Joseph

Kapitel 6: Die Erprobung der Brüder (1. Mo 43 u. 44)

Die Sünde der Brüder Josephs wurde ihnen ins Gedächtnis zurückgerufen. Ihr Gewissen wurde geweckt. Furcht Gottes ist in ihren Seelen aufgestiegen. Sie müssen jedoch noch andere Erfahrungen durchmachen, bevor sich Joseph in all seinen Herzenszuneigungen offenbaren kann und bevor sich seine Brüder in vollkommener Ruhe in seiner Gegenwart aufhalten können.

Eine grobe Täuschung

In der Vergangenheit hatten sie nicht nur gegen Joseph gesündigt, sondern auch gegen ihren Vater. Sie waren unbekümmert über den Schrei des Bruders und über den Gram des Vaters gewesen. Als Brüder hatten sie gegen ihren Bruder, als Söhne gegen ihren Vater gesündigt. Den einen hatten sie mit äußerster Grausamkeit behandelt und den anderen grob getäuscht. Sie hatten sowohl als Söhne wie auch als Brüder das Böse ihres Weges und ihre Herzenshärtigkeit geoffenbart.

Die Zeit ist nun gekommen, in der sie erprobt werden. Joseph wird prüfen, ob irgendeine Änderung in ihnen stattgefunden hat. Sie hatten gesagt: „Wir sind redlich“ (Kap. 42,11). Deshalb wird Joseph sie in Umstände bringen, die offenbaren werden, ob sie inzwischen als wahre Söhne und wahre Brüder handeln. Mit vollkommener Weisheit wird Joseph die Vergangenheit aufrollen. Noch einmal werden zehn Männer über einen jüngeren Bruder entscheiden müssen. Noch einmal werden sie dem bejahrten Vater gegenüberstehen müssen, dessen große Liebe dem jungen Sohn gehört.

Eine große Frage

Die Zeiten und die Umstände haben sich geändert. Auch die Situation hat sich völlig geändert, aber dem Prinzip nach wird die Geschichte auf dem Feld zu Dothan in Ägypten wiederholt. Werden diese zehn Männer wieder ihren Bruder preisgeben und eine Geschichte erfinden, um ihren Vater zu täuschen? Wurde in den Herzen der Brüder wahre Reue bewirkt? Das ist die große Frage, die Joseph bei ihrem zweiten Aufenthalt in Ägypten lösen will.

Eine gnädige Absicht

Es ist wiederum ihre verzweifelte Not, die sie nach Ägypten bringt. Bevor sie losziehen, machen sie Pläne, wie sie den ägyptischen Herrscher beschwichtigen und die Sicherheit Benjamins gewährleisten können. Das Geschenk für den Herrscher wird bereitet. Die zuvor erwiesene Gütigkeit Josephs, ihnen ihr Geld wieder zurückzugeben, wird als möglicher Irrtum aufgefaßt (Kap. 43,12). All dies zeigt, daß es für das Fleisch unmöglich ist, die Wege der Gnade zu verstehen. Jakob spricht wie ein natürlicher Mensch: „Warum habt ihr mir das Leid angetan, dem Manne kundzutun, daß ihr noch einen Bruder habt?“ (V. 6). Ihre Antwort zeigt den Weg, den die Gnade gegangen war: „Der Mann erkundigte sich genau… nach uns und unserer Verwandtschaft“ (V. 7). Gnade kann alles vergeben, aber sie muß alles ans Licht bringen.

Eine allgemein übliche Überlegung

Israel entfaltet nun seinen Plan. Obwohl er ein Mann des Glaubens war, redet er nun wie ein natürlicher Mensch. „Wenn es denn also ist, tut dieses“ (V. 11). Jakobs Plan hängt von dem Tun des Menschen ab. Er benötigt Getreide; er würde gern die Freilassung Simeons bewirken und die Sicherheit Benjamins gewährleisten, aber schlägt einen Weg vor, auf dem alles durch eigenes Tun zustande gebracht werden soll. Und das ist immer noch der Weg, den der Mensch nimmt und von jeher genommen hat, um den Segen von Gott zu erlangen. Kain ging diesen Weg, als er die Erstlingsfrucht als Opfer seiner eigenen Arbeit Jehova darbrachte. Das Volk Israel beschritt diesen Weg, als sie sagten: „Alles, was Jehova geredet hat, wollen wir tun!“ Der Gesetzgelehrte im Neuen Testament wollte auch diesen Weg gehen. In der Gegenwart des Herrn fragte er: „Lehrer, was muß ich getan haben, um ewiges Leben zu ererben?“ (Lk 10,25). Und nach neunzehnhundert Jahren der Gnade klammern sich die Menschen immer noch an diesen verhängnisvollen Weg, denn am Ende der Christenheit gibt es noch solche, von denen wir lesen: „Sie sind den Weg Kains gegangen“ (Jud 11).

Ein großzügiges Geschenk

Indem sie so mit ihrem eigenen Tun beschäftigt sind, entwickelt Jakob seinen Plan. „Nehmet“, sagt er, „ein Geschenk“, um den Mann zu beschwichtigen. „Nehmet doppeltes Geld“, um Korn zu kaufen. „Und nehmet euren Bruder und machet euch auf, kehret zu dem Manne zurück“ (V. 11-13). Der natürliche Mensch kann sich Gott nicht als Geber und den Menschen nicht als Empfänger vorstellen. Der natürliche Mensch hat keine wahre Kenntnis von Gott und dem Menschen. Er kann sich nicht vorstellen, daß Gott, da Er reich ist an unumschränkter Gnade, nur geben kann und daß die Menschen so hilflos ruiniert sind, daß sie nur empfangen können. Aber das müssen Jakob und seine Söhne lernen, denn alle ihre Pläne, die Segnungen von der Hand Josephs zu erlangen, scheitern völlig.

Ein schwerwiegender Fehler

Überdies lernen wir aus der Geschichte, daß nicht nur die Pläne der Menschen völlig vergebens sind, sondern daß durch die Beschäftigung mit unseren Plänen die Seele gegenüber der Gnade Gottes blind wird. Jakob kann, als er über die Güte Josephs, der ihnen ihr Geld zurückgab, nachdenkt, sich nur vorstellen, daß es ein Irrtum ist (V. 12). Es gibt jedoch bei Gott kein Versehen. Das Versehen liegt nur auf selten des Menschen. Verblendet durch sein eigenes Tun übersieht er, daß Gott wirkt.

In völliger Ungewißheit

Nachdem er alle seine Pläne entwickelt hat, vertraut er seine Söhne zuletzt der Barmherzigkeit des Allmächtigen an. Er setzt seine Pläne an die erste und Gott, den Allmächtigen, an die zweite Stelle. Wenn in seinen Plänen irgend etwas mangelt, so äußert er die fromme Hoffnung, daß die Barmherzigkeit Gottes das Fehlende ergänzen wird. So gehen auch heute die Menschen mit Gott und Christus um. Gott sandte in Seiner Barmherzigkeit Seinen Sohn; Christus hat das Werk der Erlösung vollständig ausgeführt, aber die Menschen klammern sich immer noch an ihre eigenen Werke und sehen die Barmherzigkeit Gottes und das Werk Christi als „Lückenbüßer“ an, der die kleinen Unzulänglichkeiten der menschlichen Bemühungen ausfüllt. Wie bei Jakob ist es auch mit den Menschen. Ihre eigenen Pläne lassen sie in völliger Ungewißheit. Jakob mußte eingestehen, daß er sich im Grunde über das Ergebnis völlig im unklaren ist. „Wenn ich der Kinder beraubt bin, so bin ich der Kinder beraubt“ (V. 14). Das ist eigentlich die Sprache des natürlichen Menschen, der auf seine Weise versucht, den Segen Gottes zu erlangen. Tue dein Bestes, schaue nach der Barmherzigkeit Gottes aus, die jedes Mißlingen deiner Bemühungen ersetzt, und dann hoffe das Beste für die Zukunft, und wenn du gerettet wirst, dann bist du gerettet, und wenn du verdammt wirst, dann bist du verdammt.

Ein eindrucksvoller Empfang

Die Brüder Josephs beginnen, sich nach den Plänen ihres Vaters zu richten, nur um deren völlige Wertlosigkeit zu erkennen. Sie nehmen das Geschenk, sie nehmen doppeltes Geld und Benjamin und machen sich auf und ziehen nach Ägypten hinab. Und sie treten vor Joseph (V. 15). Joseph zollt ihren Geschenken nicht die geringste Beachtung, er berührt ihr Geld nicht, er wird Benjamins Kommen nicht als Lösegeld anerkennen. Er nimmt keinerlei Notiz von ihrem Plan und beginnt, entsprechend seinem eigenen Herzen zu handeln. Zuerst sagt er: „Führe die Männer ins Haus und schlachte Schlachtvieh und richte zu; denn die Männer sollen mit mir zu Mittag essen“ (V. 16). Ist dies nicht eine Andeutung jener weit größeren Botschaft, die Gott zu einer Welt von Sündern sendet? „Kommt, denn schon ist alles bereit“ (Lk 14,17).

Die Absichten Josephs übertreffen weit die Pläne seiner Brüder. Ihr Plan war, einfach einen Segen von Joseph zu erlangen. Seine Absicht war, einen Segen zu schenken, aber einen solchen Segen, der es ihnen ermöglichte, sich in seiner Gegenwart und in seinem Haus zu erfreuen. Ihr Plan war, Korn zu kaufen, um ein Festmahl untereinander zu haben. Sein Plan war, ein Festmahl aufzutragen, um sich mit ihnen zu erfreuen. „Die Männer“, sagt er, „sollen mit mir zu Mittag essen“. Wie die Brüder, so sind auch wir ebenso schwerfällig, Gottes Gedanken der Segnung in uns aufzunehmen. Wir wären zufrieden, die Vergebung der Sünden und die Errettung von der Hölle zu erhalten.

Aber das ist nur ein kleiner Teil der Gedanken Gottes. Seine Gedanken sind, uns bei Sich zu haben, damit wir uns mit Ihm in Seinem Haus freuen können. Der verlorene Sohn wurde von seiner Not und einem geringen Empfinden von Gnade angetrieben, zum Vater zurückzukehren, in der Hoffnung, daß seinen Nöten entsprochen und er vielleicht den Platz eines Dieners in dem Haus seines Vaters bekommen würde. Aber der Platz eines Dieners würde das Herz des Vaters nicht zufriedenstellen. Der „verlorene Sohn“ mußte als der Sohn des Vaters in das Haus des Vaters gebracht werden, um dort mit dem Vater ein Festmahl zu halten und mit ihm fröhlich zu sein. Wenn Gott das Evangelium aussendet, so ist es, um eine große Menge erlöster Sünder zu sammeln, die in Seiner Gegenwart heilig und tadellos vor Ihm seien in Liebe (Eph 1,4).

(Wird fortgesetzt) H.S.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1987, Seite 282

Bibelstellen: 1Mo 43, 1-17

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