Naaman, der Syrer

2. Könige 5

Schon immer hat die Geschichte Naamans, des Syrers, Evangelisten angezogen und sie veranlaßt, anhand dieser lieblichen Geschichte der Gnade das Evangelium zu verkündigen. Vielleicht befindet sich in der Heiligen Schrift keine Geschichte, die bekannter ist als diese. Es wäre indessen ein großer Fehler anzunehmen, daß wir schon alle einzelnen Lektionen gelernt haben, die in dieser Begebenheit enthalten sind; es ist tatsächlich immer eine Gefahr zu glauben, daß wir irgendeinen Teil des Wortes Gottes völlig verstanden haben. Nie werden wir auf dieser Seite der Ewigkeit fähig sein, die Tiefen und Höhen des göttlichen Wortes ganz zu verstehen und auszumessen; „denn wir sehen jetzt durch einen Spiegel, undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie auch ich erkannt worden bin“ (1. Kor 13,12). Indem wir dessen eingedenk bleiben, möchten wir ohne Zögern einige Bemerkungen über etliche Punkte in dieser höchst interessanten Erzählung machen.

Was Naaman selbst betrifft, so ist er augenscheinlich ein Bild des Menschen in seinem besten Zustand oder, um es genauer zu sagen, es wird uns zuerst vorgestellt, was er in den Augen der Menschen, und dann, was er in den Augen Gottes ist.

Auf drei persönliche Besonderheiten wird der Nachdruck gelegt. Er war ein „großer Mann“, auch ein erfolgreicher Mann, „angesehen; denn durch ihn hatte Jehova den Syrern Sieg gegeben“. Auch erfreute er sich seiner persönlichen Vorzüge und eines guten Rufes. „Und der Mann war ein Kriegsheld“ (Vers 1). Die Vereinigung dieser drei Dinge geben uns das beste Bild eines Menschen, der in jedem weltlichen Kreis der Gegenstand der Bewunderung oder auch des Neides sein konnte. In den Augen seiner Genossen hatte Naaman die höchsten Sprossen menschlichen Ehrgeizes erreicht. Nichts war übrig geblieben, was die Welt diesem tapferen, erfolgreichen und verdienten Heerobersten noch hätte geben können. Er hätte daher, soweit es möglich war, ein absolut glücklicher Mensch sein müssen. Aber wenn wir auf Naaman von Gottes Seite her schauen, was ist das Ergebnis? Es ist in einem Wort zusammengefaßt: Er war aussätzig. Wie ernst ist der Unterschied zwischen den Gedanken Gottes und denen des Menschen! Der, den die Menschen bewundern und beneiden, dem sie schmeicheln, ist in Gottes Augen nur ein armer Aussätziger: „Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“ (Rom. 3,22. 23). Der Aussatz ist das Vorbild des Bösen im Fleische, das ausgebrochen ist und den ganzen Menschen mit dem Schmutz und der Schuld der Sünde bedeckt. Naaman ist also, von Gottes Seite her gesehen, nichts anderes als ein armer schuldiger Sünder; und gerade weil er das ist, ist er für Gottes souveräne Gnade und Barmherzigkeit der geeignete Gegenstand.

Es ist augenscheinlich, so möchten wir im Vorübergehen bemerken, daß wir in dieser ganzen Geschichte ein liebliches Bild der Gnade finden.

Zuerst also haben wir den Menschen als einen Sünder; und dann begegnet uns der Träger der guten Botschaft des Heils. Zwei Hinweise auf diesen zweiten Punkt seien hier gestattet. Zuerst kommt der Bote des Segens für Naaman vor unsere Augen. Es war ein junges Mädchen, das aus dem Lande Israel gefangen weggeführt worden war und der Frau Naamans diente. Dieses Mädchen war in niedriger Stellung; es mochte nicht unbedingt verachtet werden, aber es hatte keinerlei Geltung nach der Einschätzung der Welt. So ist es immer an dem Tag der Gnade. Der Prediger des Evangeliums wird immer, wenn er seinen wahren Platz einnimmt, in den Augen des stolzen Menschen niedrig sein. Ein Apostel konnte sagen: „Als Auskehricht der Welt sind wir geworden, ein Auswurf aller bis jetzt“ (1. Kor 4,13). Daß das Mädchen aus Gottes auserwähltem Volke war, mag durchaus ein Hinweis auf die Sendung Israels zu den Nationen in einer noch zukünftigen Zeit sein. Aber dann haben wir zweitens die Botschaft. Sie war nur einfach und kurz, dennoch ist es gerade das, was der Herr dem Weib von Samaria mitteilte. Das junge Mädchen sagte: „Ach, wäre doch mein Herr vor dem Propheten, der zu Samaria wohnt! Dann würde er ihn von seinem Aussatz heilen“ (Vers 3). Der Herr hatte gesagt: „Das Heil ist aus den Juden“ (Joh 4,22). Die Botschaft ist ein und dieselbe. Auch Paulus drückt sie so aus; denn er redet von dem „Evangelium Gottes … über seinen Sohn, der aus dem Samen Davids gekommen ist dem Fleische nach“ (Röm 1,1-3).

Die Worte des Mädchens waren nicht vergeblich. Naaman ging hin und berichtete sie seinem Herrn; und so finden wir in wunderbarer Weise den Weg der Seele aus der Finsternis in das wunderbare Licht Gottes vorgebildet. Das erste Ergebnis des Evangeliums, das er gehört hatte, wird in seinem Wunsche sichtbar, den in Aussicht gestellten Segen zu bekommen. Das war es gerade, was er nötig hatte: von seinem Aussatz geheilt zu werden. Aber sogleich verfällt er, wie das bei ungezählten Menschen der Fall ist, in den Fehler, anzunehmen, daß er sich den ersehnten Segen irgendwie selbst erkaufen oder verdienen könne. Niemals wird die Gnade von den natürlichen Menschen verstanden. Naaman versieht sich mit einem Brief des Königs, mit zehn Talenten Silber, sechstausend Sekel Gold und zehn Wechselkleidern. Den Einfluß eines Königs hinter sich und mit soviel Geld versehen, wird er gewiß in seinem Begehren erfolgreich sein! Erinnern nicht auch wir uns daran, daß wir, als wir nach demselben Grundsatz handelten, nur in noch größere Not kamen?

Der nächste Fehler, den er begeht, besteht darin, daß er sich an den König von Israel wendet. Der König hätte als verantwortliches Haupt des Volkes Gottes der Kanal des Segens sein sollen. Daß er es nicht war, offenbarte nur den wahren Zustand der Nation; und daß der König nicht wußte, wo der Segen zu finden war, zeigte seinen eigenen verderbten Zustand. Aber der Strom der Gnade zu diesem armen Heiden kann weder durch den Zustand der Nation noch durch die Unwissenheit des Königs gehindert werden. Gott will sich trotz, ja inmitten des Versagens Seines Volkes verherrlichen.

„Und es geschah, als Elisa, der Mann Gottes, hörte, daß der König von Israel seine Kleider zerrissen hatte, da sandte er zu dem König und ließ ihm sagen: Warum hast du deine Kleider zerrissen? Laß ihn doch zu mir kommen, und er soll erkennen, daß ein Prophet in Israel ist“ (Vers 8). Elisa ist in einer Hinsicht in seinem Dienst ein Bild von der Macht Christi in Auferstehung. An Stelle Elias zum Propheten gesalbt (1. Kon. 19,16), war der Mantel Elias mit einem zwiefachen Teil seines Geistes auf ihn gefallen, als sein Herr im feurigen Wagen gen

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Himmel fuhr (2. Kon. 2,9-11). Er wurde somit in seinem Dienst der einzige Kanal des Segens zu solchen, deren Herzen in der Mitte eines götzendienerischen Israels für den Segen Gottes noch offen waren.

Als Antwort auf die Botschaft des Propheten „kam Naaman mit seinen Rossen und mit seinen Wagen, und hielt am Eingang des Hauses Elisas“. Der Aussätzige begehrt dringend den Segen, aber es ist offenbar, daß er noch nicht in dem richtigen Zustand ist, ihn zu empfangen. Rosse und Wagen sind in der Schrift Symbole von Gepränge und Hoheit. Naaman muß sich noch tiefer, weit tiefer herabbegeben, ehe er geheilt werden kann. Er hatte schon gelernt, daß der Einfluß des Königs ohne Nutzen war, und nun mußte er noch belehrt werden, daß seine eigene Stellung und Hoheit weit eher Hindernisse als Hilfen sind; denn bei Gott ist kein Ansehen der Person. Aber was immer der Zustand seiner Seele sein mochte, da er nun an das Tor Elisas gekommen war, konnte die Botschaft des Heils nicht zurückgehalten werden. Er war eine suchende Seele, und eine solche wird nie zurückgestoßen. „Gehe hin und bade dich siebenmal im Jordan, so wird dir dein Fleisch wieder werden, und du wirst rein sein“ (Vers 10). Der Prophet konnte nicht zu Naaman hinausgehen, denn das hätte ihre Stellung zueinander in ein falsches Licht gerückt; vielmehr sendet er einen Boten mit der gnädigen Botschaft darüber, wie er Heilung und Reinigung finden könne.

Aber beachten wir das Ergebnis! „Da wurde Naaman zornig.“ Und warum? Zunächst weil Elisa ihn nicht mit größerer persönlicher Ehrerbietung behandelt hatte. Er saß draußen in seinem Wagen und dachte, der Prophet werde zu ihm herauskommen, dann und dort den Namen Jehovas, seines Gottes, anrufen und seine Hand über die Stelle schwingen und so den Aussatz heilen. Naaman als der Aussätzige erwartete, daß ihn Elisa als sein Diener heilen würde. Aber nein! Der Sünder muß den Platz des demütig Bittenden einnehmen in dem Bewußtsein, daß er nichts besitzt und nichts verdient hat, ehe er die Gnade empfangen kann. Zudem, wer war Naaman, daß er dem Propheten die Art und Weise hätte vorschreiben können, nach der er vorzugehen habe? Es ist immer dasselbe: Der Sünder erwartet, auf seine Art und Weise errettet zu werden.

Aber noch etwas anderes verletzte Naaman. Warum sollte er gerade zum Jordan gehen? Abana und Parpar, die Flüsse von Damaskus, seiner Heimat, waren in seinen Augen „besser als alle Wasser von Israel“. Warum konnte er sich nicht in ihnen waschen und rein werden? Diese Flüsse bilden die Hilfsquellen der Erde vor, und sie zeigen uns, daß Naaman auf eine menschliche und nicht auf göttliche Weise gereinigt werden wollte. Mit anderen Worten, er wollte, wie so mancher Sünder, lieber reformiert als von neuem geboren werden. Wie viele sind in diese Schlinge gefallen! Sie erkennen durchaus die Notwendigkeit einer sittlichen Veränderung an, nicht aber die der neuen Geburt; denn das erste erhebt den Menschen, das zweite Gott. Auf diesem Weg wollte Naaman nicht geheilt werden, „und er wandte sich und zog weg im Grimm“ (Vers 12).

Jetzt aber treten seine Knechte auf den Schauplatz. Wer sie waren, wissen wir nicht; aber sie besaßen Einsicht. „Mein Vater“, sagen sie, „hätte der Prophet etwas Großes zu dir geredet, würdest du es nicht tun? Wieviel mehr denn, da er zu dir gesagt hat: Bade dich, und du wirst rein sein!“ (Vers 13). Diese Worte, die bei der Verkündigung des Evangeliums immer und immer wieder benutzt werden müssen, waren voller Überzeugungskraft. Der starke, stolze Mann ist nun gedemütigt, und „er stieg hinab und tauchte sich im Jordan siebenmal unter, nach dem Worte des Mannes Gottes“ (Vers 14). Der Jordan redet vom Tod; und die Handlung Naamans bedeutet einfach dies: Er beugte sich unter das gerechte Gericht Gottes über die Sünde des Menschen, er anerkannte den Tod als den Ausdruck des gerechten Gerichtes Gottes über den Sünder; und die Tatsache, daß er sich siebenmal untertauchte, lehrt uns, daß er es ohne Vorbehalte tat – vollkommen, wenn wir so wollen -, er anerkannte völlig die Ansprüche Gottes und beugte sich vor dem Urteil des Todes, das Er über den Sünder bringen muß. Es war die Unterwerfung des Sünders unter die Rechte eines heiligen Gottes. Und wenn wir uns erinnern, daß Elisa in der Kraft Christi in Auferstehung und damit in der Wirksamkeit Seines Todes vor Gott handelt, so wird verständlich, daß als Folge nur Gnade, Gnade ohne Einschränkung, hervorfließt. Naamans Fleisch wurde wieder wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er war rein. Er war, um in der Sprache des Neuen Testamentes zu reden, durch das Wasser des Wortes (das über all das, was wir als Menschen im Fleische sind, den Tod bringt) und durch die Kraft des Heiligen Geistes wiedergezeugt worden. Gott war Naaman in der Ausübung Seiner souveränen Gnade begegnet und hatte ihn gesegnet (vgl. Luk 4,27); denn in dem Augenblick, als sich Naaman selbst im Wasser des Todes untertauchte, war Gott frei, gemäß Seinem Herzen der Liebe und Barmherzigkeit zu handeln.

Es ist kostbar, im weiteren Verlauf der Geschichte etliche deutliche Beweise dafür zu finden, daß in Naaman eine Veränderung vor sich gegangen war. Als erstes hören wir: „Und er kehrte zu dem Manne Gottes zurück, er und sein ganzer Zug, und er kam und trat vor ihn“ (Vers 15). Wir hatten vorher gesehen, daß er mit seinen Rossen und mit seinen Wagen gekommen war und am Eingang des Hauses Elisas gehalten hatte. Jetzt sind die Rosse und Wagen verschwunden, und er steht vor Elisa. Mit anderen Worten, er nimmt einen niedrigen Platz ein; denn in der Gegenwart eines anderen zu stehen bedeutet in den nahöstlichen Ländern, den Platz eines Knechtes einzunehmen. So macht diese Niedriggesinntheit Naamans den Wandel deutlich, der in ihm vorgegangen war. Als zweites sehen wir, daß er mit seinem Mund bekannte. Nachdem er mit seinem Herzen geglaubt hatte, bekennt er nun mit seinem Mund den Gott Israels. Drittens möchte er seiner Dankbarkeit Elisa gegenüber Ausdruck verleihen, obwohl der Prophet, wollte er nicht die Gnade Gottes verfälschen, aus der Hand Naamans kein Geschenk annehmen konnte. Viertens beabsichtigte er, wie groß seine Unwissenheit auch sein mochte, ein Anbeter zu sein; er wollte hinfort nicht mehr anderen Göttern Brandopfer und Schlachtopfer opfern, sondern nur Jehova. Und schließlich wird uns gezeigt, daß sein Herz in Übungen gekommen ist. Die Anbetung des wahren Gottes und die der Götzen kann nicht zusammen bestehen. Naaman fühlt dies sogleich und weiß, daß die Anerkennung und Anbetung des wahren Gottes notwendigerweise jeden Götzendienst ausschließt. Und so spricht er zu Elisa von der Gewohnheit seines Herrn, in das Haus Rim-mons zu gehen und sich dabei auf ihn zu stützen. Das Licht ist es, welches alles offenbar macht, und Naaman erkennt den wahren Charakter der Anbetung Rimmons. Doch was soll er tun? Es würde seine Pflicht sein, mit seinem Herrn zu gehen. Daher versucht er, sein Gewissen zu beschwichtigen, seine geprüfte Seele zu beruhigen, und sagt: „So möge doch Jehova deinem Knechte in diesein Stücke vergeben!“ (Vers 18). Viele haben sich über die Antwort Elisas: „Gehe hin in Frieden“ gewundert. Doch sollten wir keinen Augenblick dem Gedanken Raum geben, daß die Antwort Elisas das Hineingehen Naamans in das Haus Rimmons sanktionierte. Keineswegs. Mit göttlicher Weisheit, die auch wir uns mehr schenken lassen sollten, lehnt es der Prophet ab, schon jetzt über die Schwierigkeit zu sprechen. Er sah, daß Naaman beunruhigt war und die Schwierigkeit fühlte, noch ehe er ihn verließ, und wußte, daß er sie um so mehr in Syrien fühlen würde. Diese Antwort bedeutete: „Gehe hin in Frieden; der, welcher dir so gnädig begegnet ist, wird auch weiterhin mit dir sein und dir weitere Gnade und Kraft schenken, wenn sich die Not erhebt.“ Mit anderen Worten, er übergibt ihn und anbefiehlt ihn dem Herrn; und wir dürfen annehmen, daß Naaman nie mehr das Haus Rimmons betreten hat.

Der Bericht schließt mit dem traurigen und beklagenswerten Verhalten Gehasis. Sein Herz, unberührt von der Erweisung der Gnade und Macht Gottes an diesem Fremdling, trachtete nur danach, sich durch diesen Mann zu bereichern. Durch Betrug und Falschheit erhielt er in seiner Habsucht das, was er suchte, ohne ein Empfinden dafür zu haben, daß er durch sein böses Verhalten die Auffassung Naamans über die Gnade Gottes hätte verwirren können. Ach, wie sehr verunehrte er den Gott Israels! Sein sündiges Verhalten hätte den Syrer auf den Gedanken bringen können, daß die Gabe Gottes doch in etwa erkauft werden konnte. Das erklärt das ernste Gericht, das über ihn kam. „So wird der Aussatz Naamans an dir haften und an deinem Samen ewiglich.“

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1985, Seite 165

Bibelstellen: 2Kö 5

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