Joseph
Kapitel 7: Versöhnung (1. Mo 45,1-8)
Bis jetzt hat sich Joseph fremd gegen seine Brüder gestellt, hart mit ihnen gesprochen und sie streng behandelt, denn das Gewissen muß erreicht und Reue bewirkt werden. Aber als die Liebe ihren Dienst auf diese ungewohnte Weise vollendet hat, kann Joseph sich nicht mehr länger bezwingen und gibt sich ihnen zu erkennen. Nachdem er die Schuld ihrer Herzen offengelegt hat, muß er die Liebe seines eigenen Herzens kundtun. Als sie die Bosheit ihrer Herzen erkannt haben, kann er die noch größere Gnade seines Herzens offenbaren, die sich, obwohl sie um alle Bosheit weiß, in voller, freier Vergebung darüber erheben kann.
Die Offenbarung Josephs
Joseph muß sich zu erkennen geben (V. 1). Nichts Geringeres kann sein Herz befriedigen und nichts Geringeres ihren Herzen Ruhe geben. Das ist auch heute noch der Weg der Liebe des Heilands mit dem beunruhigten Sünder. Nichts wird die Last der Schuld wegnehmen als nur das Wissen, daß alles bekannt und durch den Einen, gegen den wir gesündigt haben, vergeben ist. Das Wissen um unseren Herzenszustand, so notwendig dies auch ist, wird der Seele keinen Frieden bringen. Wir mögen die Vergangenheit beklagen und uns wegen unserer Sünden zermürben, aber weder die Erkenntnis des Bösen in unseren Herzen noch Reue, so echt sie auch sein mag, noch aufrichtige Trauer über Sünde kann die Seele trösten. Um Ruhe und Frieden zu erlangen, muß sich der Herr selbst zu erkennen geben. Dann entdecken wir mit großer Freude, daß Sein Herz voll ist von Gnade für das Herz des Menschen voller Schuld. Nichts anderes als Liebe zu uns ist in Seinem Herzen, obwohl Er alle unsere Sünden kennt. Dann können wir ruhen, ruhen in Ihm und nicht in etwas, das wir in uns selbst haben. Um Sein Herz so erfahren zu können, müssen wir mit Ihm allein sein. So muß auch Joseph, bevor er sich zu erkennen geben kann, sagen: „Laßt jedermann von mir hinausgehen!“ (V. 1). Welch ein wunderbarer Augenblick in unserem Leben, wenn alle Menschen vor unseren Blicken schwinden und wir niemand mehr sehen „als Jesum allein“ (Mt 17,8), wenn wir allein mit Ihm im Bewußtsein unserer Sündhaftigkeit erfahren, daß Er uns durch und durch kennt und uns dennoch liebt. Die Begegnung des Herrn mit der Frau von Sichar gibt uns ein treffendes Bild eines solchen Augenblicks. Als sie mit Ihm allein war, deckte Er die ganze Sünde ihres Herzens auf, sagte ihr alle Dinge, die sie getan hatte und offenbarte Sich dann als der Christus voll Gnade und Wahrheit für einen Sünder voller Schuld. Er wußte alles, was sie getan hatte, aber Er sagte: „Ich bin’s (der Christus), der mit dir redet“ (Joh 4,26). Sie erkennt sich als Sünder, bloßgestellt in der Gegenwart des Christus Gottes, aber anstatt sie zurückzuweisen, sagt Er: „Komm hierher“ (V. 16). Er sagt gewissermaßen: „Ich weiß das Schlechteste von dir, und obwohl dich deine Sünde zu einer einsamen Frau gemacht hat, obwohl sie dich von der Gemeinschaft mit anderen Frauen zurückschrecken läßt, bist du mir dennoch willkommen – komm hierher!“
Die Annahme seiner Brüder
Solche Wege der Gnade werden durch die Geschichte Josephs in gesegneter Weise vorgeschaltet. Als er mit seinen Brüdern allein ist, erklärt er auf einmal: „Ich bin Joseph“ (V. 3). Und so, wie der Herr zu der Frau sagte: „Komm hierher“, so kann Joseph zu seinen Brüdern sagen: „Tretet doch zu mir her“ (V. 4). Joseph ist nicht nur bereit zu vergeben, sondern er wünscht auch die Gemeinschaft mit denen, denen er vergibt. Wir erfreuen uns der Gnade, die unserer Not begegnet, aber wie wenig erkennen wir, daß der Eine, der unsere Schuld wegnahm, unsere Gemeinschaft wünscht. Christus ist zu uns gekommen, damit wir zu Ihm kommen können. Als Er durch diese Welt schritt, bestellte Er sich zwölf, „auf daß sie bei ihm seien“ (Mk. 3,14). Als Er die Welt verließ, starb Er für uns, „auf daß wir, sei es daß wir wachen oder schlafen, zusammen mit ihm leben“ (1. Thes 5,10). Und wenn Er wiederkommt, wird Er uns zu Sich nehmen, „und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein“ (1. Thes 4,17). Wenn uns die Liebe für die Gemeinschaft mit Ihm passend macht, wird sie ohne unsere Gemeinschaft nicht befriedigt sein.
Die Befreiung von Angst
Wenn die Brüder in der Gemeinschaft mit Joseph zur Freude seines Herzens sein sollen, müssen sie ohne eine Spur von Furcht, ohne jede Trauer und ohne die geringste Sorge sein. Kein Bedauern über die Vergangenheit, keine Furcht in der Gegenwart und keine Sorgen um die Zukunft dürfen aufkommen und die Freude der Gemeinschaft zwischen Joseph und seinen wiederhergestellten Brüdern beeinträchtigen. Mit großem Geschick wird Joseph ihnen die Furcht und Trauer wegnehmen und sie von ihren Sorgen befreien.
Die wiederholte Versicherung der Liebe
Die Brüder fürchten sich offensichtlich, denn wir lesen: „Und seine Brüder… waren bestürzt (o. schraken zurück) vor ihm“ (V. 3). Joseph zieht sie jedoch mit den Banden der Liebe zu sich. „Tretet doch zu mir her“, sagt er. „Und sie traten herzu“ (V. 4). Nachdem er sie zu sich gezogen hat, versucht er ihnen jede Furcht zu nehmen und erinnert sie daran, daß er immer noch ihr Bruder ist. „Ich bin Joseph, euer Bruder“ (V. 4). Er sagt gleichsam: „Ich weiß wohl, wie ihr mich in der Vergangenheit behandelt habt, wie ihr mich gehaßt, verschmäht und verkauft habt, aber fürchtet euch nicht, ich bin Joseph, euer Bruder. Ich weiß auch, daß der Tag meiner Erhöhung gekommen ist, und ihr braucht euch nicht zu fürchten, obwohl ihr mich, den ihr verworfen habt, in eine. Stellung der Macht seht; denn obwohl ich herrsche, bin ich noch euer Bruder.“
Die Erinnerung an die Vergangenheit
Wie schon zuvor kann Joseph es nicht zulassen, daß irgendein Bedenken aufsteigt, das ihre Freude an seiner Liebe beeinträchtigt. „Und nun“, sagt Joseph, „betrübet euch nicht, und es entbrenne nicht in euren Augen, daß ihr mich hierher verkauft habt“ (V. 5). Die Sünde war bekannt worden, und Joseph wird nicht nur vergeben, sondern auch alle noch vorhandenen Schmerzen und Selbstvorwürfe wegnehmen. Er wird ihnen versichern, daß trotz ihrer Sünde, ja sogar durch ihre Sünde Gott Seine Absichten des Segens ausführen konnte. Es ist wahr, daß ihr mich hierher verkauft habt, muß Joseph sagen, aber er fügt hinzu: „Gott hat mich vor euch hergesandt, um euch … am Leben zu erhalten für eine große Errettung“ (V. 7). So befreit er seine Brüder von der Beschäftigung mit sich selbst, indem er ihre Gedanken und Zuneigungen auf seine Person und seine Herrlichkeit lenkt und auf die Segnungen, die ihnen durch seine Erhöhung zufließen.
Die Befreiung von Sorgen
Auch in der Zukunft braucht keine Sorge oder Angst ihre Gedanken zu beunruhigen, denn Joseph kann in der Botschaft, die er seinem Vater sendet, sagen: „Du sollst im Lande Gosen wohnen und nahe bei mir sein, du und deine Söhne und die Söhne deiner Söhne … und alles, was du hast. Und ich will dich daselbst versorgen“ (V. 10. 11).
Das Erkennen der Liebe
So gibt sich Joseph seinen Brüdern mit wunderbarem Feingefühl und großer Liebe zu erkennen, vertreibt ihre Furcht und befreit sie von der Angst und der Beschäftigung mit sich selbst, indem er ihre Gedanken mit seiner Person und seinen Herrlichkeiten ausfüllt und sie durch gütige Worte gewinnt. „Und siehe“, sagt Joseph, „eure Augen sehen es,… daß mein Mund es ist, der zu euch redet“ (V. 12). Wenn die Furcht zerstreut, die Trauer genommen und die Sorgen vertrieben sind, kann die Liebe ungehindert fließen. „Und er küßte alle seine Brüder, … und danach redeten seine Brüder mit ihm“ (V. 15). Ihre Augen haben seine Herrlichkeiten gesehen, ihre Ohren seine Worte der Gnade gehört, ihre Herzen waren von seiner Liebe erwärmt, und in der Wärme seiner Liebe sind sie frei, mit ihm zu reden. Kein Schatten, der die Gemeinschaft der Liebe zwischen Joseph und seinen Brüdern hindern könnte, bleibt. Vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. All das schattet die noch zukünftige Handlungsweise Christi mit Seinem irdischen Volk vor, das Ihn in vergangenen Tagen verwarf. Aber diese Geschichte zeigt uns auch den Weg, den Christus einschlägt, um uns über das Böse in unseren Herzen zu belehren und dann alle Furcht zu vertreiben, indem Er sich selbst in der Liebe Seines Herzens zu erkennen gibt.
Das Erinnern an sein Handeln
Des weitern tun wir gut daran, uns zu erinnern, daß sich Joseph fremd gegen seine Brüder stellte, bevor er sich ihnen zu erkennen gab (Kap. 42,7). Damit sie die Bosheit ihrer Herzen erkennen konnten, stellte er sich fremd gegen sie; damit sie die Liebe seines Herzens erfahren konnten, gab er sich ihnen zu erkennen. Können sich nicht viele Christen an eine Zeit in ihrem Leben erinnern, in der Christus sich scheinbar fremd stellte und hart mit ihnen handelte, als sie durch tiefe Seelenübungen gehen mußten, um dort das Böse ihres Fleisches, das in ihnen ist, zu erkennen? In solchen Augenblicken wird mancher dunkle Abschnitt aus dem eigenen Leben wieder lebendig und steht vor der Seele in seiner ganzen Häßlichkeit und Abscheulichkeit, bis sich der Schrei von den Lippen ringt: „Siehe, zu gering bin ich“ (Hiob 39,34). Aber dies ist noch nicht genug, denn wie bei Hiob muß die Übung noch tiefer gehen. Und dazu müssen wir den Bereich unserer persönlichen Erfahrung verlassen und uns dem heiligen Ernst des Kreuzes zuwenden.
In dem Leben der Brüder Josephs mag es viel Böses gegeben haben, aber um die Tiefen des Bösen in ihren eigenen Herzen zu erkennen, müssen sie über zwanzig Jahre in der Geschichte zurückgehen. Sie müssen sich daran erinnern, wie sie Joseph behandelten, als sie ihn trotz seiner Bruderliebe haßten, ihn in eine Grube warfen und nach Ägypten verkauften.
So ist es auch bei uns. Wir müssen in der Tat lernen, daß im Fleisch nichts Gutes wohnt, daß es unheilbar schlecht ist – wir müssen zum Kreuz gehen. Am Kreuz wurde die vollkommene Güte in Gott und die vollkommene Güte in einem Menschen – dem Menschen Jesus Christus – gezeigt. Am Kreuz leuchteten Gnade, Liebe und Güte in ihrer ganzen Größe. Wie reagierte das Fleisch in der Gegenwart vollkommener Güte? Es wies den Einen, in dem die Güte offenbart wurde, aufs schärfste zurück. Man verwarf Ihn, spie Ihm ins Gesicht, verspottete Ihn mit einer Dornenkrone, nagelte Ihn an ein Kreuz und warf Ihn aus der Welt hinaus. Wir alle waren dort am Kreuz vertreten, denn jede Klasse von Menschen war dort: Religiöse und Gottlose, Gebildete und Unwissende, Edle und Rohe, alle waren dort, und alle verwarfen den Christus Gottes. Jeder kann sagen: Dort sehe ich mein Fleisch – mich selbst – vollkommener Güte gegenübergestellt, und ohne zu zögern offenbart mein Fleisch – welche Form es auch haben mag – seinen grenzenlosen Haß gegenüber der Güte. Wie jemand gesagt hat: „Das Anschauen des verworfenen Christus hat mich dahin gebracht, mich selbst zu erkennen. Das Verborgenste meines Herzens ist bloßgelegt, und ich sehe mich selbst, meine verderbte Natur.“
Wenn ich das Fleisch durch Erfahrungen kennenlerne, entdecke ich seine Gier und Habsucht, seinen Stolz und seine Eitelkeit, kurz gesagt: Durch bittere Erfahrungen erkenne ich, daß das Fleisch das Böse liebt. Aber wenn ich zum Kreuz komme, lerne ich einen viel schrecklicheren Zustand seines Charakters kennen, da ich dort sehe, daß das Fleisch das Gute haßt.
Die Weigerung des Ichs
Es ist ein großer Unterschied, ob man den Charakter des Fleisches durch Erfahrung kennenlernt oder ihn in dem Licht Gottes, wie es sich am Kreuz kundtat, erkennt. Wenn ich das Fleisch nur soweit kenne, wie ich es in mir selbst wahrnehme, könnte ich auf den Gedanken kommen, daß man es möglicherweise verbessern kann. Ich mag zugeben, daß es abscheulich ist und das Böse liebt, aber ich sage vielleicht: Kann man es nicht verbessern oder erneuern? Der Mensch im Fleisch mag fähig sein, viel für die Verbesserung und Erneuerung zu tun, aber am Ende ist er weiter denn je von Gott entfernt. Diese große Lektion lerne ich am Kreuz. Dort war Christus nicht nur „das Saitenspiel der Zecher“, sondern auch nüchterne Menschen, die im Tore saßen, redeten über Ihn (Ps 69,12). Ob betrunken oder nüchtern: Das Fleisch haßt Gott und haßt Christus, in dem Gott sichtbar wurde. So beweist das Kreuz, daß das Fleisch vollkommen schlecht ist. Ein Mensch, der die Sünde liebt, könnte vielleicht verbessert werden, aber für einen Menschen, der vollkommene Güte haßt, ist es unmöglich, sich zu verbessern. Wenn wir diesen Punkt erreicht haben, können wir mit Hiob nicht nur sagen: „Siehe, zu gering bin ich“, sondern auch: „Darum verabscheue ich mich“ (Hiob 42,6). Wir verabscheuen keinen Menschen, wie verdorben er auch sein mag, wenn er bemüht ist, das Böse zu überwinden, sondern wir bewundern ihn vielmehr. Aber wenn es sich erweist, daß ein Mensch schlecht ist, und zwar ohne Hoffnung auf Besserung, verabscheuen wir ihn zu Recht. Dahin mußte Hiob kommen, und auch wir müssen im Licht des Kreuzes diesen Punkt erreichen, an dem wir uns als hoffnungslos schlecht aufgeben.
Die Ruhe der Gemeinschaft
Aber wenn wir, wie Hiob und die Brüder Josephs, das Böse unserer eigenen Herzen erfahren haben – die völlige Verderbtheit des Fleisches -, mit welcher Erleichterung wenden wir uns von uns selbst weg hin zu Christus, und wie erfreut es Ihn, uns frei zu machen, indem Er Sich uns in all der Gnade Seines Herzens vorstellt. Wir werden entsetzt sein, wenn wir die Bosheit unserer Herzen erkennen. Aber weil Christus uns Sein Herz offenbart und uns Seine Liebe mitteilt, weil Er uns zu Sich zieht und den Wunsch Seines Herzens, uns in Seiner Gemeinschaft zu haben, kundtut, weil Er es uns schenkt, Seine Herrlichkeit anzuschauen und Seine Stimme zu hören, ist die Pein der Furcht durch vollkommene Liebe genommen -durch die Liebe, die die Furcht austreibt (1. Joh 4,18). Die Seele wendet sich nicht mehr sich selbst zu, um über das innewohnende Böse zu trauern, die Zukunft liegt nicht mehr dunkel vor uns, sondern in dem Bewußtsein Seiner Liebe können wir liebliche Gemeinschaft mit Ihm pflegen, wie Josephs Brüder, die mit ihm redeten.
(Wird fortgesetzt) H.S.
Schreibe einen Kommentar