Die Endzeitrede des Herrn: Die große Drangsal

Matthäus 24,15-28

Die in den einleitenden Worten des Herrn in Matthäus 24,1-14 angekündigte Zerstörung des Tempels in Jerusalem, die Erwähnung der „Vollendung des Zeitalters“ und die Predigt des Evangeliums des Reiches – das alles deutet darauf hin, daß der Herr Jesus in diesem Abschnitt über Themen spricht, die sich auf das Volk der Juden und Seine Erscheinung in Herrlichkeit beziehen. Das soll natürlich nicht heißen, daß diese für uns nicht interessant und wichtig sind. Gott hat uns in Seinem Wort nicht nur unsere herrliche Zukunft im himmlischen Vaterhaus mitgeteilt, sondern auch die kommenden Ereignisse, die der Herrschaft des Sohnes des Menschen über alle Werke Seiner Hände vorausgehen oder damit in Verbindung stehen.

Wichtig für das Verständnis des ersten Teils dieser Rede ist die Tatsache, daß der Herr Jesus hier die Geschichte Israels bis zu Seiner sichtbaren Rückkehr schildert, wobei Er jedoch die Zeit, in der die Juden aus dem Land vertrieben sein würden, übergeht.

Der Greuel der Verwüstung

Der Herr lenkt die Aufmerksamkeit Seiner Jünger zunächst auf den furchtbaren Höhepunkt der Endzeit. „Wenn ihr nun den Greuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen seht an heiligem Ort – wer es liest, der beachte es -, dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen“ (Mt 24,15). Im Buch des Propheten Daniel wird an drei verschiedenen Stellen ein Greuel erwähnt, nämlich in Kapitel 9,27: „Und wegen der Beschirmung der Greuel wird ein Verwüster kommen …“, in Kapitel 11,31: „…und sie werden das beständige Opfer abschaffen und den verwüstenden Greuel aufstellen“, und schließlich in Kapitel 12,11: „Und von der Zeit an, da das beständige Opfer abgeschafft wird, und zwar um den verwüstenden Greuel aufzustellen, sind tausend zweihundertneunzig Tage.“ Ein Greuel oder Scheusal ist etwas, was Gott verabscheut, weil es Seinem Wesen und Willen widerspricht, insbesondere Götzendienst (vgl. 5. Mo 29,17 „Scheusal“,2. Chr 15,8 „Greuel“). Und um Götzendienst in seiner schlimmsten Form handelt es sich an allen drei Stellen.

Daniel 9,27 handelt von der letzten von insgesamt siebzig „Jahrwochen“, d.h. einer Periode von sieben Jahren, die der öffentlichen Erscheinung des Herrn Jesus unmittelbar vorausgeht. In dieser Zeit wird der Tempel in Jerusalem wieder aufgebaut sein, und der „kommende Fürst“, der Herrscher des Römischen Reiches, wird einen Bund mit dem Volk der Juden schließen. Aber nach Ablauf der ersten Hälfte der „Jahrwoche“, also nach dreieinhalb Jahren, wird unter seiner Schirmherrschaft der jüdische Opferdienst abgeschafft und im Verein mit dem Antichristen ein furchtbarer Götzendienst eingeführt. Das ist wohl mit den Worten „Beschirmung der Greuel“ gemeint. Doch Gott wird einen „Verwüster“ senden, der diesen Greueln ein Ende macht. Der hier verwendete Ausdruck „Beschirmung der Greuel“ entspricht jedoch nicht den Worten „Greuel der Verwüstung“, die der Herr Jesus in Matthäus 24,15 gebraucht.

Daniel 11 berichtet dagegen in der Hauptsache von den verschiedenen Königen, die nach dem Tod des griechischen Königs Alexander der Große über das Gebiet herrschten, zu dem das Land Israel gehört. Einer von ihnen, Antiochus Epiphanes, schaffte im Jahr 168 v. Chr. den jüdischen Tempeldienst ab, weihte den Brandopferaltar dem griechischen Gott Zeus und ließ ein Standbild dieses Gottes aufstellen. All das wird in Daniel 11,31 mit den Worten zusammengefaßt: „Und Streitkräfte von ihm werden dastehen; und sie werden das Heiligtum, die Feste, entweihen, und werden das beständige Opfer abschaffen und den verwüstenden Greuel aufstellen.“ Wir haben also eine inzwischen erfüllte Prophetie vor uns. Da dies zur Zeit des Herrn Jesus bereits Vergangenheit war, können sich Seine Worte nicht darauf beziehen.

In Daniel 12,11, der dritten Stelle, wird ebenfalls von einem „verwüstenden Greuel“ gesprochen. Dieser entspricht dem „Greuel der Verwüstung“ von Matthäus 24,15. Wir befinden uns in den letzten dreieinhalb Jahren der siebzigsten „Jahrwoche“, wie der Ausdruck „eine Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit“ in Daniel 12,7 zeigt, der bereits in Kapitel 7,25 den Höhepunkt der Herrschaft des vierten, d.h. des Römischen Weltreiches charakterisiert. Diese dreieinhalb Jahre kehren im Buch der Offenbarung als 1260 Tage (Off 11,3; 12,6), als 42 Monate (Off 11,2; 13,5) und als eine Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit (Off 12,14) wieder, und zwar in Verbindung mit der Drangsal des jüdischen Volkes und der Herrschaft des Römischen Reiches. In diesen dreieinhalb Jahren wird der Herrscher des Römischen Reiches seinen Bund mit den ungläubigen Juden unter der Führung des Antichristen dazu mißbrauchen, das beständige Opfer im Tempel abzuschaffen (Dan 9,27; 12,11). Am Ende dieser Zeit wird der Herr Jesus erscheinen und sowohl das Haupt des Römischen Reiches als auch den Antichristen, den falschen Propheten, besiegen. Die in Daniel 12,11 genannten 1290 (1260 + 30) Tage beinhalten wohl die Zeit des Kampfes und Sieges über diese Mächte der Bosheit.

Der „Greuel der Verwüstung … an heiligem Ort“, von dem der Herr Jesus spricht, wird daher der Antichrist sein, der sich selbst als Gott verherrlichen lassen wird, und möglicherweise auch das sprechende Bild des römischen Herrschers, das dann von allen angebetet werden muß (2. Thes 2,4; Off 13,14.15). Mit dem heiligen Ort ist der in der Zeit des Antichristen wieder aufgebaute Tempel in Jerusalem gemeint, der auch von den Juden nach Apostelgeschichte 21,28 als heilige Stätte bezeichnet wird. Wie der Herr Jesus den damaligen Tempel trotz des traurigen Zustandes Seines Volkes „das Haus meines Vaters“ nannte (Joh 2,16), so bezeichnet Er den Tempel zur Zeit des Antichristen als einen „heiligen Ort“. Es ist ja der Platz, den Gott selbst einmal für sich auserwählt hatte (vgl. 1. Chr 21,18; 22,1).

Kann man sich einen schrecklicheren Greuel und eine größere Verwüstung des Glaubens an den allein wahren Gott vorstellen, als daß ein falscher Prophet sich als Christus ausgibt und sich im Tempel in Jerusalem darstellt, als ob er Gott sei? Und doch wird die Masse des jüdischen Volkes dieser Verführung erliegen, wie der Herr Jesus vorausgesagt hat: „Ich bin in dem Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den werdet ihr aufnehmen“ (Joh 5,43).

Der Herr Jesus fügt Seinen Worten die Bemerkung hinzu: „Wer es liest, beachte (oder: verstehe) es.“ Er sah also voraus, daß es viele geben würde, die Seine Worte nicht richtig verstehen. Viel Verwirrung ist durch die Nichtbeachtung des Grundsatzes entstanden, „daß keine Weissagung der Schrift von eigener Auslegung ist“ (2. Pet 1,20)! Deshalb wollen wir uns die zum Verständnis unserer Stelle wichtigen Tatsachen in der Schrift noch einmal vergegenwärtigen.

Es gibt während der christlichen Periode auf der ganzen Erde keinen von Gott anerkannten „heiligen Ort“. Der Tempel in Jerusalem, der so bezeichnet wird, existiert bereits seit l 900 Jahren nicht mehr, wird aber in der Zeit des Antichristen wieder aufgebaut sein. Der Bezug zum Judentum ist also offensichtlich. Damit kommen wir zu einem sehr wichtigen Kriterium für das Verständnis vieler Bibelstellen: Überall da, wo das Volk der Juden als solches in der Schrift anerkannt wird, muß es sich um die Zeit vor oder nach der Gnadenzeit handeln. Denn in der jetzigen Zeit gibt es nach Gottes Gedanken keinen Unterschied zwischen Juden und Nationen. Alle sind von Natur Sünder, alle müssen sich zum Herrn Jesus bekehren und sind als Gläubige alle durch einen Geist zu einem Leib getauft (Röm 3,9; Apg 20,21; 1. Kor 12,13).

Aus 2. Thessalonicher 2,1-12 geht hervor, daß der Antichrist erst nach der Entrückung der Gläubigen auftreten wird.

Die in den Büchern Daniel und Offenbarung genannte Zeit von dreieinhalb Jahren gehört nicht zur christlichen Periode, sondern zur Zeit des Endes nach der Entrückung.

Die große Drangsal

Die Zeit des Antichristen wird durch schreckliche Verfolgungen gekennzeichnet sein, die insbesondere die gläubigen Juden betreffen, die auf den Messias warten (vgl. Off 13,15). Der Herr spricht hier nur von denen, die in Judäa, d.h. in unmittelbarer Nachbarschaft von Jerusalem wohnen, denn sie werden von dieser Drangsal am ersten und am stärksten betroffen sein. Deshalb werden sie aufgefordert, so schnell wie möglich in die unwegsamen Berge zu fliehen, wo sie vor der Wut des Feindes sicher sind. Wer sich auf dem Dach befindet, soll nicht ins Haus hinabsteigen, um noch irgend etwas zu retten, und wer auf dem Feld ist, soll nicht einmal wegen eines benötigten Kleidungsstückes zurückkehren (Verse 17 und 18). Schwangerschaft und Mutterschaft, normalerweise trotz der damit verbundenen Schmerzen und Mühen Zeiten des Glücks und der Freude für die verheiratete Frau, stellen dann nur Hindernisse für eine schnelle Flucht mit ihren vielen Entbehrungen dar (Vers 19). Deshalb denkt der Herr mit seinem „Wehe“ voll Erbarmen an die schwangeren und stillenden Frauen in dieser Notzeit. Er fordert die Jünger außerdem auf, dafür zu beten, daß die Flucht nicht im Winter oder am Sabbat stattfindet (Vers 20). Der von Regen und Kälte gekennzeichnete Winter in Israel wird ein ebenso großes Hindernis bei der Flucht in die Berge sein wie der jüdische Ruhetag, an dem es nach der Auslegung der Rabbiner nur erlaubt war, eine kurze Strecke, einen „Sabbatweg“, d.h. ungefähr einen Kilometer, zu gehen (vgl. Apg 1,12). Die Erwähnung des Sabbats an dieser Stelle ist übrigens ein weiterer Hinweis darauf, daß der Herr hier nicht von Christen spricht, sondern von Juden, die den Sabbat, den siebten Tag der biblischen Woche, als Tag der Ruhe beachten. Der christliche „Feiertag“ ist dagegen der Sonntag, der erste Tag der Woche, der im Neuen Testament auch Tag des Herrn genannt wird, weil Er an diesem Tag nach Seinem Erlösungswerk am Kreuz aus den Toten auferstanden und Seinen Jüngern erschienen ist.

In Vers 21 gibt der Herr Jesus die Erklärung für Seine Warnungen: „… Denn dann wird große Drangsal sein, wie sie seit Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht wieder sein wird.“ Schon Daniel hatte sie vorausgesagt: „Und in jener Zeit wird Michael aufstehen, der große Fürst, der für die Kinder deines Volkes steht; und es wird eine Zeit der Drangsal sein, dergleichen nicht gewesen ist, seitdem eine Nation besteht, bis zu jener Zeit“ (Dan 12,1; vgl. Jer 30,7). Diese Drangsal werden der Antichrist und der Herrscher des Römischen Reiches dem gläubigen Teil des jüdischen Volkes, dem Überrest verursachen, wenn sie das Bild des Tieres nicht anbeten und sein Zeichen nicht an ihre Stirn oder Hand annehmen wollen (vgl. Off 13,15-17). Die in Offenbarung 7,14 erwähnte große Drangsal bezeichnet dagegen die von Gott kommenden Strafgerichte über die gottlosen Nationen. Obwohl der gleiche Ausdruck benutzt wird, besteht also ein wesentlicher Unterschied.

Diese Drangsal wird nur eine bestimmte Zeit dauern, nämlich höchstens dreieinhalb Jahre. Das ist wohl mit den Worten des Herrn gemeint: „Und wenn jene Tage nicht verkürzt würden, so würde kein Fleisch errettet werden; aber um der Auserwählten willen werden jene Tage verkürzt werden“ (Vers 22). Wenn die Verfolgung länger dauerte, dann würden auch die Auserwählten darin umkommen! Wir sehen hier, daß nicht nur die Gläubigen der jetzigen Zeit auserwählt sind, sondern auch der zukünftige gläubige Überrest Israels, der in der großen Drangsal bewahrt bleibt, um dann die Segnungen des Tausendjährigen Reiches auf der Erde zu genießen (vgl. Verse 24 und 31). Nur von den Christen sagt Gottes Wort jedoch, daß sie auserwählt sind in Christus vor Grundlegung der Welt (Eph 1,4).

Außer dem Antichristen, der auch der falsche Prophet genannt wird (Off 19,20), werden in jener Zeit noch verschiedene andere Personen auftreten, die sich Christus oder Prophet nennen (Verse 23 – 26). Sie tragen die gleichen Kennzeichen wie der große jüdische Verführer, dem die Masse des Volkes anhängen wird, aber sie treten offenbar mit der Absicht auf, auch die Auserwählten zu verführen, die die Person des Antichristen durchschaut haben und vor ihm fliehen. Diese Werkzeuge des Teufels, die sich Christus nennen und große Zeichen und Wunder der Lüge vollbringen, müssen wir von den Antichristen unterscheiden, von denen Johannes schreibt (1. Joh 2,18ff.; 4,3; 2. Joh 7). Alle haben zwar gemeinsam, daß sie die Person unseres Herrn als Sohn Gottes und als Christus, d.h. als Messias leugnen. Aber jeder von den falschen Christi der Endzeit wird zusätzlich die gotteslästerliche Behauptung aufstellen, daß er der wahre Christus ist. Vor diesen Verführern hatte der Herr bereits in Vers 5 gewarnt, und Er tut es hier nochmals mit großem Nachdruck.

Die Erscheinung des Sohnes des Menschen

Die Not und Drangsal des gläubigen Überrestes der Juden wird jedoch ihr Ende finden. Wenn der Herr erscheinen wird, wird Er nicht an schwer zugänglichen Orten, in der Wüste oder in einem Zimmer sein. Auch wird Er sich nicht erst auf der Erde zu erkennen geben. Er vergleicht Seine Erscheinung mit dem Leuchten des Blitzes, der den von Gewitterwolken verdunkelten Himmel schlagartig und strahlend hell erleuchtet: „Denn ebenso wie der Blitz ausfährt vom Osten und leuchtet bis zum Westen, so wird die Ankunft des Sohnes des Menschen sein“ (Vers 27). Wenn Er mit Macht und großer Herrlichkeit in Begleitung der Engel und der verherrlichten Gläubigen vom Himmel herabkommen wird, wird jedes Auge ihn sehen. Niemand braucht dann noch auf dieses Ereignis hingewiesen zu werden. Es wird kein Zweifel mehr möglich sein.

Der Herr sagt hier, daß der Blitz vom Osten her scheint. Ist es uns bereits aufgefallen, daß die Eingänge zum Zelt der Zusammenkunft und zum Tempel nach Osten gerichtet waren? Aus dieser Himmelsrichtung wird der Herr sich Jerusalem und dem Tempel nähern, wenn Er erscheinen wird. In Sacharja 14,4 heißt es, daß seine Füße an jenem Tage auf dem Ölberg stehen werden, „der vor Jerusalem gegen Osten liegt“, und Hese-kiel weissagte: „Und die Herrlichkeit Jehovas kam in das Haus, den Weg des Tores, welches gegen Osten gerichtet war“ (Hes 43,4).

Die Erscheinung des Herrn als Sohn des Menschen, d.h. als der von Gott eingesetzte Erbe aller Dinge (vgl. Ps 8), wird so unerwartet stattfinden, daß keine Möglichkeit mehr zur Warnung besteht. Für alle Ungläubigen bringt dieses Kommen plötzliches Verderben mit sich (vgl. 1. Thes 5,3). Das kommt in den letzten Worten dieses Abschnitts zum Ausdruck: „Wo irgend das Aas ist, da werden sich die Adler versammeln“ (Vers 28). Während uns das Kommen des Herrn zur Entrückung der Gläubigen immer als eine lebendige und glückselige Hoffnung vorgestellt wird, ist es bei Seiner Ankunft als verherrlichter Mensch anders. Dieses Kommen ist mit Gericht verbunden. Das Aas, ein toter Körper, ist hier das Bild des abtrünnigen Volkes Israel, das sich willig dem Antichristen gebeugt hat (vgl. Hiob 39,30). Die Adler sind der Ausdruck des vom Himmel kommenden, alles verzehrenden Gerichtes Gottes. In den Versen 37-39 geht der Herr dann nochmals auf das plötzliche Gericht ein.

Könnten die Worte „Wo irgend das Aas ist, da werden sich die Adler versammeln“ auf das Kommen des Herrn zur Heimholung der Seinen hindeuten? Das wäre wirklich ein verfehltes Bild! Nein, hier handelt es sich nicht um die Erfüllung der Verheißung für die Gläubigen der jetzigen Zeit, sondern um die Ankunft des Sohnes des Menschen in Herrlichkeit. AR

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1997, Seite 300

Bibelstellen: Mt 24, 15-28

Stichwörter: Antichrist, Drangsal, falscher Prophet, Greuel, Israel, Jahrwoche, Osten, Sohn des Menschen, Tempel, Überrest