Gottgemäße Tränen

„Alles hat eine bestimmte Zeit, und jedes Vornehmen unter dem Himmel hat seine Zeit… Weinen hat seine Zeit… Klagen hat seine Zeit“ (Pred 3,1-4).

Tränen gehören zu den allgemeinen Erfahrungen der menschlichen Familie, und so wird es auch bleiben bis zu jener gesegneten Zeit, wenn Gott selbst die Tränen abwischen wird von jedem Angesicht. Tränen fließen in dieser bösen Welt aus den verschiedensten Ursachen. Wenn sie aber aus selbstlosen Beweggründen hervorkommen beim Leid anderer, sind sie besonders wertvoll und kostbar. Es ist eine Frucht des Geistes und der Gnade Christi, wenn wir mit den Weinenden weinen.

Das Mit-Weinen

Als der Herr Jesus am Grab des Lazarus Tränen vergoß, gab er äußerlich Zeugnis davon, daß innerlich in Seinem liebenden Herzen eine Quelle von Liebe und Mitgefühl war. Als Er Maria weinen sah in ihrem schmerzlichen Verlust und die Juden weinen, die mit ihr gekommen waren, vergoß Er selbst Tränen (Joh 11,35). Diese Tränen stärkten das Herz der trauernden Schwestern; wer aber kann ihren Wert in den Augen des Vaters ermessen? Wir wissen ja, was anschließend geschah, als der Stein von der Gruft weggenommen war. Denn da sprach der Herr: „Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast.“ Seine Tränen waren ein beredtes Zeugnis von der Gemeinschaft des Sohnes mit dem Vater, der Ihn allezeit erhörte.

Das Weinen über Sünder

Es gibt noch eine andere Ursache für selbstlose Tränen. Außer dem Kummer über das Leid bei anderen gibt es auch die Tränen über die Sünde bei anderen. Beide Arten kommen aus selbstloser Liebe und einem gnädigen Herzen hervor, und in beiden zeigte unser Herr, wie vollkommen schön und angemessen Seine Gefühle waren. Er weinte mit den Weinenden in Bethanien und auch über die Sünder in Zion.

Der Herr hat Seine Zuneigung zu Seinem geliebten Volk so geduldig und unablässig erwiesen. Als man sie endgültig zurückstieß, gab es bei Ihm keinen Zornesausbruch, sondern mitleidsvolle Tränen. Gegen Ende Seines gnädigen Dienstes, bei Seinem letzten Besuch in Jerusalem, als Er die Stadt Seines Vaters David vom Abhang des Olbergs aus sah, wurde Er zu Tränen bewegt wegen der hartnäckigen Verstockung der Tochter Zion. „Und als er sich näherte und die Stadt sah, weinte Er über sie und sprach: Wenn auch du erkannt hättest, und selbst an diesem deinem Tage, was zu deinem Frieden dient! Jetzt aber ist es vor deinen Augen verborgen“ (Luk 19,41.42). Der Herr sah, daß das Maß der Ungerechtigkeit Zions übervoll war und daß die Zerstörung der Stadt durch die Römer herannahte – und Er weinte.

Matthäus zeigt in Kapitel 23, wie die erschreckende moralische Schuld der Nation vor Seinen Augen stand. Die am meisten für das Gesetz eiferten, nämlich die Schriftgelehrten und Pharisäer, waren in ihrer Blindheit und Heuchelei die schlimmsten Übeltäter von allen.

Tatsächlich war die ganze Geschichte jenes Geschlechtes ein langer Bericht von gewalttätiger Verfolgung der Zeugen Gottes. Von den Tagen des gerechten Abel an hat das Blut der Märtyrer ihre Straßen und sogar die Höfe des Tempels befleckt. Bald würden sie noch weiter gehen und den „Heiligen und Gerechten“ ermorden. Und so „sah er die Stadt“ und „weinte über sie“.

Das Weinen über die Greuel im Tempel

In allen Zeiten nationaler Abtrünnigkeit zeigten einzelne Gottesfürchtige ihre gottgemäße Trauer über das unbereute Böse. Wir sehen diesen Geist der Trauer auch, wie er hervorkam durch die Anwesenheit von abscheulich Bösem in Jerusalem vor der Zerstörung durch Nebukadnezar. Einige der Greuel, die man im Bereich des Tempels Jehovas insgeheim verübte, wurden Hesekiel in Gesichten gezeigt. Jede Art von götzendienerischer Verehrung mit allen schändlichen Begleiterscheinungen sah man im Heiligtum selbst (Hes 8). Aus diesem Grund hatte Jehova beschlossen, Seine Gerichte auf Land und Volk und Stadt auszugießen.

Aber inmitten der Stadt Jerusalem waren einige gottesfürchtige Seelen, die über dieses Böse trauerten und über die Unehre, die dadurch im Haus Jehovas über den Namen Jehovas kam. Der Herr sah ihre gramerfüllten Herzen, und es wurde ein Zeichen auf die Stirn gemacht bei den „Leuten, welche seufzen und jammern über all die Greuel, die in ihrer Mitte geschehen“ (Hes 9,4). Diese bildeten die „kleine Herde“, und sie weinten über die schlimme Entweihung im Wohnort göttlicher Heiligkeit. Darin sah man schon damals die Gesinnung Christi, der Seine heiligen Tränen vergoß über das verwüstete und entweihte Jerusalem.

Die Tränen im christlichen Dienst

Paulus hatte lange in Ephesus gearbeitet. Als er mit den Ältesten dieser Versammlung in Milet zusammen war, nahm er Abschied von ihnen und sah voraus, daß er ihr Angesicht nicht mehr wiedersehen würde. In seiner ergreifenden Ansprache öffnete der Apostel vor seinen Zuhörern eine verborgene Seite seines Dienstes, die sie von ihm nicht erfahren hätten, wenn nicht sein Abschied dazu ein Anlaß geworden wäre.

„Gedenket“, sagte der treue und gottesfürchtige Mann, „daß ich drei Jahre lang Nacht und Tag nicht aufgehört habe, einen jeden von euch mit Tränen zu ermahnen“ (Apg 20,31). Er wußte um die kommenden Gefahren, denn von außen würden „gefährliche Wölfe“ eindringen, und aus ihrer eigenen Mitte würden Lehrer aufstehen und zum Schaden wirken, weil sie verkehrte Dinge reden würden.

Doch das sehnliche Verlangen nach dem Wohlergehen anderer war selbst in jenen frühen Tagen schon selten. Als er einen treuen und eifrigen Diener Christi nach Philippi senden wollte, konnte Paulus nur an Timotheus denken. „Ich habe niemanden gleichgesinnt“, sagt er, „der von Herzen für das Eure besorgt sein wird; denn alle suchen das Ihrige, nicht das, was Jesu Christi ist“ (Phil 2,20.21).

Timotheus hatte offensichtlich die Gewohnheit angenommen, „die Schwachheit der Schwachen zu tragen und nicht sich selbst zu gefallen“. Er besaß das selbstlose Herz, das die Lasten der Sünden und Sorgen der Brüder trägt, um so das Gesetz des Christus zu erfüllen. Diese Art Gefühle sind kein Zeichen von Schwäche. Wirklich, Tränen sind oft das Zeichen sittlicher Stärke. Dazu muß man zu Christus hin herangewachsen sein.

Deshalb finden wir auch, daß Paulus sich am Anfang seines zweiten Briefes an Timotheus an das zarte Gemüt seines teuren Kindes im Glauben erinnert. „Indem ich eingedenk bin deiner Tränen“, sagt er (Kap. 1,4). Der Apostel gibt für diese Tränen keinen besonderen Grund an. Zweifellos gab es manche Ursachen: seine Ketten in Röm und sein bevorstehender Tod ohne Zweifel – aber vor allem die weit vorangeschrittene Unordnung in der Versammlung des lebendigen Gottes. Er hatte sie in seinem ersten Brief an ihn beschrieben, und das würde den Geist des Timotheus bekümmern und belasten.

Wie sehr mußte Timotheus darüber bekümmert sein, Unkraut unter dem Weizen zu finden, Sauerteig unter gutem Teig, verführerische Geister und Lehren von Dämonen im Hause Gottes! Wenn der Psalmist schon sagte: „Wasserbäche fließen herab aus meinen Augen, weil sie dein Gesetz nicht halten!“ (Ps 119,136), würde Timotheus dann weniger bewegt sein vom zunehmenden Abweichen und von der Preisgabe der Wahrheit in der Versammlung Christi? Aber der Apostel mußte – gerade vor diesen tränenerfüllten Augen – in seinem zweiten Brief ein noch weit dunkleres Bild zeichnen, nämlich die Abtrünnigkeit der Kirche in den gefahrvollen Zeiten der letzten Tage.

Ist jetzt eine Zeit zum Weinen?

In der jetzigen Zeit – bald zweitausend Jahre dem Ende nähergekommen – sehen wir das Verderben und den Verfall des Christentums deutlicher als je zuvor. Selbst solche, die keinen Anspruch auf geistliches Verständnis erheben, sind über das fortschreitende sittliche Verderben bestürzt.

Wir aber sollten mehr sehen als das, was ein rein menschlicher Beobachter wahrnimmt. Wenn man die Lehre verwirft und wenn die Herzen abweichen, sollten wir erkennen, wie der Name des Herrn verunehrt wird und wie ernst das Urteil über solche ist, die Seinen Namen bekennen. Wenn wir sehen, wie diese Welt über die Versammlung triumphiert, die doch von Christus geliebt wird, und es steigen Tränen in uns auf – dann wollen wir sie nur fließen lassen! Wie Jeremia wollen wir unsere Augen „im Verborgenen weinen“ lassen, „und tränen wird mein Auge und von Tränen rinnen, weil die Herde Jehovas gefangen weggeführt ist“ (Jer 13,17). Solche Tränen legt Gott „in seinen Schlauch,“ und „er schreibt sie in sein Buch“ (Ps 56,8).

Wir reden jetzt nicht von dem Kummer darüber, wenn jemand persönlich irgendein Vorrecht einbüßt, sondern von dem selbstlosen Schmerz über die Schmach, die auf den Namen des Herrn fällt wegen der Sündenwege solcher, die Seinen Namen bekennen. Erinnern wir uns daran, daß die Seufzer und die Klagen und die Tränen echt sein müssen. Der Herr brachte einmal das Trauergeschrei der Juden zum Schweigen, denn es war nur eine leblose Form, aber Er ehrte den Schmerz bei dem Vater und der Mutter des verstorbenen Töchterleins. Von solchen hat Er gesagt: „Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.“

(Aus dem Englischen)

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1996, Seite 165

Bibelstellen: Pred 3, 1-4; Lk 19, 41.42; Hes 9, 4; Apg 20, 31; Jer 13, 17

Stichwörter: Träne, Tränen, Trauer, Weinen