutzen, den Gott von dem Tun der Gerechten hat „Kann ein Mann Gott Nutzen bringen? Vielmehr sich selbst nützt der Einsichtige“ (Kap. 22,2). Ob Hiob es bedurfte, über diese Fragen belehrt zu werden, wagen wir nicht zu entscheiden. Wenn es sich um „Nutzen“ für Gott handelt, so können wir dem Erhabenen sicher nicht von Nutzen sein und dem Allmächtigen keinen „Gewinn“ bringen (V. 3). Wenn jemand Nutzen, d. h. Segen, empfängt, so ist es immer der Mensch, der Gläubige. Gott belohnt treuen, hingebenden Dienst und Gottesfurcht. Was Er uns nahelegt: „Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert“, tut Er auch selbst. Wir machen Gott nie zum Empfänger, nein, stets sind wir die Nehmenden. Gepriesen sei Sein Name dafür! Durch unsere Lobeserhebungen und Anbetung fügen wir Seiner erhabenen Größe oder Stellung nichts hinzu, und durch unsere Bemühungen vermehren wir den Reichtum Dessen, dem alles gehört, nicht im geringsten.

Dennoch will Gott, der „selige und alleinige Machthaber … und Herr der Herren“ (1. Tim 6,15), von Seinen denkenden Geschöpfen geliebt und angebetet werden. Nichts könnte selbstverständlicher sein als dies! Aber schon durch die Sünde des ersten Menschen war alles verdorben. Auf dem Boden der Gnade, nachdem der Herr Jesus das große Opfer zur Abschaffung der Sünde gebracht hatte, wird gesagt: „… denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter“ (Joh 4,23). Gott hatte als der in Sich selbst ruhende, selige Gott zu allen Zeiten bis jetzt Wohlgefallen – nicht als Erfüllung eines Bedürfnisses – an Lob und Anbetung der Seinen, ihrem Zusprechen von Ruhm, Ehre, Weisheit und Macht. Ihm wird auch in alle Ewigkeit von allen Himmelsbewohnern Bewunderung und Anbetung werden.

Der Frage Eliphas‘: „Liegt dem Allmächtigen daran, wenn du gerecht bist?“ (V. 3) liegt die Ansicht zugrunde, Gott liege nichts daran. Aber da irrt der Fragesteller gewaltig, es liegt Ihm, wie oben gesagt, sehr viel daran, weil Er andernfalls verunehrt wird. Und das will Gott auf keinen Fall! Trotz des unermeßlichen Abstandes zwischen Ihm und dem kleinen Menschen, und obgleich dem Erhabenen und alles Besitzenden kein Schaden oder gar Nutzen und Gewinn zugefügt werden kann – dafür ist es alles viel zu unbedeutend -, erlaubt Er nicht, daß Seine Ehre angetastet wird. Er sagt: „Meine Ehre gebe ich keinem anderen, noch meinen Ruhm den geschnitzten Bildern“ (Jes 42,8). Es sollte das ernste und anhaltende Begehren jedes wahren Christen sein, Gott zu verherrlichen und Ihm Ehre zu bringen. Eine beständige Verunehrung Gottes durch den Menschen bewirkt für die betreffenden Personen das ewige Gericht, die Verdammnis.

Nachdem Eliphas noch einmal den oft vorgebrachten Vorwurf wiederholt, daß Gott doch Hiob nicht wegen seiner Gottesfurcht strafe und mit ihm ins Gericht gehe, redet er mit dem armen Hiob in einer Weise, die uns fragen läßt: Ist das noch derselbe Mann, der im Anfang seiner ersten Rede noch vier vorzügliche Wesenszüge Hiobs nennt? Er sagt nun in Kapitel 22,5: „Ist nicht deine Bosheit groß und deiner Missetaten kein Ende?“ Dieses harte und ungerechte Urteil ist ein Zeichen dafür, daß Eliphas einen bedeutenden Schritt in die böse Richtung getan hatte. Hatte er vordem das Böse bei Hiob nur auf Grund seiner einzigen Regel über Gottes Tun mit den Menschen vermutet, indem er die schrecklichen Leiden Hiobs als Strafe für begangene Sunden hielt, wirft er ihm jetzt konkrete, bestimmte Untaten vor „Denn du pfändetest deinen Bruder ohne Ursache, und die Kleider der Nackten zögest du aus, den Lechzenden tränktest du nicht mit Wasser, und dem Hungrigen verweigertest du das Brot Die Witwen schicktest du leer fort, und die Arme der Waisen wurden zermalmt“ (V 679) Hatte Eliphas dies alles gesehen“? Ganz sicher nicht‘ Denn wir besitzen den inspirierten Bericht des ganzen Buches Hiob Wenn sich bei Hiob die ihm zur Last gelegten Freveltaten und solche herzlose Gesinnung gezeigt hatten, wurde Gott ihm unmöglich das gute Zeugnis ausgestellt haben In Kapitel 1,1 heißt es von ihm „Selbiger Mann war vollkommen und rechtschaffen und gottesfürchtig und das Böse meidend“ Und Satan gegenüber besteht Gott auf denselben vier kostbaren Stücken, zweimal unter Hinzufügung des göttlichen Urteils, daß Hiob auf Erden keinen Mann seinesgleichen habe Zu welchem Widerspruch mit dem Urteil des unfehlbaren göttlichen, Richters hatten sich doch die Gedanken Eliphas‘ verirrt! Welch ein Abstand zwischen dem Hiob Eliphas‘ und dem wirklichen Hiob, der nach der ersten Prüfung, als ihm sein ganzer Reichtum und alle seine zehn Kinder genommen wurden, zur Erde niederfiel und anbetete‘ „Und er sprach Jehova hat gegeben, und Jehova hat genommen, der Name Jehovas sei gepriesen'“ (Kap 1,21)

Aus dem Verhalten des Eliphas laßt uns lernen, bei durch Leiden und Elend geprüften Christen niemals Böses zu vermuten, ohne daß eine deutlich erkennbare Ursache vorliegt Entziehen wir ihnen unser Mitgefühl nicht!

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1985, Seite 67

Bibelstellen: Hi 4, 2

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