Die Bergpredigt: Der Richtgeist

Matthäus 7,1-5

Das Thema von Matthäus 7,1-6 ist das Verhältnis des Jüngers zu seinem Nächsten. Zunächst spricht der Herr Jesus vom falschen Richten (V. 1-5), dann vom Urteilsvermögen (V. 6).

Notwendiges Richten

„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“ (V. 1). Ein wohlbekannter Vers! Er trägt wie so manche anderen nahezu sprichwörtlichen Charakter. Aber leider wird er manchmal auch von gläubigen Christen falsch verstanden und angewandt.

Der Herr Jesus verbietet Seinen Jüngern nämlich durchaus nicht, ein gesundes geistliches Urteil zu haben. Im Gegenteil, in Seinen folgenden Worten (V. 6) setzt Er voraus, daß sie fähig sind, zu beurteilen, was sie tun oder unterlassen sollen. Auch der Apostel Paulus forderte seine Leser auf, zu beurteilen, was er ihnen schrieb (1. Kor 10,15).

Nun könnte man einwenden, daß beurteilen und richten doch nicht dasselbe seien. Das zugrundeliegende griechische Wort (krinein) hat jedoch nicht nur diese, sondern noch weitere Bedeutungen. Die Skala geht von „(unter)scheiden“ über „urteilen“ und „richten“ bis „verurteilen“.

Als Jünger des Herrn sollten wir nicht nur uns selbst im Licht Gottes beurteilen und nötigenfalls richten (Röm 14,13; 1. Kor 11,31), sondern auch das, was auf geistlichem Gebiet auf uns zukommt (1. Kor 12,10; 1. Joh 4,1). Darüber hinaus trägt die Versammlung Gottes die Verantwortung, Böses in aller Entschiedenheit zu verurteilen und diejenigen, die in einer offenbar bösen Gesinnung oder einem bösen Zustand verharren, zu richten: „Ihr, richtet ihr nicht, die drinnen sind? Die aber draußen sind, richtet Gott; tut den Bösen von euch selbst hinaus.“ (1. Kor 5,12.13).

Diese Arten des „Gerichts“ sind im Leben und in der Gemeinschaft der Gläubigen absolut notwendig, und zwar um der Ehre und Heiligkeit Gottes willen, aber auch zu unserem eigenen geistlichen Wohlergehen und Wachstum. Sie sind daher unerläßliche und hilfreiche Stützen des Glaubenslebens. Wo dieses biblische Richten fehlt, wird der Gleichgültigkeit und Weltförmigkeit Tür und Tor geöffnet.

Falscher Richtgeist

Aber diese an sich so unerfreuliche Beschäftigung mit dem Bösen muß dennoch im Geist der Liebe, Gnade und Demut geschehen, denn das erste Ziel ist, daß Herz und Gewissen erreicht und gewonnen werden. Wenn Brüder, die sich mit jemand unterhalten und beschäftigen müssen, der gesündigt hat, dies nicht in einer solchen Haltung tun, sondern mit einem Richtgeist, dann können sie keine Hilfe sein, sondern nur die Lage verschlimmern. Das Endergebnis ist dann oft Verbitterung und Verhärtung.

Wie wir in einem solchen Fall handeln sollen, lesen wir in Galater 6,1: „Brüder! Wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt übereilt würde, so bringet ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht im Geist der Sanftmut, indem du auf dich selbst siehst, daß nicht auch du versucht werdest“ (vgl. auch Mt 18,15-18).

Das im rechten Geist und in der rechten Haltung durchgeführte Richten der Sünde ist somit nicht gemeint, wenn der Herr Jesus sagt: „Richtet nicht …“ Er verurteilt hier etwas ganz anderes, nämlich den Richtgeist, die pharisäische Neigung, uns ständig über andere zu stellen und nicht nur ihr Tun, sondern auch ihre Motive in einem negativen Licht zu sehen und in liebloser Weise abzuurteilen.

Dieser Richtgeist offenbart:

Unbesonnenheit, weil man urteilt, bevor man die Zusammenhänge genau kennt;

Ungerechtigkeit, weil man die Motive des anderen nicht kennen kann, ohne mit ihm in brüderlicher Liebe gesprochen zu haben;

Hochmut, weil der so Richtende sich über den Bruder stellt;

Heuchelei, weil man Liebe und Eifer für den Herrn als Deckmantel für das eigene Ansehen nimmt;

Unbarmherzigkeit, weil offenbare Schwachheiten nur zu leicht als „Böses“ ausgelegt werden.

Vor diesen Gefahren warnt uns der Herr hier in aller Eindringlichkeit. Auch der Apostel Paulus warnt die Korinther vor vorzeitigem Richten (1. Kor 4,5) und die Römer vor engherzigem Richtgeist (Röm 14,3.10.13); letztere fordert er zugleich zum Selbstgericht auf.

Mit welchem Maß messen wir?

Der Herr Jesus fügt dann hinzu: „… auf daß ihr nicht gerichtet werdet.“ Diese Worte könnten vielleicht so verstanden werden, daß derjenige, der andere unbefugt richtet, sich nicht zu wundern braucht, wenn ihm von Seiten seiner Mitmenschen und Brüder dasselbe widerfährt. Aber aus dem Folgenden geht doch hervor, daß dieses Gerichtetwerden weiter geht und daß letzten Endes Gott hier der Richtende ist.

Für jeden, der den Sohn Gottes nicht als seinen Heiland annehmen will, gibt es nur ein furchtvolles Erwarten des Gerichts und der ewigen Verdammnis. Jeder, der an Ihn glaubt, darf jedoch wissen, daß er nicht ins Gericht kommt. Aber er weiß auch, daß Gott die Seinen während ihres Erdenlebens als Vater züchtigt und ohne Ansehen der Person richtet (Heb 12,4-11; 1. Pet 1,17; 1. Kor 11,32). Auch werden einmal alle Gläubigen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden und Lohn empfangen oder Schaden erleiden (1. Kor 3,15; 2. Kor 5,10).

Diese ernsten Gedanken sollen alle Jünger des Herrn vor dem hochmütigen Richtgeist bewahren, „denn mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem Maße ihr messet, wird euch gemessen werden“ (V. 2). Diese Erklärung ist natürlich nicht so zu verstehen, daß Gott jemand, der ungerecht richtet, ebenfalls ungerecht behandeln wird, sondern daß jeder Mensch von Ihm nach Seiner vollkommenen Gerechtigkeit beurteilt werden wird. Zugleich liegt darin die Zusicherung, daß der Jünger, der in Liebe und Gnade urteilt, auch eine liebevolle Behandlung von seinem himmlischen Richter erfahren wird. Daher sollten wir umgekehrt mit dem Maß messen, mit dem wir von Gott gemessen werden, und mit dem Gericht richten, mit dem wir von Ihm gerichtet werden. Gerade darin offenbart sich praktisch die Gotteskindschaft: „Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit widerfahren … Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,7.48). „Seid aber gegeneinander gütig, mitleidig, einander vergebend, gleichwie auch Gott in Christo euch vergeben hat“ (Eph 4,32).

Splitter und Balken im Auge

„Was aber siehst du den Splitter, der in deines Bruders Auge ist, den Balken aber in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Oder wie wirst du zu deinem Bruder sagen: Erlaube, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen; und siehe, der Balken ist in deinem Auge?“ (V. 3.4).

Mit einem überdeutlichen Bild zeigt der Herr Jesus Seinen Jüngern jetzt, wie töricht derjenige ist, der meint, seinen Nächsten von oben herab richten zu können. Der Splitter im Auge des Bruders ist das Verkehrte, das man bei ihm zu erkennen meint. Aber der Balken im Auge ist das Böse im eigenen Herzen, das man dabei geflissentlich übersieht, das aber doch deutlich erkennbar ist. Ein erfahrener Bruder sagte einmal: „Von keinem anderen Menschen weiß ich so viel Böses wie von mir selbst. Das macht mich vorsichtig, andere zu richten.“

Auch hier weist das Bild des Auges wieder auf den Herzenszustand hin, wie bereits in Kap. 6,22.23. Der Herr scheint dabei besonders das geistliche Urteilsvermögen zu meinen. Wie könnte jemand, dessen Unterscheidungsvermögen durch eigene, ungerichtete Sünde auf das Schwerste behindert ist, einem anderen behilflich sein, der vielleicht durch geistliche Unachtsamkeit von einem Fehltritt übereilt worden ist? Das ist unmöglich.

Bereits dreimal hatte der Herr in der Bergpredigt den Ausdruck „Heuchler“ benutzt (Kap. 6,2.5.16). Immer hatte Er damit im Gegensatz zu Seinen Jüngern die religiösen Heuchler unter den Juden gemeint. Wenn Er dieses Wort hier noch einmal verwendet, dann zeigt das doch, daß auch die Jünger vor der Gefahr der Heuchelei nicht sicher sind. „Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus deines Bruders Auge zu ziehen“ (V. 5).

Nur wenn wir unsere eigenen Sünden im Licht Gottes erkannt und bekannt haben, sind wir in der Lage, andere richtig zu beurteilen. Nur wenn wir selbst im Bewußtsein der Gnade leben, durch die Gott uns alle Sünden vergeben hat und uns als Vater immer wieder vergibt, können wir in rechter Weise unseren irrenden Geschwistern geistlich eine wirkliche Hilfe sein. A.R.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1993, Seite 232

Bibelstellen: Mt 7, 1-5

Stichwörter: richten