Samuel richtet Israel oder Die jährliche Rundreise des Richters Samuel

Samuel war der letzte Richter in Israel und gleichzeitig der erste in der Reihe der Propheten. Über seine Tätigkeit als Richter gibt die Schrift eine kurze Zusammenfassung in 1. Samuel 7,15-17:

„Und Samuel richtete Israel alle Tage seines Lebens. Und er ging fahr für fahr und zog umher nach Bethel und Gilgal und Mizpa und richtete Israel an allen diesen Orten; und er kehrte nach Rama zurück, denn dort war sein Haus, und dort richtete er Israel. Und er baute daselbst Jehova einen Altar.“

Diese „Rundreise“ des Richters Samuel hat sicher auch für uns heute eine geistliche Bedeutung. Als neutestamentliches Gegenbild zur „Rechtsprechung“, wie Samuel sie übte, können wir wohl an die geistliche Beurteilung der Zustände im Volk Gottes und das Erkennen des Willens Gottes denken. So wollen wir denn Samuel ein wenig folgen an die vier Orte seines Wirkens.

Bethel

Als erstes wird Bethel genannt. Dieser Ort spielt in der Geschichte des Volkes eine besondere Rolle. Hier hatte Abraham zuerst sein Zelt aufgeschlagen. Später hatte Jakob hier kostbare Verheißungen von Gott empfangen und die Nähe Gottes auf einzigartige Weise erfahren. Deshalb hatte er ihm den Namen Bethel (Haus Gottes) gegeben. – Die vorherrschenden Grundsätze in Verbindung mit dem Ausdruck „Haus Gottes“ im Alten und Neuen Testament sind Heiligkeit („Deinem Hause geziemt Heiligkeit“, PS 93,5) und Ordnung („damit du weißt, wie man sich verhalten soll im Haus Gottes, das die Versammlung des lebendigen Gottes ist“,1. Tim 3,15). So hat bei jeder Angelegenheit, die zu entscheiden ist, die Frage vorrangige Bedeutung, was der Heiligkeit und göttlichen Ordnung Seines Hauses entspricht.

Ist darüber hinaus nicht das „Haus Gottes“, die Stätte Seiner Gegenwart, der geeignete Platz, Seinen Willen zu erfahren? Im Neuen Testament ist das Haus Gottes die Versammlung (1. Tim 3,15). Und da, wo Gläubige sich zum Namen des Herrn versammeln und Seine Autorität und Seine Gedanken über die Versammlung anerkennen, hat Er auch heute noch Seine Gegenwart verheißen. Die örtliche Versammlung besitzt nach Gottes Wort die Autorität zum „Binden und Lösen“, so daß sie, nachdem sie den Willen des Herrn in einer solchen Sache erkannt hat, in Seinem Namen handelt.

Doch nicht nur bei derartigen Zuchtfragen ist der Gedanke an das „Haus Gottes“ von Bedeutung. Sollte der Herr nicht in allen Fragen, die eine Versammlung betreffen, denen, die auf der Grundlage der Versammlung Gottes zusammenkommen, Seine Gedanken kundtun? Denken wir nur an Fragen der praktischen Gemeinschaft und der Absonderung gegenüber der Welt. Allerdings ist dazu auch ein entsprechender geistlicher Zustand erforderlich. Davon reden die andere Orte.

Gilgal

Der zweite Ort auf Samuels Reise war Gilgal, das ebenfalls einen bedeutenden Platz in der Geschichte Israels einnahm. Von hier aus hatte das Volk unter Josua das Land erobert. Hier standen die 12 Steine zur steten Erinnerung an den Durchzug durch den Jordan. Aber vor allem hatte hier vor Beginn der Einnahme des Landes die Beschneidung stattgefunden. Das alles bedeutet für uns im Vorbild, daß wir mit Christus gestorben, begraben und auferstanden sind. Insbesondere redet Gilgal davon, daß wir unser Gestorbensein mit Christus praktisch verwirklichen müssen, indem wir „unsere Glieder, die auf der Erde sind, töten“ (Kol 3,5). So mußte Israel in den Tagen Josuas nach jeder Unternehmung wieder ins Lager nach Gilgal zurückkehren, damit die Erinnerung an das Ende des Menschen im Fleisch wach erhalten blieb. Gilgal bedeutet Selbstgericht, die Verurteilung von allem, was aus dem Fleisch kommt.

Nur auf dieser Grundlage können wir in geistlicher Beziehung „Recht sprechen“, d. h. eine Sache im Sinn des Herrn beurteilen. Wenn eigene Interessen, Voreingenommenheit, Streben nach Einfluß oder Parteisucht unser Vorgehen bestimmen, dann haben wir nicht „in Gilgal gerichtet“. Manche Stellen im Neuen Testament unterstreichen diesen Gesichtspunkt, daß wir „nichts aus Streitsucht oder eitlem Ruhm“ tun sollen, „sondern in der Demut einer den anderen höher achtend als sich selbst; ein jeder nicht auf das Seine sehend, sondern ein jeder auch auf das der anderen“ (Phil 2,3.4). Und weiter: „Ich ermahne euch nun, ich, der Gefangene im Herrn, daß ihr würdig wandelt der Berufung, mit der ihr berufen worden seid, mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe, euch befleißigend, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Band des Friedens“ (Eph 4,1-3). Gerade bei solchen, die in besonderem Maß an der Verantwortung teilnehmen, besteht Gottes Wort auf diesem Punkt, „nüchtern, besonnen, … nicht streitsüchtig“ zu sein (1. Tim 3,2.3) und „nicht eigenmächtig, nicht zornmütig“ (Tit 1,7).

Mizpa

Unter den verschiedenen Städten dieses Namens handelt es sich hier um Mizpa im Stammgebiet Benjamins, in der Nähe von Rama, wo Samuel wohnte. Bevor wir auf die Verse 5-14 unseres Kapitels eingehen, die davon handeln, wollen wir kurz die Bedeutung des Namens beachten. Mizpa bedeutet soviel wie „Wachtturm“. Wie wichtig ist Wachsamkeit gegenüber den Versuchen des Feindes, dem Volk Gottes zu schaden – und zwar Wachsamkeit nach allen Seiten! Vielleicht haben wir durch Gottes Gnade in Verwirklichung dessen, was Bethel und Gilgal bedeuten, eine Gefahr erkannt oder eine Situation richtig beurteilt, aber uns fehlt die Wachsamkeit, zu erkennen, daß der Feind schon längst von anderer Seite angreift. Diese „geistliche Ausgewogenheit“ wird uns mehrfach in der Schrift vorgestellt. „So achtet denn darauf, zu tun, wie Jehova, euer Gott, euch geboten hat; weicht nicht ab zur Rechten noch zur Linken“ (5. Mo 5,32; s. a. 5. Mo 17,11.20; Jos 1,7).

Doch nur von einem der Könige wird uns gesagt, daß er sich so verhielt. Es ist Josia. „Er tat, was recht war in den Augen Jehovas; und er wandelte auf allen Wegen seines Vaters David und wich nicht zur Rechten noch zur Linken“ (2 Kön 22,2). Das zeigt uns, wie nötig wir diese Wachsamkeit haben. Und wenn es doch einmal daran gefehlt hat und wir abgewichen sind, dann will Gott uns zurückrufen: „Wenn ihr zur Rechten, oder wenn ihr zur Linken abbiegt, so werden deine Ohren ein Wort hinter dir her hören: Dies ist der Weg, wandelt darauf!“ (Jes 30,21). Die göttliche Weisheit wandelt „mitten auf den Steigen des Rechts“ (Spr 8,20). Wenn wir es ihr gleichtun wollen, brauchen wir „unser“ Mizpa, den Ort der Wachsamkeit.

Das Handeln Samuels und des Volkes in Mizpa gibt uns auch einige wichtige Hinweise auf die Gesinnung, in der wir zu urteilen und zu handeln haben. Einige Punkte sollen noch hervorgehoben werden:

– „Versammelt ganz Israel nach Mizpa, und ich will Jehova für euch bitten“ (V. 5). Wenn wir den Willen des Herrn in einer Angelegenheit des Volkes Gottes erkennen wollen, besteht der erste Schritt darin, als Versammlung das Angesicht Gottes zu suchen.

– „Und sie versammelten sich nach Mizpa und schöpften Wasser und gössen es aus vor Jehova; und sie fasteten an selbigem Tag und sprachen daselbst: Wir haben gegen Jehova gesündigt! Und Samuel richtete die Kinder Israel zu Mizpa“ (V. 6).

Eine Haltung der Demütigung, in der wir unser Versagen und unsere Sünde bekennen, versetzt uns in die Lage, den Weg des Herrn zu erkennen und nach Seinen Grundsätzen zu urteilen und zu handeln. „Und Samuel richtete die Kinder Israel zu Mizpa.“ Samuel richtete also nicht in einem harten, richterlichen Geist, sondern er traf die um der Ehre des Herrn willen notwendigen Entscheidungen aus einer Haltung der Demütigung heraus

– „Und die Kinder Israel sprachen zu Samuel: Laß nicht ab, für uns zu Jehova, unserem Gott, zu schreien, daß er uns von der Hand der Philister rette! … Und Samuel schrie zu Jehova für Israel, und Jehova erhörte ihn“ (V. 8.9).

Das anhaltende, ernste Flehen wird alle weiteren Bemühungen begleiten. „Im Gebet haltet an“ (Röm 12,12). „Zu aller Zeit betend mit allem Gebet und Flehen in dem Geist, und hierzu wachend in allem Anhalten und Flehen für alle Heiligen“ (Eph 6,18). Auch in dieser Stelle aus dem Epheserbrief werden Gebet und Flehen mit Wachen (Mizpa) verbunden. – „Das inbrünstige Gebet eines Gerechten vermag viel“ (Jak 5,16). Gerade Samuel ist dafür ein anschauliches Beispiel. – „Mose und Aaron unter seinen Priestern, und Samuel unter denen, die seinen Namen anrufen, riefen zu Jehova, und er antwortete ihnen“ (Ps 99,6); „Und Jehova sprach zu mir: Wenn auch Mose und Samuel vor mir ständen, so würde meine Seele sich nicht zu diesem Volk wenden“ (Jer 15,1) – wie sehr wird hier das Gewicht des Gebets dieser Männer bezeugt! Sollte Gott nicht auch heute aufmerken auf das Gebet Seines Volkes?

– „Und Samuel nahm einen Stein und stellte ihn auf zwischen Mizpa und Sehen, und er gab ihm den Namen Eben-Eser und sprach: Bis hierher hat uns Jehova geholfen“ (V. 12).

So wollen auch wir nicht vergessen, für jeden einzelnen Schritt, den der Herr uns klargemacht hat, den wir im Vertrauen auf Ihn – wenn auch oft mit Angst und Zagen – gegangen sind und zu dem Er sich bekannt hat, unser,.Eben-Ezer“ aufzurichten: Bis hierher hat der Herr geholfen!

Rama

Samuel richtete Israel auch in Rama. Dieser Ort war durch zweierlei Besonderheiten ausgezeichnet: Erstens war es der Wohnort Samuels, „denn dort war sein Haus“. Und zweitens heißt es hier ausdrücklich: „Und er baute daselbst Jehova einen Altar.“

Rama bedeutet „Höhe, Erhöhung“. Läßt uns das nicht an unsere „geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern“ denken? Dort sind wir eigentlich zu Hause, und die Beschäftigung damit macht uns zu Anbetern. Wir wollen aus Rama zwei Belehrungen entnehmen:

– Alles, was wir zu beurteilen haben, sollen wir nach himmlischen Grundsätzen bewerten und nicht nach den Grundsätzen und Vorgehensweisen der Welt.

– Bei allem notwendigen „Richten“, d. h. Beurteilen und Entscheiden in bezug auf den Weg des Volkes Gottes, wo vielleicht manche demütigende und schmerzliche Entscheidung auf uns zukommt, laßt uns nicht vergessen, wo wir als Gläubige unsere eigentliche „geistliche Atmosphäre“ haben und daß die Anbetung unserer Herzen den Herrn erfreut.

Diener des Herrn, die wie Samuel von dort „ausgehen“ und immer wieder dorthin zurückkehren, sind ein Segen für das Volk Gottes in dunklen Tagen. M. V.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1998, Seite 262

Bibelstellen: 1Sam 7, 15-17

Stichwörter: Anbetung, Bethel, Gilgal, Haus Gottes, Mizpa, Rama, Richter, Samuel, Selbstgericht, Wachsamkeit