Nicht nötig

Im Neuen Testament finden wir verschiedentlich den Ausdruck, daß etwas „nicht nötig“ ist. Der Herr Jesus selbst spricht diese Worte und verbindet damit bemerkenswerte Belehrungen für Seine Jünger. Aber auch der Apostel Paulus benutzt sie dreimal in seinem ersten Brief an die Thessalonicher, wenn er von der Frische des geistlichen Lebens seiner Brüder dort Zeugnis gibt.

Auch wir werden inneren Gewinn haben, wenn wir den Sinn dieser Aussagen in ihrem jeweiligen Zusammenhang zu begreifen suchen und als göttliche Belehrung auf unsere Herzen einwirken lassen.

„Jesus aber sprach zu ihnen: Sie haben nicht nötig wegzugehen; gebet ihr ihnen zu essen“ (Mt 14,16).

Warum schlugen wohl die Jünger dem Herrn vor, die fünftausend Männer mit ihren Frauen und Kindern einfach wegzuschicken, um sich die nötige Nahrung selbst zu besorgen? War dazu nicht der „Abend“ zu spät, der Weg aus der „Öde“ in die nächsten „Dörfer“ zu weit, die Zahl der Bedürftigen zu groß? Wahrscheinlich sahen sie in ihrem Vorschlag den einzig gangbaren Ausweg aus dieser Schwierigkeit. Wenn auch die Volksmenge sich selbst überlassen und manche Hand leer bleiben würde, es mußte doch etwas geschehen! Gewiß – doch was da geschehen sollte, darin dachte der Herr ganz anders! Er, der „innerlich bewegt“ war (V. 14) und sich in Seiner Heilandsliebe den ganzen Tag um diese Menschen bemüht hatte, begegnete dem Vorschlag Seiner Jünger mit der höchst merkwürdigen Feststellung: „Sie haben nicht nötig wegzugehen!“

Vielleicht gab es ein betroffenes Schweigen unter den Jüngern, vielleicht ein geheimes Fragen, was der Herr wohl meinte, aber dann fügte Er hinzu: „Gebet ihr ihnen zu essen!“ und durchkreuzte damit die so vernünftig erscheinenden Überlegungen ihres „gesunden Menschenverstandes“.

Mehr sagte der Herr ihnen vorerst nicht und ließ ihnen so ihre Verantwortung bewußt werden. Und als sie bekennen mußten: „Wir haben nichts hier als nur fünf Brote und zwei Fische“, da mußte ihnen der Zwiespalt zwischen der ihnen übertragenen Aufgabe und ihrem Unvermögen noch deutlicher erscheinen. Doch dieses Empfinden sollte nicht Selbstzweck sein; der Herr wollte Seine Jünger nicht mit der zermürbenden Erkenntnis eigener Unfähigkeit und Hilflosigkeit allein lassen; Seine Absicht war vielmehr, sie zu unterweisen:

– Eure Überlegungen richten sich nur auf die fünf Brote und zwei Fische – das ist menschliches Rechnen mit menschlichen Mitteln!

– Ihr seht nur darauf, was ihr bei euch habt, nicht aber darauf, wen ihr bei euch habt – eine solche Sichtweise verstärkt nur das Bewußtsein der Schwierigkeit, verbaut aber den Blick auf die Quelle aller Hilfe!

– Und weil ihr hierfür keinen Blick habt, könnt ihr auch nicht meine Heilandsempfindungen teilen, mit denen Ich „innerlich bewegt“ meine Macht zugunsten dieser hungernden Menge gebrauchen möchte. Meine göttliche Liebe überläßt den Menschen nicht sich selbst; er hat nicht nötig wegzugehen! Ich will ihn in meiner Gegenwart, durch meine Person und mit meiner Speise gesättigt sehen; und gerade dazu wollte Ich euch gebrauchen!

Das mußte die Jünger – zumindest nachträglich – deutlich treffen! Doch der Herr machte weder Vorhaltungen, noch „schalt er ihren Unglauben“. Er sagte ganz einfach: „Bringet sie mir her!“ Wenn auch nur diese fünf Brote und zwei Fische in der Hand der Jünger waren, so sollten sie dieses wenige in die Hand des Herrn legen. Das, was ihre Verlegenheit ausmachte, sollte zu einer Gelegenheit für Ihn werden. Und was für eine Gelegenheit wurde es!

Als unter der segnenden Hand des Herrn – und nur dort – die wenigen Brote zu einer überquellenden Fülle von Speise wurden, da werden die Jünger staunend begriffen haben, warum es nicht nötig war, die hungernde Menge fortzuschicken. Er war da, Er, dessen Allmacht schon die Väter mit „Himmelsbrot“ versorgt hatte – „Seine Speise will ich reichlich segnen, seine Armen mit Brot sättigen“ (Ps 132,15) -, der „Speise zu seiner Zeit“ gab und gibt (Ps 145,15), der jetzt in Menschengestalt unter ihnen gegenwärtig war als das wahre „Brot des Lebens“, das „der Welt das Leben gibt“ (Joh 6,35.33)!

Ob sie wohl Beschämung empfunden haben, als sie in der Gegenwart dieser wunderbaren Person an die Aufforderung dachten: „Gebet ihr ihnen zu essen“? Der Herr hatte ihnen eine Aufgabe gegeben, gewiß; aber war es ihnen auch bewußt gewesen, daß der Sohn Gottes, ihr Herr und Meister, zu jeder übertragenen Aufgabe und Verantwortung auch die nötigen Hilfsmittel bereithielt? Hier wird der Grundsatz deutlich, daß der Glaube allein ausgerichtet sein muß auf Ihn selbst, in dem jede Hilfe begründet liegt. Sonst verkümmert das Verantwortungsbewußtsein in Entmutigung oder entartet zu bloßer Betriebsamkeit. Dienst muß immer bestehen in „Werken des Glaubens“!

In welch langmütiger Weise belehrte der Herr die Jünger hierüber, als Er ihnen die gebrochenen Brote reichte! Er blieb dabei: „Gebet ihr ihnen zu essen“, und Er griff auch auf nichts anderes zurück als auf ihre unzureichenden fünf Brote und zwei Fische. Aber was die Jünger jetzt als Speise austeilten, war durch die Hand ihres Herrn gegangen und dadurch zu einer mehr als ausreichenden Fülle geworden! Nun mußten sie begreifen, auf welche Weise allein sie die ihnen übertragene Aufgabe erfüllen konnten.

Und noch eines mag ihnen bewußt geworden sein: Der Herr hätte dieses Problem auch ohne ihre Mitwirkung lösen können – etwa wie Er die Münze aus dem Maul des Fisches benutzte (Mt 17,24-27) oder in den vielen notvollen Fällen von Krankheit und Tod handelte -, nämlich durch die freie Entfaltung Seiner Allmacht. Aber hier wollte Er ihre Brote gebrauchen. Er sagte auch nicht nur: „Bringet sie mir her“, sondern Er wollte zuvor von ihnen hören, was in ihrer Hand war. „Wie viele Brote habt ihr? Gehet hin und sehet“ (Mk 6,38). Welche Gnade, welch ein Vorrecht, daß sie zu Mitwirkenden Seiner Macht werden sollten!

Vielleicht haben sich alle Jünger in ähnlicher Weise auf die Probe gestellt gefühlt wie Philippus, dem der Herr die Frage der Speisung stellte, um „ihn zu versuchen“, obwohl Er selbst „wußte, was er tun wollte“ (Joh 6,6).

Wie bestehen wir heute diese Probe? Haben wir ein Empfinden dafür, wenn diese Frage an uns herantritt inmitten von Menschen dieser Welt, deren Seelen an diesem „öden Ort“ vor „Hunger“ umkommen, weil sie den Herrn Jesus, das wahre „Brot des Lebens“, nicht kennen? Überlassen wir sie den Irrlichtern heutiger Ideologien und „Heilslehren“, oder nehmen wir die Stimme des Herrn wahr: „Sie haben nicht nötig wegzugehen. Gebet ihr ihnen zu essen!“? Vielleicht sagen wir unter dem Eindruck unserer eigenen Unzulänglichkeit gleichsam: „Wir haben nichts“ und denken an unsere „schwere Zunge“, unseren Mangel an Kontaktfreudigkeit, unsere fehlende Erfahrung und was es sein mag – kurz, wir sind von dem Gedanken beherrscht: „Was ist das unter so viele?“ Aber der Herr erwartet nicht, daß das, was wir haben, für die Bedürfnisse der Seelen ausreichen soll, sondern daß wir es Ihm zur Verfügung stellen. „Gehet hin und sehet“ und dann: „Bringet sie mir her!“

Wenn wir dann im Glauben erfassen, daß Er da ist und daß wir in Seinem Dienst stehen, dann werden wir erfahren, wie Er aus dem wenigen ein volles Maß schafft, den Glauben belohnt und Frucht wirkt. Dann bleiben wir auch bewahrt vor Entmutigung oder selbstgemachter frommer Betriebsamkeit, den zwei Extremen, die man heute vielfach findet

Aber es gibt auch einen Dienst, wo wir nicht Speise zum Leben auszuteilen haben, sondern Nahrung für das Leben. Sicherlich dürfen wir die Belehrungen des Herrn auch hierauf anwenden: Wenn Er uns gebrauchen will, unter Gläubigen „Seelenspeise für die Reise“ auszuteilen, wie oft will uns da das Empfinden eigener Unzulänglichkeit verzagt machen. Wir sehen vielleicht die Fülle der Bedürfnisse und möchten am liebsten sagen: „Entlaß die Menge“, d.h., wir sind geneigt, uns diesem Dienst zu entziehen. Und doch sagt der Herr: „Sie haben nicht nötig wegzugehen. Gebet ihr ihnen zu essen!“ Wir werden uns dann die herzerforschende Frage gefallen lassen müssen: „Wie viele Brote habt ihr?“ Ja, was haben wir bereit, das Er benutzen kann? Möge uns diese Frage nicht beschämen, weil wir lässig waren im Sammeln! Dennoch werden wir selbst nie „genug“ haben, weder der Menge noch der Art nach, denn nur Seine Hand kann segnen. Aber wir werden Seine Stimme vernehmen, die uns ermutigt, das, was wir haben, Ihm zur Verfügung zu stellen. Dann wird Er uns die vermehrte Speise zurückreichen zum Austeilen. „Und sie aßen alle und wurden gesättigt“ (V. 20). Welch ein beeindruckendes Ergebnis! Es wird den Diener zu vermehrter Demut führen, seine Abhängigkeit vertiefen und sein Vertrauen stärken. Vor allem aber wird es Ihn verherrlichen, der den Seinen im „Brothaus“ eine Fülle von Speise gibt, indem Er sich selbst ihnen mitteilt. H.W.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1990, Seite 337

Bibelstellen: Mt 14, 16

Stichwörter: Brot, Fisch, Speisung