Bis zur Tageshöhe

„Der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe“ (Spr 4,18).

Unser Leben gleicht dem Voranschreiten auf einem bestimmten Weg. Diese bildliche Ausdrucksweise ist uns aus dem Wort Gottes vertraut. So haben nicht nur die Gerechten, sondern auch die Gesetzlosen ihren Pfad, wie die Verse 14 bis 17 unseres Kapitels zeigen. Das ist die Lebensart der Gesetzlosen, die wir um jeden Preis zu meiden haben. Vers 19 sagt, daß er der Dunkelheit der Nacht gleichkommt, wo jeder früher oder später straucheln wird.

Die „Gerechten“ aber – das sind Menschen, die in der richtigen Beziehung zu Gott stehen – haben eine andere Lebensart und verfolgen ganz andere Ziele. Auch sie haben ihren „Pfad“. Er gleicht dem Morgenlicht, das mit zartem Schimmer zu leuchten beginnt und an Helligkeit und Kraft zunimmt. Die Sonne geht auf und sendet ihre Strahlen mit immer kraftvollerem Schein, je mehr sie sich gegen Mittag ihrem Höhepunkt nähert.

Und hier bricht der Vergleich ab. In der Natur sehen wir ja die Sonne nur für kurze Zeit auf dem Höhepunkt, dann eilt sie weiter, und ihre Strahlungskraft nimmt wieder ab, bis es Abend und Nacht wird. Doch in der geistlichen Anwendung ist das nicht so, denn der Pfad des Gerechten kommt erst dann auf der „Tageshöhe“ an, wenn die Herrlichkeit erreicht ist; und wenn die erreicht ist, wird unsere „Sonne“ nie mehr untergehen. Sie wird für immer im Lichtglanz ihres Zenits stehenbleiben. Ebenso ist der Pfad der Gerechten.

Diese Aussage ist doch erstaunlich! Haben wir sie alle erfaßt? Dann wird sicher mancher sagen: „Nun, der Pfad der Gerechten mag ja grundsätzlich so sein, aber meistens sieht er nicht so aus!“ In der Regel stimmt das auch. Man. möchte sogar sagen, daß er in dieser Welt nie so aussieht.

Doch laßt uns zu allererst an den Einen denken, der vor allen anderen „der Gerechte“ war (Apg 7,52). Kein anderer Gerechter kann im gleichen Atemzug mit Ihm genannt werden. Er steht weit über jedem Vergleich – einzigartig und allein in Seiner Vollkommenheit. Wie sah Sein Pfad aus? Prophetisch wird er in Jesaja 49,4 vorausgesagt. Dort hören wir Seine Stimme: „Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt.“ Wenn wir uns den Evangelien zuwenden, dann sehen wir, wie völlig sich diese Worte in Seinem Leben erfüllt haben.

Als Er zum ersten Mal im öffentlichen Dienst auftrat, da schien Seine Sonne am Himmel aufzugehen. Als Er in Nazareth in der Synagoge sprach, staunten die Menschen über die Worte der Gnade, die Er sprach. Doch sehr bald erregte Seine Treue zur Wahrheit ihre Wut, und sie wollten Ihn töten. Später gab es wiederholt auch Augenblicke, die einen besseren Ausgang verhießen – Zeiten, in denen das Volk Ihn zum König machen wollte oder Ihm mit Hosianna-Rufen entgegenging, als Er auf einem Eselsfüllen in Jerusalem einzog, während Seine Feinde in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen knirschten und zugeben mußten: „Die Welt ist ihm nachgegangen“ (Joh 12,19). Doch solche Augenblicke waren Ausnahmen; im allgemeinen ging Sein Pfad in die entgegengesetzte Richtung. Zunehmend stieß Er auf Feinde und scheinbare Fehlschläge bis zu der letzten unheilvollen Woche in Jerusalem, die mit Seinem Tod endete.

Ein weltlicher Geschichtsschreiber, der damals in Jerusalem gewesen wäre, hätte in seinen Aufzeichnungen festgehalten, daß dieser Jesus von Nazareth, der in den Herzen einiger Phantasten – Fischer aus Galiläa und ähnliche Gestalten – so große Hoffnungen geweckt hatte, ein schnelles und aufsehenerregendes Ende fand. Seine Sonne sei hinter dunklen Gewitterwolken verschwunden. Sein Pfad hätte keineswegs dem glänzenden Morgenlicht geglichen, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe. Eher hätte er dem trüben Licht eines stürmischen Winternachmittags entsprochen, das immer schwächer wird, bis es in pechschwarzer Nacht versinkt. – So hätte das Urteil der Welt gelautet.

Was ist nun richtig – das Urteil der Welt oder das Urteil des inspirierten Predigers von Israel? Singen nicht auch wir oft:

Was trieb Dich, lichte Himmelssonne,

zu wählen Elend, Schande, Schmerz und Schmach,

zu werden das erseh’ne Gotteslamm,

zu tragen Gottes Zorn am Kreuzesstamm?

Doch war Sein Weg dort wirklich zu Ende? Ja, solange wir mit unseren Gedanken bei Seinem irdischen Pfad stehenbleiben, wie es der Dichter mit Recht und in bewegender Weise tut. Wenn wir jedoch unsere Augen über Seinen irdischen Weg hinaus erheben, dann können wir triumphierend sagen, daß Sein Weg nicht nur zum Kreuz führte, sondern auch zur Herrlichkeit, wie Psalm 16 es so deutlich vorstellt.

Gottes Auge sieht auf jedem Pfad etwas, was dem bloßen Geschichtsschreiber verborgen bleibt. Und als der Vater auf Seinen geliebten Sohn herabblickte, was sah Er da? Er blickte auf Ihn als Kleinkind, als Knaben, als Jüngling und als Mann und sah, daß alles zu seiner Zeit schön und lieblich an Ihm war. Als Er an Weisheit und an Größe zunahm (Lk 2,52), nahm die Ausstrahlung der Herrlichkeit, die von Ihm ausging, an Kraft zu. Als Er dann zu Seinem Dienst an die Öffentlichkeit trat, erstrahlte das „große Licht“ für „das Volk, das in Finsternis sitzt“ (Mt 4,16). Die Sonne des Himmels war über ihnen aufgegangen. Und trotz allem, was gegen Ihn getan wurde, gab das Licht weiter seinen hellen Schein – gegen den dunklen Hintergrund der Sünde des Menschen. Je mehr Er geprüft wurde, desto heller erstrahlte das Licht zur Verherrlichung Gottes. Und wenn es schließlich so aussah, als hätte der Mensch Ihn und Sein Licht am Ende im Tod ausgelöscht, so erreichte in Wirklichkeit Sein Glanz zu diesem Zeitpunkt den Zenit. Denn vorausschauend auf Seinen Tod hatte Er ja gesagt: „Jetzt ist der Sohn des Menschen verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm. Wenn Gott verherrlicht ist in ihm, wird auch Gott ihn verherrlichen in sich selbst, und sogleich wird er ihn verherrlichen“ (Joh 13,31.32).

Aus menschlicher Sicht war Sein Tod das Ende von allem. Aus der Sicht Gottes war er der Anfang von allem. Für den Menschen schien es der tiefste Grad Seiner Erniedrigung zu sein, für Gott war es der höchste Ausdruck Seiner Herrlichkeit. Der Mensch meinte, das Verlöschen Seiner Sonne in der Nacht des Todes zu sehen; aus Gottes Sicht erhielt Seine Sonne für immer den festen Platz im Zenit des Glanzes: Nachdem Seine sittliche Herrlichkeit in unendlichem Ausmaß am Kreuz in Erscheinung getreten war, folgte unmittelbar Seine Erhöhung in die Herrlichkeit des Vaters, die einst auch in dieser Welt und vor dem All in Erscheinung treten wird.

Der Pfad „des Gerechten“ hat allem äußeren Anschein zum Trotz in der Gegenwart des Vaters die „Tageshöhe“ erreicht. Sein Weg ist zu seinem Ende gekommen in einem Sinn, wie es von keinem anderen gesagt werden kann. Kein anderer ist ihn bis zu Ende gegangen, so wie Er es getan hat. Doch bei allen, die das Vorrecht hatten, Diener Gottes zu sein, finden wir ähnliches: Scheinbare Niederlagen und Fehlschläge sind ihren Schritten gefolgt, und das nicht immer nur aufgrund ihrer persönlichen Fehler, sondern manchmal gerade wegen ihrer persönlichen Treue. Das gilt sowohl für Gläubige des Alten als auch des Neuen Testaments.

Denken wir jetzt an Mose. Was war das für ein wunderbarer Anfang, als er mit gottgegebenem Glauben und Mut dem mächtigen Pharao und seinen Zauberern widerstand! Sehen wir, wie er am Ufer des Roten Meeres steht, mit ausgestrecktem Arm und dem Stab Gottes in der Hand! Lauschen wir dem Siegesgesang der vielen Tausende! War das nicht gewaltig? Hätten wir nicht alle gesagt, daß seine Sonne hier die Tageshöhe erreicht hatte? Doch dann folgen wir den Spuren der vierzigjährigen Wüstenwanderung. Seine Sanftmut und seine Geduld waren wirklich einzigartig, und doch stellte das Volk unter seiner Führung zunehmend eine Prüfung und Enttäuschung dar, bis der große Gesetzgeber gegen Ende der langen Prüfungszeit versagte und unbedacht mit seinen Lippen redete. Wir wollen uns darüber nicht wundern. Wir hätten schon versagt, bevor vierzig Tage verstrichen gewesen wären, während Mose es beinahe vierzig Jahre lang ertrug. Schließlich jedoch bricht es aus ihm heraus: „Hört doch, ihr Widerspenstigen! Werden wir euch Wasser aus diesem Felsen hervorbringen?“ Und in seinem Zorn schlägt er den Felsen zweimal.

Armer Mose! Seine Lippen, die Gott dazu benutzt hatte, Sein Mund zu sein, brachten zornige Worte hervor, die entschieden nicht Gottes Worte waren, sondern Ihn falsch darstellten. Deshalb war seine Sünde groß, und entsprechend groß war die Strafe. Er durfte das Land Kanaan nicht betreten. Der triumphale Einzug in das Land, nach dem er als der passenden Fortsetzung des triumphalen Auszugs aus Ägypten ausgeschaut hatte, würde für ihn nicht Wirklichkeit werden. Was würden ungläubige Geschichtsschreiber dazu sagen? Ohne Frage würden sie Moses Sonne zur Zeit des Auszugs auf der Tageshöhe stehen sehen und sagen, daß sie während der Wüstenreise ihrem Untergang zugeeilt und schließlich an der Grenze des verheißenen Landes in den Wolken versunken sei.

Doch war das wirklich so? Schauen wir hin zum Berg der Verklärung. Dort sehen wir ihn in den Berichten der Evangelien „in Herrlichkeit erscheinen“ und in Gemeinschaft mit dem Sohn Gottes. War seine Sonne untergegangen? Nein, sie leuchtete stets heller – bis zur Tageshöhe.

Denken wir an Elia, eine andere hervorragende Persönlichkeit aus dem Alten Testament. Erkennen wir bei ihm nicht die gleiche Entwicklung? Wenn wir sehen, wie er allein und ohne jede menschliche Unterstützung auf dem Berg Karmel achthundertfünfzig Propheten gegenübertritt, die Ahab, Isebel und das Volk hinter sich wußten, dann erscheint er als der tapferste der alttestamentlichen Helden. Was für ein überwältigender Triumph, als Feuer vom Himmel fiel! Das war wirklich die „Tageshöhe“ für ihn. Gewiß, aber wenige Tage später sehen wir ihn unter dem Ginsterstrauch, voller Furcht vor Isebel. Da war seine Sonne untergegangen, obwohl es noch Tag war. Und danach der Horeb und die Salbung eines anderen Propheten an seiner Statt. Es schien, als ob sein Licht ausgelöscht sei. Aber war es das?

Auf dem Berg der Verklärung steht auch er bei Jesus. Auch Elia „erschien in Herrlichkeit“. Nach allem, was geschehen ist, ist es nicht Nacht für ihn; nein, es ist die Tageshöhe.

Es gibt nur einen unter den Jüngern des Herrn im Neuen Testament, über dessen Leben ausführlich berichtet wird, und das ist der Apostel Paulus. Wie sah sein Pfad aus?

Sein Pfad als Christ begann, als das Licht des Sohnes Gottes, das den Glanz der Sonne übertraf, auf ihn fiel. Er wurde das auserwählte Gefäß, das den Namen des Heilands zu den Nationen tragen sollte. Wir alle kennen etwas von seinem hingebungsvollen Dienst. Wir wissen darum, wie er von Jerusalem an und ringsumher bis nach Illyrien das Evangelium mit großer Kraft und gottgegebenem Erfolg verkündigt hatte, und zwar in solchem Ausmaß, daß Er selbst und seine Mitarbeiter unter ihren Gegnern als die bekannt wurden, „die den Erdkreis aufgewiegelt haben“. Wir denken an die Versammlungen, für die er „als ein weiser Baumeister“ den Grund gelegt hatte, und wie es eine Zeitlang so aussah, als ob nichts sein Vordringen aufhalten könnte.

Doch plötzlich schien ihm Einhalt geboten worden zu sein. Fesseln und Gefängnis erwarteten ihn nicht nur, sondern hielten ihn fest. Und dann setzte in den Versammlungen der Verfall ein, und seine eigenen Kinder im Glauben wandten sich von ihm ab und verließen ihn gerade in der Stunde, wo sie ihm ein Trost hätten sein können. Schließlich stand er gealtert, abgekämpft und verlassen, wie ein alter Bettler als „Kehricht der Welt“ angesehen, vor dem Kaiser, und sein Lauf endete vor den Toren der Hauptstadt unter dem Beil des Henkers. Der Weg dieses vorbildlichen Christen machte keine Ausnahme von der Regel. Auch er glich einer untergehenden Sonne, die nach und nach in dunkelster Nacht versank..

So schien es. Doch in Wirklichkeit war es ganz anders. Für Paulus selbst bedeutete sein bevorstehender Märtyrertod nur das abschließende „Trankopfer“, sein Abscheiden, und sein Glaubensblick war auf die „Krone der Gerechtigkeit“ gerichtet, die für ihn bereitlag, wenn der aufwärtsgehende Pfad, den er schritt, in der Tageshöhe der Erscheinung des Herrn enden würde.

Und jetzt kommt eine Frage: Warum sollten wir Christen des 20. Jahrhunderts erwarten, daß sich unser Pfad anders gestaltet? Haben wir etwa ein verbrieftes Recht, auf bequemen Daunenbetten inmitten von Sonnenschein und Blumen zum Himmel getragen zu werden, während alle anderen auf der stürmischen See der Prüfungen und Verfolgungen segeln mußten? Dürfen wir empört sein und daran Anstoß nehmen, wenn Schwierigkeiten unsere Tritte einzuengen scheinen? Keineswegs! Wir sollten das geradezu erwarten. Noch heute gilt wie vor neunzehn Jahrhunderten, „daß wir durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen“ (Apg 14,22). Die Trübsal mag nicht in Gestalt einer äußeren Verfolgung durch die Welt kommen. Aber wenn sie nicht von außen kommt, dann erfahren wir sie von innerhalb – aus dem Bereich des christlichen Bekenntnisses.

Es gibt heute viele Schwierigkeiten. Sie treten reichlich an uns heran: Schwierigkeiten in den Versammlungen, im Beruf, in der Familie – alles Schwierigkeiten, die wir nicht so empfinden würden, wenn wir nicht Christen wären, die den Wunsch haben, auf einem Gott wohlgefälligen Weg voranzugehen. Was haben diese Schwierigkeiten zu bedeuten?

Zeigen sie an, daß unsere matte, kleine Sonne schnell untergeht und unser Tag beinahe vorüber ist? Nein, das tun sie nicht. Schreite nur im Glauben hindurch mit dem Mut, der dem Glauben an Gott entspringt, dann wird das Ergebnis in uns Ausharren, Bewährung und Hoffnung sein. Dann wird auch Raum in unseren Herzen sein für das Leuchten der Liebe Gottes, die in unsere Herzen ausgegossen ist wie das Sonnenlicht durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist.

Statt daß dieses Licht immer mehr an Leuchtkraft verliert und mit Abnahme des Tages immer schwächer wird, leuchtet es mit Zunahme des Tages immer heller – bis zur Tageshöhe.

Die Tageshöhe wird völlig und endgültig erreicht sein, wenn Christus nach dem Ratschluß Gottes Seine Herrschaft in Herrlichkeit antritt. Auf diesen Augenblick warten wir alle, ob Mose, Elia, Paulus oder wir selbst. Wenn Christus in Herrlichkeit hervortritt, werden wir mit Ihm verherrlicht sein. Wenn Er gekrönt erscheint, dann ist die „Tageshöhe“ erreicht, für Ihn wie für uns. E B. H.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1997, Seite 354

Bibelstellen: Spr 4, 18

Stichwörter: Elia, Kreuz, Licht, Morgenlicht, Mose, Paulus, Prüfung, Tageshöhe