Die Bergpredigt: Noch einmal das Gebet

Matthäus 7,7-12

In diesem Abschnitt der Bergpredigt spricht der Herr Jesus noch einmal scheinbar ganz unvermittelt vom Gebet, genauer gesagt, vom Bitten. Bereits in Kapitel 6,5-13 hatte Er ja Seinen Jüngern Belehrung über das Beten gegeben und dabei auch das sogenannte „Vater unser“ ausgesprochen. Aber während Er dort die Jünger vor äußerem Schein warnt, weist Er sie hier auf das ihnen geziemende Gottvertrauen sowie die Kraftquelle und die Hilfsmittel auf dem Weg des Gehorsams in seiner Nachfolge hin.

Inbrünstiges Gebet

„Bittet, und es wird euch gegeben werden; suchet, und ihr werdet finden; klopfet an, und es wird euch auf getan werden“ (Vers 7). Obwohl der Herr Jesus hier das Wort „beten“ nicht erwähnt, sondern vom Bitten, Suchen und Anklopfen spricht, wird aus den folgenden Versen deutlich, daß Er die Jünger – die hier als erste angesprochen werden – zu anhaltendem Beten ermuntert. Lukas, der in seinem Evangelium die Ereignisse und die Worte des Herrn immer in ihrem inneren Zusammenhang wiedergibt, läßt diesen Abschnitt denn auch der Antwort des Herrn auf die Bitte der Jünger folgen: „Herr, lehre uns beten“ (Lk 11,1-13).

In den drei Tätigkeitswörtern „bitten, suchen, anklopfen“ ist eine zunehmende Intensität zu erkennen:

– „Bitten“ kommt an verschiedenen Stellen des Wortes Gottes als eine besondere Form des Gebets vor (z.B. Joh 11,22; 14,13; Kol 1,9; Jak 1,5),

– „Suchen“ ist das aufrichtige, ernsthafte Bemühen, etwas zu finden (vgl. Ps 34,4; Jes 55,6) und

– „Anklopfen“ beinhaltet, daß auch äußere Hindernisse und eigene Scheu überwunden werden können.

Im Bitten kommt einfach der Wunsch und das Verlangen des Beters zum Ausdruck. Suchen und Anklopfen weisen jedoch schon darauf hin, daß unsere Gebete nicht immer sofort erhört werden. Wir alle stehen ja oft in der Gefahr, in unseren Gebeten zu erlahmen und zu ermatten.

Aber für alles gibt der Herr eine positive Zusage: „Es wird euch gegeben werden, … ihr werdet finden, …es wird euch auf getan werden.“ Welch ein Bild des „anhaltenden“ und des „inbrünstigen Gebets“ (Apg 12,5; Jak 5,16) und der göttlichen Antwort geben diese drei Sätze! Sie galten auch nicht nur für die Jünger des Herrn damals, sondern sie gelten für jeden wahren Nachfolger des Herrn.

Das zeigt Er uns im folgenden Vers: „Denn jeder Bittende empfängt, und der Suchende findet, und dem Anklopfenden wird aufgetan werden“ (Vers 8). Diese Worte scheinen eine Art Wiederholung des vorigen Verses zu sein, in Wirklichkeit erweitern sie dessen Anwendung jedoch auf alle Gläubigen, denn nur solche spricht der Herr in der Bergpredigt an.

Ein Vergleich

Verse 9-10: „Oder welcher Mensch ist unter euch, der, wenn sein Sohn ihn um ein Brot bitten würde, ihm einen Stein geben wird? Und wenn er um einen Fisch bitten würde, ihm eine Schlange geben wird?“ Der Herr Jesus benutzt nun ein Bild, das jeder leicht verstehen kann. Er erinnert an das normale Verhältnis zwischen einem Sohn und seinem Vater, das von Liebe und Vertrauen gekennzeichnet sein soll. Der Sohn ist in Not geraten und bittet seinen Vater um ein Brot oder einen Fisch, d.h. um zum täglichen Leben notwendige Dinge. Er fordert nicht, wie es der Sohn in Lukas 15,12 tat. Er bittet auch nicht „übel“, d.h. um seine fleischlichen Begierden zu befriedigen (wovor Jak 4,3 uns warnt). Nein, er bittet seinen Vater vertrauensvoll und ohne zu zweifeln um das, was er wirklich braucht. In den Fragen des Herrn liegt bereits die Antwort: sie lautet „Ja“. Der Vater wird das Vertrauen seines Sohnes nicht enttäuschen, indem er ihm statt des Brotes einen Stein gibt, und ihn auch nicht dadurch in Gefahr bringen, daß er ihm statt des Fisches eine Schlange gibt.

Vers 11: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisset, wieviel mehr wird euer Vater, der in den Himmeln ist, Gutes geben denen, die ihn bitten!“ Hier haben wir die Anwendung des Bildes auf das Verhältnis der Jünger zu Gott.

Zunächst erinnert der Herr sie jedoch noch an die seit dem Sündenfall des ersten Menschenpaares bestehende Tatsache, daß der Mensch von Natur aus böse ist. Schon zur Zeit Noahs hatte Gott gesagt, daß das Dichten des menschlichen Herzens von seiner Jugend an böse ist (1. Mo 8,21). David offenbart eine tiefe Erkenntnis dieses Urteils Gottes über den Menschen, wenn er in Psalm 51,5 sagt: „Siehe, in Ungerechtigkeit bin ich geboren, und in Sünde hat mich empfangen meine Mutter.“ Aber erst als die Menschen den einzigen Sündlosen am Kreuz von Golgatha als Verbrecher verurteilten, wurde die ganze Verdorbenheit der menschlichen Natur ganz und gar offenbar. Die Natur des „alten Menschen“, das Fleisch, ist unverbesserlich. Gott schenkt daher jetzt jedem Glaubenden das neue, ewige Leben und eine neue Natur.

Solange wir leben, tragen wir jedoch die alte, böse Natur an uns, und wir müssen uns immer wieder die oftmals für uns so niederschmetternde Erkenntis ins Gedächtnis rufen, „daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt“, und uns ermahnen lassen, „in Neuheit des Lebens“ zu wandeln (Röm 6 u. 7).

Alles das konnten die Jünger noch nicht wissen, bevor ihr Herr und Meister Sein Erlösungswerk vollbracht hatte. Er erwähnt die menschliche Bosheit hier, damit der Unterschied zwischen der Liebe auch des gütigsten menschlichen Vaters und der vollkommenen Liebe Gottes um so deutlicher hervortritt. Wenn schon unvollkommene, von Natur böse Menschen ihren Kindern ihre Bitten gern erfüllen, wieviel mehr dann Gott, der große Geber! Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von Ihm, der allen willig gibt und nichts vorwirft (Jak 1).

Diesen Gott stellt der Herr Jesus hier Seinen Jüngern vor als ihren „Vater, der in den Himmeln ist“. Mehrfach hat Er dies in der Bergpredigt getan (Kap. 5,16.48 usw.), wenn auch der ganze Reichtum dieser Beziehung erst nach Seinem Erlösungswerk offenbart werden konnte (Joh 20,17; Röm 8,14-17). Die Jünger durften jedoch schon damals beginnen, sich praktisch über diese Tatsache zu freuen.

Eine „goldene Regel“

„Alles nun, was immer ihr wollt, daß euch die Menschen tun sollen, also tut auch ihr ihnen; denn dies ist das Gesetz und die Propheten“ (Vers 12). Dieser Vers, der die „goldene Regel“ der Nächstenliebe genannt worden ist, bildet nicht nur den Abschluß des ersten Teils von Kapitel 7, sondern schließt einen größeren Kreis, der bereits in Kap. 5,17 mit den Worten des Herrn begann: „Wähnet nicht, daß ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“

Das Gesetz und die Propheten stehen hier (wie auch an anderen Stellen, vgl. Lk 16,16; Apg 13,15) für das gesamte Alte Testament und seine Lehren. Im Gegensatz zu dem, was die meisten der Schriftgelehrten und Pharisäer daraus machten, war der Herr Jesus gekommen, es in seiner ganzen Fülle darzustellen. In dem folgenden Teil der Bergpredigt hatte Er immer wieder darauf hingewiesen, daß die äußerliche, scheinbare Gerechtigkeit der Gesetzgelehrten verwerflich sei. Wenn auch nicht ausschließlich, so betraf doch ein großer Teil Seiner Lehren das Verhältnis Seiner Jünger zu ihren Mitmenschen. Diese Belehrungen faßt Er nun in den Worten zusammen: „Alles nun, was immer ihr wollt, daß euch die Menschen tun sollen, also tut auch ihr ihnen.“

Welch ein Gegensatz zu dem bekannten Sprichwort: „Was du nicht willst, daß man dir tu‘, das füg‘ auch keinem ändern zu“, das in ähnlicher Form bereits die jüdischen Rabbiner und auch die Griechen kannten! Es enthält ja nicht mehr als die negative Warnung, dem Nächsten nichts Böses zuzufügen. Aber der Herr Jesus faßt Seine Lehre in der positiven Aufforderung zusammen, alles das für den Nächsten zu tun, was man selbst gern erfahren möchte. Das vermögen wir nur in der Kraft der Liebe Gottes. Paulus schreibt später den Römern: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe die Summe des Gesetzes“ (Röm 13,10), ein Ansporn auch für uns, diese göttliche Liebe zu üben, damit wir wirklich Jünger unseres Herrn sind. A. R.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1993, Seite 290

Bibelstellen: Mt 7, 7-12

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