Der Brief des Judas

(Schluß von Seite 192)

Das Gericht über das Böse (Jud 14-16)

Für jemand, der in Sünde fällt, gibt es einen Weg zur Wiederherstellung. Für einen Abtrünnigen gibt es nichts als „ein gewisses furchtvolles Erwarten des Gerichts und den Eifer eines Feuers, das die Widersacher verzehren wird“ (Heb 10,27). Abfall endet in dem vernichtenden Gericht, wie es durch Henoch vorhergesagt wurde und erfüllt werden wird, wenn der Herr „inmitten seiner heiligen Tausende“ kommen wird. Als Henoch zu seiner Zeit von einer Welt der Ungöttlichen umgeben war, schaute er danach aus, in den Himmel aufgenommen zu werden, und sagte das kommende Gericht voraus. Heute sieht sich das Volk des Herrn wieder von Ungöttlichen umgeben und schaut danach aus, „entrückt zu werden dem Herrn entgegen in die Luft“. Es weiß, daß der abtrünnigen Christenheit Gericht folgen muß. An jenem Tag werden nicht nur die „Werke der Gottlosigkeit“ ihren verdienten Lohn empfangen, sondern auch all die „harten Worte, die gottlose Sünder gegen Ihn geredet haben“. Seit den Tagen der Apostel bis zu diesen letzten Endzeit-Tagen ist die Person Christi das ständige Angriffsziel ungöttlicher Verderber inmitten der Kirche gewesen. Aber keines der „harten Worte gegen Ihn“ ist in Vergessenheit geraten. An alle wird gedacht werden, und alle werden in Erinnerung gerufen werden, um im Gericht auf die zurückzufallen, die so leichtfertig meinten, über den Sohn Gottes zu Gericht sitzen zu können.

Aber alle, die Christus herabsetzten, haben immer zugleich den Menschen erhöht. Wenn sie „harte Worte“ gegen den Christus Gottes geredet haben, dann haben sie ebenso „stolze Worte“ über sündige Menschen ausgesprochen. Die Herabsetzung Christi ist immer mit der Verherrlichung des Menschen verbunden. Zudem verbirgt sich hinter den harten Worten gegen Christus immer ein niedriger Lebenswandel. Solche sind „Murrende, mit ihrem Los Unzufriedene, die nach ihren Begierden wandeln“. Begierde ist das wahre Geheimnis der Feindschaft gegen Christus und der Verherrlichung des Menschen.

Harte Worte gegen den Christus Gottes müssen die gerechte Entrüstung der wahren Kinder Gottes hervorrufen. Und doch können sie es sich in hohem Maß leisten, die Urheber dieser harten Worte mit stiller Verachtung zu strafen, da sie wissen, daß die Zeit bald kommen wird, wo mit alledem im Gericht gehandelt wird. Jede Geringschätzigkeit gegenüber der Offenbarung Gottes, jede Verdrehung göttlicher Wahrheiten oder Lästerung der Person und des Werkes Christi ist von dem heiligen Gott beachtet worden. Über Jahrhunderte hat Er Schweigen bewahrt und Geduld geübt, während Menschen in immer kühnerer Auflehnung sich „Zorn aufgehäuft haben am Tag des Zorns“ (vgl. Röm 2,5). Schließlich wird jedoch jedes „harte Wort“ seine vernichtende Antwort empfangen, und jeder Widersacher wird zum Schweigen gebracht und verurteilt werden, denn „siehe, der Herr ist gekommen inmitten seiner heiligen Tausende, Gericht auszuführen gegen alle und zu überführen alle Gottlosen von allen ihren Werken der Gottlosigkeit, die sie gottlos verübt haben, und von all den harten Worten, die gottlose Sünder gegen ihn geredet haben“.

2. Ermutigung

Sind die Warnungen dieses kurzen Briefes außerordentlich ernst, so ist die Ermutigung überaus kostbar. Im Eingangsvers werden die Heiligen als „Berufene“, „Geliebte“ und „Bewahrte“ angesprochen. Weder die Verderbtheit der Christenheit noch das Versagen der Heiligen können die Absichten Gottes vereiteln. „Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11,29). Wie dunkel der Tag auch sein mag, es gibt doch solche, die nach dem ewigen Vorsatz Gottes berufen worden sind. Alle, die Er berufen hat, sind Gegenstand Seiner unwandelbaren Liebe, und denen, die Er liebt, wendet Er Seine bewahrende Fürsorge zu. Das spricht von dem, was Gott für die Heiligen ist, statt von dem, was die Heiligen für Gott sind. Gott hat uns „berufen“; Gott „liebt“ uns; Gott „bewahrt“ uns. So wird hier das, was Gott für Sein Volk ist, als die bleibende und alleinige Grundlage für den Segen und die Sicherheit der Seinen dargestellt. Später wird Judas uns allerdings noch hinsichtlich unserer Verantwortlichkeiten ermahnen, aber wie es unter der Gnade stets ist, erwerben wir nicht einen Platz des Vorrechts dadurch, daß wir unserer Verantwortung entsprechen – wie unsere gesetzlichen Herzen denken könnten -, sondern da wir auf einen Platz des Vorrechts versetzt sind, folgen daraus gewisse Verantwortlichkeiten.

Hätten wir nicht die Berufung Gottes, die Liebe Gottes und die bewahrende Fürsorge Gottes, so würde alles weggefegt in die Verderbnis, die auf allen Seiten überhandnimmt. Außerdem können die Segnungen der „Barmherzigkeit“, des „Friedens“ und der „Liebe“ immer noch genossen werden, wie dunkel der Tag auch sein mag. Und sie können nicht nur genossen, sondern sogar „vermehrt“ werden. Wenn das Böse überhandnimmt und sich die Schwierigkeiten mehren, werden Barmherzigkeit, Friede und Liebe ebenfalls vermehrt werden (V. 2).

Nachdem Judas uns so an unsere Vorrechte erinnert hat, geht er jetzt dazu über, uns zu belehren über den Willen Gottes für Sein Volk, das sich inmitten größter Verderbtheit befindet. Wie dunkel die Tage auch sein mögen, Gott hat einen Weg für Sein Volk. Als erstes werden wir ermahnt zu kämpfen.

Kampf (Jud 3)

Wir sollen ernstlich für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben kämpfen. „Der Glaube“, von dem Judas spricht, ist nicht der persönliche Glaube, durch den wir errettet werden, sondern das, was geglaubt werden soll: die Wahrheit. Wenn der Irrtum vorherrscht und der Widerstand sein Haupt erhebt, genügt es nicht, daß wir die Wahrheit darlegen, sondern wir müssen für sie kämpfen. Das bedeutet zwar Auseinandersetzung; aber wenn Christus angegriffen wird und die Wahrheit auf dem Spiel steht, dürfen wir nicht unter dem Vorwand christlicher Nächstenliebe davor zurückschrecken, den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen.

Übrigens ist es „der Glaube“, für den wir zu kämpfen haben, d. h. die Wahrheit in ihrem ganzen Umfang. Wir sollen nicht einfach für eine einzelne Wahrheit kämpfen. Das ist tatsächlich oft geschehen mit dem Ergebnis, daß die Wahrheit als Ganzes verlorenging. Dadurch sind Sekten entstanden, die einen speziellen Aspekt der Wahrheit betonen wie z. B. die Heiligkeit, die Gegenwart des Geistes, die Einheit der Kirche oder das Kommen des Herrn.

Auch laßt uns beachten, daß der Glaube, für den wir zu kämpfen haben, der „einmal den Heiligen überlieferte Glaube“ ist. Das Wort „einmal“ hat die Bedeutung von „ein für allemal“. Es läßt keine Hinzufügung, keine Veränderung oder Entwicklung zu. Es gibt keine neue Überlieferung der Wahrheit für die Heiligen. Sie ist ihnen ein für allemal überliefert worden. Wir mögen noch viel über die Wahrheit zu lernen haben. Gott mag uns neues Licht über die einmal offenbarte Wahrheit gewähren, und wir sollten in unserer Wertschätzung dafür wachsen. Aber die Wahrheit selbst ist ein für allemal den Gläubigen überliefert worden. Und dafür sollen wir kämpfen. Es geht hier nicht um die Wahrheit, wie sie in gewissem Ausmaß von unseren Vätern festgehalten oder durch Tradition weitergegeben wurde, wie sie durch Glaubensbekenntnisse festgeschrieben oder auch durch falsche Belehrung verdunkelt wurde, sondern es geht um den einmal den Heiligen überlieferten Glauben in genau der Form, in der er überliefert worden ist.

Es ist auch gut, festzustellen, daß wir nicht aufgerufen sind, gegen den Irrtum zu kämpfen. Viele aufrichtige Seelen haben das getan und Kreuzzüge gegen besonders auffallende Irrtümer geführt. Es gibt durchaus Gelegenheiten, bei denen der Kampf für die Wahrheit das Bloßstellen des Bösen notwendig macht. Aber die große Aufgabe des Volkes Gottes liegt bei der Wahrheit und nicht beim Irrtum. Judas sagt nicht, daß wir ernstlich den Irrtum bloßlegen, sondern daß wir „für den Glauben kämpfen“ sollen.

Wenn wir nun für die Wahrheit einstehen sollen, dann gibt es noch ein Wort, das Judas benutzt, und wir tun gut daran, es zu betonen: In Vers 17 spricht er vom „Erinnern“.

Erinnerung (Jud 17-19)

„Ihr aber, Geliebte, erinnert euch an die von den Aposteln unseres Herrn Jesus Christus zuvor gesprochenen Worte.“ Wenn wir für den Glauben kämpfen sollen, wie außerordentlich wichtig ist es dann, daß wir uns genau der Worte „erinnern“, in denen uns die Wahrheit durch die Apostel überliefert worden ist. Die sogenannten „höheren Kritiker“ mögen die Worte der Apostel in Frage stellen, Theologen mögen sie herabsetzen, aber das Wort selbst sagt, daß, wenn jemand geistlich ist, er anerkennen wird, daß das, was die Apostel geschrieben haben, „ein Gebot des Herrn“ ist (1. Kor 14,37). Übrigens ist die Unterwerfung unter die Belehrung der Apostel der große Test, der beweist, aus was für einem Geist ein Mensch spricht: „Wer Gott erkennt, hört uns; wer nicht aus Gott ist, hört uns nicht. Hieraus erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist des Irrtums“ (1. Joh 4,6).

Allerdings geht es hier besonders um die prophetischen Warnungen der Apostel, an die wir uns erinnern sollen. Was für ein Trost, daß wir nicht ohne Warnung vor dem schrecklichen Bösen gelassen worden sind! Henoch weissagte über das Böse; die Apostel warnten uns davor. Während wir also nicht umhin können, über die Verderbtheit zu trauern, gibt es doch keinen Grund, überrascht oder entmutigt zu sein. Vielmehr sollte unser Glaube bestärkt werden, wenn wir die Erfüllung der Worte der Apostel sehen. Ihre prophetischen Worte bestätigen die Warnungen von Judas. Auch sie haben uns gewarnt, daß in den letzten Tagen Männer auftreten würden, die mit göttlichen Dingen spielen und durch ihre eigenen unheiligen Begierden geleitet würden. Solche verbinden sich zwar dem Namen nach mit dem Volk Gottes, wandeln jedoch in Wirklichkeit abseits davon und haben keine Gemeinschaft mit ihm. Sie sind natürliche Menschen, die den Geist Gottes nicht besitzen. Sie mögen prominente Plätze auf den Kanzeln der Christenheit einnehmen, aber – wie jemand gesagt hat -sie verspotten den einfältigen Glauben ihrer Vorväter, predigen eine sogenannte Ethik anstelle von Christus und suchen auf jede mögliche Weise, die Inspiration der Schriften und die Wahrheiten des Christentums zu untergraben.

Da wir nun aufgefordert sind, für den Glauben zu kämpfen, werden wir weiter in Judas V. 20 an die persönliche Erbauung erinnert.

Erbauung (Jud 20)

Wir können nicht mit Recht für den Glauben kämpfen, wenn wir uns nicht selbst auf unseren allerheiligsten Glauben erbauen. Wir werden nicht aufgerufen, uns zu erbauen in all den verschiedenen Formen, die das Böse annehmen kann. Wir werden dem Bösen nicht dadurch widerstehen können, daß wir einfach eine gewisse Kenntnis des Irrtums haben. Dem Irrtum können wir nur insoweit begegnen, als wir in der Wahrheit befestigt sind. Zudem handelt es sich bei unserem Glauben um den „allerheiligsten Glauben“. Daher werden wir durch die Erbauung auf den Glauben nicht einfach eine tiefere Kenntnis der Wahrheit erlangen, sondern die Wahrheit wird zunehmend auf uns einwirken. Sie hat eine heilige und heiligende Auswirkung auf unsere Seelen und führt zu einer stärkeren Absonderung vom Bösen, das uns umgibt (Joh 17,17). Darüber hinaus hat Judas die Erbauung mit der Wichtigkeit des Gebets verbunden.

Gebet (Jud 20)

Damit das Gebet wirksam wird, muß es sich um ein Gebet „im Heiligen Geist“ handeln. Es wird heutzutage viel über das Gebet gesagt, aber wir müssen wohl einmal stillstehen und fragen: „Geht es um Gebet im Heiligen Geist?“ Zweierlei wird ein solches Gebet kennzeichnen.

Es wird ein Gebet in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes sein, wie sie in Seinem Wort offenbart sind, und es wird Christus und Seine Interessen zum Gegenstand haben. Der Heilige Geist kann unmöglich in einer Weise leiten, die im Widerspruch zum Wort Gottes steht, und Er hat immer Christus vor sich. Der große Auftrag des Heiligen Geistes in der Welt ist, Christus zu erhöhen. Er ist nicht gekommen, um diese Welt, die den Sohn Gottes hinausgeworfen hat, zu einer angenehmen, ganz netten und fröhlichen Welt zu machen. Er ist hier, um ein Volk aus dieser Welt heraus für Christus zu nehmen. Das „Erbauen“ wird zum „Gebet“ führen. Je größer die Sorgfalt ist, mit der wir uns selbst auf unseren allerheiligsten Glauben erbauen, um so besser werden wir in der Lage sein, im Heiligen Geist zu beten, und desto mehr werden wir uns der Notwendigkeit bewußt sein, im Heiligen Geist zu beten.

Aber das Beten im Heiligen Geist führt zu einer weiteren wichtigen Übung, die durch das Wort „Erhalten“ ausgedrückt wird.

Erhalten (Jud 21)

„Erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes“ (V. 21). Das Gebet im Heiligen Geist bringt die Seele in enge Fühlung mit Gott, und das wiederum bedeutet, ein bewußtes Empfinden Seiner Liebe zu genießen, denn Gott ist Liebe. Als Christen pflichten wir alle der Tatsache bei, daß Gott uns liebt. Es ist jedoch etwas anderes, auch in dem Bewußtsein Seiner Liebe zu leben. Und doch, was ist wichtiger und gesegneter, als in diesem ständigen Empfinden zu leben, daß wir von Gott geliebt sind? Die religiöse Welt – Kains Welt – mag uns hassen; manche in Gottes geliebtem Volk mögen uns mißverstehen, aber Gott liebt uns. Die Umstände mögen schwierig sein, die Leiden mögen sich mehren und das Böse überhandnehmen. Aber wenn wir uns selbst erhalten in der Liebe Gottes, werden wir keinem von alledem erlauben, die herrliche Tatsache in Frage zu stellen, daß die Liebe Gottes, die in Christus zum Ausdruck kommt, durch die geöffneten Himmel auf uns herabströmt. In dem Maß, wie wir in der Liebe Gottes erhalten bleiben, werden wir auch von der Liebe zur Welt befreit (1. Joh 2,15), in der Liebe zu den Gläubigen erhalten (1. Joh 5,1) und dazu geführt werden, uns in Liebe dem Sünder zuzuwenden (2. Kor 5,14).

Und diese Liebe wird nicht zufrieden sein, bis wir bei Christus und Christus gleich sind. Dann wird Gott wahrhaftig „in Seiner Liebe ruhen“ (Zeph 3,17 Anmerkg.) und über uns „frohlocken mit Jubel“. Diese Gedanken führen zu einer weiteren Übung, die uns durch das Wort „erwarten“ vorgestellt wird.

Erwarten (Jud 21)

Wenn wir uns in der Liebe Gottes erhalten, dann werden wir „die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus erwarten zum ewigen Leben“. Barmherzigkeit über Barmherzigkeit stillt unsere Bedürfnisse bei jedem Schritt unseres Weges über die Erde. Die krönende Barmherzigkeit aber wird uns mitten aus diesem Schauplatz der Not herausnehmen, damit wir dem Herrn in der Luft begegnen und in der ewigen Heimat des Lebens in die Fülle des Lebens eintreten. Auf der Erde mögen wir von dieser Herrlichkeit einen Blick erhascht und einen gewissen Geschmack ihrer Süßigkeit genossen haben, im Himmel aber werden wir in ihre Fülle eintreten.

Erbauung, Gebet, Erhalten und Erwarten drücken die ineinandergreifenden Übungen aus, durch die die Seele inmitten der vorherrschenden Verderbtheit der Christenheit bewahrt wird. Solche Übungen sind allerdings überwiegend persönlicher Art. Das bedeutet aber nicht, daß wir nur an uns denken und die anderen vergessen sollen. Nachdem Judas uns in die Fülle des ewigen Lebens geführt hat, wirft er noch einen Blick zurück in das Meer des Bösen. Er sieht viele aus dem Volk Gottes, wie sie mitten darin und in Verbindung damit stehen. „Hast du auf dich selbst achtgehabt?“ scheint Judas dann zu sagen, „dann wirst du dich auch um andere kümmern können.“ Daher lauten seine Worte: „Habt Erbarmen.“

Erbarmen haben (Jud 22)‘l)

l) Der Verfasser folgt hier einer Text-Lesart, wie sie in der Elberfelder Übersetzung in der Anmerkung zu dem Wort „reißend“ in Vers 23 angedeutet ist.

Wenn dein Herz in der Liebe Gottes erhalten wird, dann wird es auch nach denen ausschauen, die Gott liebt. Und doch werden wir nicht ermahnt, Erbarmen mit allen zu haben. Dieses sollen wir nur mit „den einen“ haben, wobei ein Unterschied gemacht wird. Den Führern des Abfalls ist mit Abscheu zu begegnen, nicht mit Erbarmen. Aber es gibt solche, die geführt werden, nicht mit Willen, sondern aus Unwissenheit, und mit solchen sollen wir Erbarmen haben. Andere sind tiefer in das Böse verwickelt; das Feuer scheint sich schon an ihnen zu entzünden; aber selbst dann müssen wir sie zu retten suchen, indem wir sie aus dem Feuer reißen, wobei wir zugleich das Böse hassen, in dem sie sich befinden. Schrankenloses Erbarmen für das Volk Gottes muß immer mit kompromißloser Absonderung von dem Bösen gepaart sein, mit dem es verbunden ist. Genau wie es bei Christus war, von dem jemand zu Recht gesagt hat: „In Christus finden wir ein Erbarmen, das in bezug auf den Sünder keine Grenzen kennt, verbunden mit unendlicher Absonderung von dessen Sünde.“

Um Erbarmen zu zeigen, haben wir göttliche Liebe nötig; einen Unterschied zu machen erfordert göttliche Weisheit; jemand „aus dem Feuer zu reißen“ erfordert göttliche Kraft, und „das vom Fleisch befleckte Kleid“ zu hassen erfordert göttliche Heiligkeit. Wie groß ist daher die Notwendigkeit, uns selbst auf unseren allerheiligsten Glauben zu erbauen und im Heiligen Geist zu beten!

Judas hat das Böse in seiner ganzen Schrecklichkeit dargelegt und die Gläubigen gewarnt, ermutigt und ermahnt. Seine letztendliche Quelle ist Gott selbst und alles, was Gott für Sein Volk ist. Das Ausmaß des Bösen und die Schwachheit der Heiligen schwinden aus seinem Blick, und Gott allein bleibt. Daher kann er den ernstesten Brief, der je verfaßt wurde, mit dem herrlichsten Ausdruck des Lobes abschließen. Judas hat auf den Zusammenbruch dessen geblickt, was den Namen Christi bekennt. Er hat einen Rückblick getan auf den Beginn des Verderbens. Mit prophetischem Blick hat er vorwärts geschaut auf das ernste Ende. Am Schluß jedoch schaut er mitten aus den Trümmern und dem Zusammenbruch der verderbten Christenheit heraus nach oben, und plötzlich bricht er trotz des dunklen Ausblicks in Lob aus: „Dem aber, der euch ohne Straucheln zu bewahren und vor seiner Herrlichkeit untadelig darzustellen vermag mit Frohlocken …“

Judas scheint zu sagen: „Ich sehe das Verderben, das hereingekommen ist; ich sehe die steigende Woge des Bösen; ich sehe, daß die Gläubigen darin versagen können, zu ‚erbauen‘, zu ‚beten‘ und ’sich selbst zu erhalten‘. Aber ich sehe Einen in der Herrlichkeit, der in der Lage ist, sie vor dem Straucheln zu bewahren, sie sicher nach Hause zu bringen und sie vor Seiner Herrlichkeit untadelig darzustellen mit Frohlocken. Ich sehe, daß der Gerichtstag für die ungöttlichen Bekenner kommen wird -ein Tag der Düsternis und der Trübsal. Aber ich sehe auch, daß der Tag der Erscheinung für alle Seine Heiligen kommt – ein Tag der Herrlichkeit und überströmender Freude.“

Es ist an uns, in ähnlichem Glauben die Sprache von Judas zu übernehmen. Wenn wir den unaufhörlichen Strom von Lästerungen betrachten, der von christlichen Bekennern ausgegossen und mit Gleichgültigkeit oder gar Beifall von der großen Masse des christlichen Bekenntnisses aufgenommen wird; wenn wir sehen, daß die Grundlagen angegriffen werden, daß „die Wahrheit strauchelt auf dem Markt“ (Jes 59,14) und böse Menschen und Verführer sich immer schlimmer entwickeln, dann mögen wir wohl fragen: „Was wird das Ende sein?“ Aber – Gott sei Dank – zum Trost und zur Ermutigung für Sein Volk hat Er uns nicht in Ungewißheit über das Ende gelassen. Judas beschreibt uns das Ende der Verderber, das Ziel des Volkes Gottes und das Ziel für Gott selbst. Alles wird damit enden, daß die abtrünnigen Verderber ihr gerechtes Gericht empfangen, daß die Heiligen Gottes vor Seiner Herrlichkeit untadelig dargestellt werden mit Frohlocken und daß Gott selbst „Herrlichkeit, Majestät, Macht und Gewalt zuteil wird, … jetzt und in alle Ewigkeit“.

Die vorübergehenden Leiden der Zeit werden den überschwenglichen Freuden der Ewigkeit Platz machen (vgl. 2. Kor 4,17). Unsere Freude wird es sein, dort zu sein, und Seine Freude, uns dort zu haben. „Von der Mühsal Seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen“ (Jes 53,11). Der Eine, dessen Seele einst übervoll an Leiden war bis zum Tod, wird mit „überströmender Freude“ erfüllt sein auf ewig. So mögen wir wohl mit Judas ausrufen: „Dem alleinigen Gott, unserem Heiland, durch Jesus Christus, unseren Herrn, sei Herrlichkeit, Majestät, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt und in alle Ewigkeit! Amen.“ H.S.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1998, Seite 211

Bibelstellen: Judas

Stichwörter: Erbarmen, Erbauung, Ermunterung, Gericht, Judas, Kampf