Thomas

„Thomas aber, einer von den Zwölfen, genannt Zwilling, war nicht bei ihnen, als Jesus kam“ (Joh 20,24). Wieviel hat er versäumt! Nicht umsonst fordert uns das Wort Gottes mit besonderem Hinweis auf die letzten Tage auf, „unser Zusammenkommen nicht zu versäumen, wie es bei etlichen Sitte ist“ (Heb 10,25). Dies braucht keineswegs immer gleich in leiblichem Fernbleiben zu bestehen. Auch Eutychus, der in Apostelgeschichte 20 erwähnte Jüngling, verlor viel dadurch, daß er dort zu Troas im Obersaal „vom Schlaf überwältigt“ wurde.

Aber Thomas empfand nicht, was er versäumt hatte, ja, als die anderen Jünger zu ihm sagten: „Wir haben den Herrn gesehen“ (Joh 20,25), will er es ihnen nicht glauben. Sicherlich ist der Grund dafür zum Teil in seiner Veranlagung zu suchen; denn obwohl wir ihm nur viermal in der Schrift begegnen, ist sein Charakter doch deutlich gezeichnet. Damals, als der Herr sich durch den Hinweis auf die Feindschaft der Juden nicht zurückhalten ließ, zu den trauernden Schwestern nach Bethanien hinaufzuziehen, sagte Thomas zu seinen Mitjüngern: „Laßt auch uns gehen, auf daß wir mit ihm sterben“ (vgl. Joh 11,7.8; 15.16). Das zeigt eine rührende Hingabe an den Herrn, aber zugleich eine Neigung zu dunklen Ahnungen, die niemals eintreffen sollten. Und als der Herr später von dem Erlösungswerk und seinen herrlichen Ergebnissen spricht und hinzufügt: „Und wo ich hingehe, wisset ihr, und den Weg wisset ihr“, sagt Thomas in fast verweisendem Ton: „Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst, und wie können wir den Weg wissen?“ – so wenig Eindruck hatte es auf ihn gemacht, daß sie in und mit Ihm doch auf dem Weg zum Vater waren, ja, zu den Wohnungen im Vaterhaus, wo Er selbst sie einführen wollte (Joh 14,1-7)! – Wird er, der bei allem immer nur die Schwierigkeiten sah (jedoch gewiß vornehmlich wegen der Begebenheit, die uns heute beschäftigt), nicht mit gewissem Recht der „ungläubige Thomas“ genannt?

„Er aber sprach zu ihnen: Es sei denn, daß ich in seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meine Finger in das Mal der Nägel lege, und lege meine Hand in seine Seite, so werde ich nicht glauben“ (Kap. 20,25). Wie viele der Jünger am Abend des Auferstehungstages zugegen waren, wissen wir nicht; aber sicherlich waren es Zeugen genug, die Ihn dort gesehen, gehört, ja, deren Hände Ihn betastet hatten. Ist es nicht ernst, einem solch wohlbegründeten Zeugnis nicht zu glauben? Alles das gilt Thomas nichts; er stellt Bedingungen, er will „sehen“ und „fühlen“.

„Es sei denn …, so werde ich nicht glauben.“ Wie wird er sich doch später einer solchen Sprache geschämt haben! Das war im Grunde nichts anderes als die Sprache der Feinde des Herrn, die ein Zeichen forderten, „auf daß wir sehen und dir glauben“ (Joh 6,30; vgl. Mt 12,38; 27,42). Und so weisen die Juden noch bis auf den heutigen Tag das Zeugnis von dem Auferstandenen zurück und zeigen dieselbe Gesinnung, die dem Herrn damals schon zu dem Ausruf Anlaß gab: „O ungläubiges und verkehrtes Geschlecht! Bis wann soll ich bei euch sein? Bis wann soll ich euch ertragen?“ (Mt 17,17). Laßt uns auf der Hut sein, daß nicht etwa auch in uns solch ein „böses Herz des Unglaubens“ sei, wie wir in Hebräer 3,12 ermahnt werden.

Doch an dem nächsten ersten Tag der Woche finden wir die Jünger abermals versammelt, „und Thomas bei ihnen“ (Joh 20,26). Soviel hatte er doch in dieser Woche gelernt, daß er nun nicht wieder fehlte. Wie verschieden mögen die Gefühle in den Herzen der Jünger gewesen sein und bei Thomas! Aber der Herr täuscht ihre Erwartungen nicht, und Er beschämt den Unglauben des einen.

„Da kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und stand in der Mitte und sprach: Friede euch!“ Und wie wunderbar, wir dürfen sagen, daß dieser Besuch in besonderer Weise dem Thomas gilt; Er wendet sich ohne Umschweife an ihn: „Dann spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig“ (Kap. 20,27). Welch eine wunderbare Herablassung war dies! Hat Er uns nicht auch schon manches Mal beschämt, als wir um Ihn als den wahren und einzigen Mittelpunkt versammelt waren? War es nicht oft so, als hätte Er sich mit Seinem Worte geradewegs an uns persönlich gewandt?

Doch noch eindrucksvoller fast als die Tatsache, daß Er sich an Thomas wendet, ist, was Er zu ihm spricht – denn es klingt fast wie eine Wiederholung der Worte, oder sagen wir: der Bedingungen, die Thomas gestellt hatte. Es ist der Herzenskenner, der hier vor uns steht, und der entsprechend Seiner vollkommenen Kenntnis jedem Herzen auf dem Boden begegnet, auf dem es sich befindet.

So wird selbst der Unglaube überwältigt: Diese Langmut und Herablassung ist dem schwerblütigen, glaubensträgen Herzen des Jüngers zuviel. „Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!“ (Kap. 20,28). So wird auch Sein irdisches Volk, nachdem es durch die Gerichte gegangen ist, sich niederwerfen vor Dem, dessen Füße auf dem Ölberg stehen, wenn sie Den schauen werden, den sie durchstochen haben, „und wehklagen werden seinetwegen alle Stämme des Landes“ (Off 1,7). „Ich werde sie läutern, wie man das Silber läutert, und sie prüfen, wie man das Gold prüft. Es wird meinen Namen anrufen, und ich werde ihm antworten; ich werde sagen: Es ist mein Volk; und es wird sagen: Jehova ist mein Gott“ (Sach 13,9).

„Jesus spricht zu ihm: Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig sind, die nicht gesehen und geglaubt haben!“ (Kap. 20,29). „Sehen und glauben“, das ist dereinst das Teil des wiederhergestellten Volkes Israel, aber es wird dann nicht mehr die himmlischen Segnungen der Kirche erreichen. „Nicht sehen und glauben“ ist das Kennzeichen der Erretteten in der gegenwärtigen Gnadenzeit. Wahrlich, wie glückselig sind die, die sich aus der Welt zu dem von ihr verworfenen Christus wenden! – „welchen ihr, obgleich ihr ihn nicht gesehen habt, liebet; an welchen glaubend, obgleich ihr ihn jetzt nicht sehet, ihr mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude frohlocket“ (1. Pet 1,8). Leser, gehörst du zu dieser glückseligen Schar?

Als der Herr sich das nächste Mal Seinen Jüngern offenbarte, fehlte der „ungläubige“ Thomas nicht; es ist das vierte und letzte Mal, wo er in der Heiligen Schrift erwähnt wird. F. v. K.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1992, Seite 337

Bibelstellen: Joh 20, 24-29

Stichwörter: Glaube, Thomas, Unglaube