Joseph

Kapitel 6: Die Erprobung der Brüder (1. Mo 43-44, Fortsetzung)
Argwohn schuldiger Herzen

Aber wie schwerfällig sind wir doch, die Größe der Gnade Gottes zu erfassen! So ist es auch bei den Brüdern Josephs, die sich fürchten, als sie in das Haus Josephs geführt werden (V. 18). Sie konnten sich nur denken, daß man sie hineinführte, um sie zu verurteilen. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß sie hineingeführt wurden, um zu feiern. Deswegen sagen sie: „Um des Geldes willen, das im Anfang wieder in unsere Säcke gekommen ist, werden wir hineingeführt“ (V. 18). Für sie war Joseph jemand, der gegen sie war und beschwichtigt werden mußte. Sie hatten noch zu lernen, daß er alle Dinge zum Guten mitwirken lassen würde. Anstatt sich selbst zu beurteilen, beurteilen sie Joseph. In all diesen Zeichen des Wohlwollens können sie nur sehen, daß Joseph nach einer günstigen Gelegenheit ausschaut -„daß man über uns herstürze und über uns herfalle und uns zu Knechten nehme“ (V. 18).

Eine unnütze Erklärung

Sie erklären dem Verwalter, daß sie doppeltes Geld mitgebracht haben. Aber obwohl dieser über alles Bescheid weiß, übergeht er es einfach und bringt Simeon zu ihnen (V. 19-23). Sie klammern sich immer noch an ihre eigenen Bemühungen und bereiten das Geschenk zu, „bis Joseph am Mittag kam“ (V. 25), nur um feststellen zu müssen, daß Joseph es völlig außer acht läßt. Das Geld und das Geschenk erzielen keinerlei Wirkung.

Eine schmerzliche Erfahrung

Joseph spricht gütig zu ihnen. Er sehnt sich in Liebe nach seinem jüngeren Bruder und weint aus Liebe heimlich. Aber aus Liebe beherrscht er sich, denn die Zeit, da sich die Liebe zeigen konnte, war noch nicht gekommen.

Gerade so handelte der Herr in vollkommener Weisheit am Jakobsbrunnen. Er offenbart sich dieser Frau nicht, bis ihr Gewissen erreicht ist und alles offen liegt. Sie erkennt, daß sie in der Gegenwart Dessen steht, der, obwohl Er ihre ganze Vergangenheit kennt, sie doch mit solch einer Liebe liebt, daß Er zu ihr sagen kann: „Komm hierhier.“ Dann kann sie sagen: „Dieser ist doch nicht etwa der Christus?“ (Joh 4,16. 29).

Joseph läßt diese vollkommene Handlungsweise der Gnade mit einem armen Sünder vorausahnen. Auch er spricht Worte der Gnade, aber beherrscht sich in der Gegenwart seiner Brüder. Er wird ihnen ein Festmahl bereiten, aber so, daß sie erkennen müssen, daß ihre Vergangenheit bekannt ist. „Und sie saßen vor ihm, der Erstgeborene nach seiner Erstgeburt, und der Jüngste nach seiner Jugend“ (V. 33). In dem Genuß all dieser Gunst tranken sie sich fröhlich mit ihm (V. 34), aber sie mußten noch andere Lektionen lernen, bevor er mit ihnen fröhlich sein kann. Sie erfreuen sich seiner Gaben, aber sie sollen sich an ihm selbst erfreuen. Bevor sich jedoch Joseph ihnen offenbaren kann, müssen sie alles vor Joseph aufdecken. Zu diesem Zweck wird der Kelch Josephs in Benjamins Sack gelegt. Die eben abgereisten Brüder werden durch den Verwalter Josephs verfolgt und beschuldigt, den Kelch genommen zu haben. Sie beteuern ihre Unschuld. „Fern sei es von deinen Knechten, eine solche Sache zu tun“ (Kap. 44,7). Dann versichern sie ihre Ehrlichkeit. „Siehe das Geld, das wir oben in unseren Säcken fanden, haben wir aus dem Lande Kanaan zurückgebracht, und wie sollten wir… stehlen?“

(V. 8). Ist es möglich, daß Menschen, die so ehrlich mit Geld umgehen, solch eines erbärmlichen Diebstahls schuldig werden? Es muß daran erinnert werden, daß dies die Männer sind, die einst ihren Bruder für zwanzig erbärmliche Silberstücke in die Sklaverei verkauft haben. Sicherlich würden Menschen, die solches getan haben, sehr wohl imstande sein, einen silbernen Kelch zu stehlen, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen. Die Beschuldigung ist deshalb nicht so unbegründet, es sei denn, daß tatsächlich vollkommene Reue in ihren Seelen bewirkt wurde. Daß sie, was den Kelch betrifft, unschuldig sind, weiß Joseph ganz genau, aber hatten sie das Vergangene bereut? Das möchte Joseph herausfinden. Früher waren sie weder wahre Brüder noch wahre Söhne gewesen. Hatte die Reue ihr Werk getan? Ist aus dem steinernen Herz ein fleischernes Herz geworden?

Eine harte Prüfung

Benjamin steht auf dem Platz, auf dem auch Joseph einst gestanden hat – er ist der jüngste und meist geliebte Sohn seines Vaters. Benjamin soll in die Knechtschaft geführt werden, wie auch Joseph einst den Platz eines Sklaven ausgefüllt hat. Die zehn Brüder sind wie einst zuvor völlig frei, um zu ihrem Vater in Frieden zurückzukehren. Was werden sie unter diesen Umständen tun? Werden sie wieder so wie in den vergangenen Tagen auf dem Feld Dothans handeln? Werden sie ihren Bruder der Sklaverei ausliefern, obwohl sie von seiner Unschuld wissen? Sie haben so mit Joseph gehandelt; werden sie auch so mit Benjamin handeln? Werden sie zu Jakob zurückkehren und seinem Gram mit einigen falschen Geschichten entgegentreten, die das Fehlen Benjamins erklären sollen, wie sie einst auch den Verlust Josephs erklärt haben?

O nein! Die Gnade hat in diesen Männern gewirkt und die Reue hat ihr Werk getan. Durch die forschende Frage Josephs wird die ganze Wahrheit bekannt. Joseph kann sagen: „Was ist das für eine Tat, die ihr getan habt! Wußtet ihr nicht, daß solch ein Mann, wie ich, wahrsagen kann?“ (V. 15). Und das ist immer der Weg, den die Gnade nimmt. So handelte auch der Herr mit einer sündigen Frau „nahe bei dem Felde, welches Jakob seinem Sohn Joseph gab“ (Joh 4,5). „Gehe hin, rufe deinen Mann“ war nur eine andere Weise zu sagen: „Was ist das für eine Tat, die ihr getan habt!“ Wie gab Er sich selbst als der Eine zu erkennen, der „wahrsagen“ kann, denn sie sagte: „Er hat mir alles gesagt, was irgend ich getan habe“ (V. 39). Und niemand kann glücklich und vertraut sein in der Gegenwart des Herrn der Herrlichkeit, bis er gelernt hat, daß der Herr auch das Allerschlechteste von ihm kennt und ihn trotzdem liebt.

Das ist auch der Weg, den Joseph nimmt, und wie ist doch das Ergebnis gesegnet! Sie rechtfertigen sich nicht mehr länger. Sie rufen aus: „Was sollen wir meinem Herrn sagen? Was sollen wir reden und wie uns rechtfertigen? Gott hat die Missetat deiner Knechte gefunden; siehe, wir sind die Knechte meines Herrn“ (V. 16). Sie versuchen nicht länger, sich selbst zu rechtfertigen, wie sie es soeben noch getan haben, und sie versuchen auch nicht, ich selbst freizusprechen, wie sie es in der Vergangenheit getan haben. Sie sind überführte Sünder, gefunden durch Gott; und sie unterwerfen sich völlig Joseph, indem sie sagen: „Wir sind die Knechte meines Herrn.“

Ein ergreifender Appell

Das ist tatsächlich ausgezeichnet, aber es sind Worte und mochten nur ein leeres Bekenntnis sein. Worte müssen durch Taten bestätigt werden. Juda tritt deshalb im Namen seiner Brüder hervor und beweist die Wahrheit ihrer Worte durch das, was sie bereit waren zu tun. Er kann sagen: „Laß doch deinen Knecht anstatt des Knaben bleiben, als Knecht meines Herrn, und der Knabe ziehe hinauf mit seinen Brüdern“ (V. 33). Mehr noch, die flehende Liebe, von der der ergreifende Appell geprägt ist, beweist, wie tief die Reue war, die an ihren Seelen gearbeitet hatte. Das steinerne Herz hat sich tatsächlich in ein fleischernes Herz gewandelt. Als Sohn verwendet er sich für Jakob. Er ist unser Vater, er ist ein alter Mann, er liebt Benjamin (V. 20). Wie könnte ich das Unglück ansehen, … „welches meinen Vater treffen würde?“ (V. 34). Als wahrer Bruder verwendet er sich für Benjamin. Er ist ein junger Knabe, unser jüngster Bruder (V. 20. 26). Aber diese dringende Bitte an Joseph zeigt, daß nicht nur Reue an ihnen gearbeitet hat, sondern daß sie auch in einem gewissen Maß Vertrauen gewonnen haben. Das ist ein schönes Bild von der „Buße zu Gott und dem Glauben an unseren Herrn Jesus Christus“, die immer ein echtes Werk der Gnade begleiten (Apg 20,21).

(Wird fortgesetzt) H.S.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1987, Seite 315

Bibelstellen: 1Mo 43, 18-44, 34

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