Schreiende Steine

Der Evangelist Lukas berichtet uns vom Einzug des Herrn Jesus in Jerusalem ein Wort, das der Herr denen entgegenhielt, die sich durch das laute und freudige Lob der ganzen Menge der Jünger gestört fühlten:

„Ich sage euch, wenn diese schweigen, so werden die Steine schreien“ (Lk 19,40).

Wir verstehen diesen Vergleich: Wenn die, die berufen waren, Ihn zu loben, schwiegen, dann würde Gott die ungeeignetsten Werkzeuge zu benutzen wissen, die man sich denken kann, um Seinem geliebten Sohn dennoch das Lob zu verschaffen, das Ihm zukommt.

Und hat Gott das nicht tatsächlich getan? Sehen wir uns einmal etwas um:

Die „Magier“ aus dem Osten

Als der Herr Jesus die Erde betrat, als Kind „geboren von einer Frau“, da verkündigte ein Engel den einfachen Hirten auf dem Feld bei Bethlehem die herrliche Nachricht, und die himmlischen Heerscharen jubelten. Diese Hirten waren es auch, die als erste das Kind sahen,

und alle, die es hörten, verwunderten sich über das, was von den Hirten zu ihnen gesagt wurde“ (Lk 2,18).

Aber Jerusalem, „die Stadt des großen Königs“, jubelte nicht. Wohl fanden sich bei Seiner Darstellung im Tempel einzelne Getreue wie Simeon und Anna, die, durch den Geist belehrt, erkannten, wer dieses Kind war. Doch öffentliche Beachtung fand das Ganze vorerst nicht.

Dann aber durchbrach Gott dieses Schweigen. Er sandte die Magier aus dem Morgenland, die sich ganz arglos nach Jerusalem wandten – denn wo anders als dort sollten sie den neugeborenen König erwarten?

Ihre Frage: „Wo ist der König der Juden, der geboren worden ist?“ versetzte Herodes und die ganze Stadt in helle Aufregung. Sie aber zogen weiter nach Bethlehem, wo das Kind war, und huldigten Ihm.

Wer waren diese als „Magier“ bezeichneten Männer?

Es waren Sternkundige; und Sternkunde umfaßte damals sowohl Astronomie als auch Astrologie. Im Altertum finden wir nämlich noch nicht die heutige strikte Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und irrationalen Einflüssen, die dem Verstand nicht zugänglich sind, ob sie von unten kommen (Okkultismus) oder von oben (göttliche Offenbarung).

„Weise“ Männer waren bei den Heiden in der Regel auch okkult geprägt; so war es auch in der Medizin. Dafür gibt es im Alten Testament zahlreiche Hinweise, denken wir nur an die Weisen von Babel im Buch Daniel.

Gott hatte verordnet: „Es soll keiner unter dir gefunden werden, der … Wahrsagerei treibt, kein Zauberer oder Beschwörer oder Magier oder Bannsprecher … Denn ein Greuel für Jehova ist ein jeder, der diese Dinge tut; und um dieser Dinge willen treibt Jehova, dein Gott, sie vor dir aus“ (5. Mo 18,10-12).

Und nun kommen diese Männer, um dem König der Juden, der geboren worden war, zu huldigen! (Mt 2,1-2.9-11).

Hatte Gott Sein früheres Urteil widerrufen? Keineswegs. Es sollte nach wie vor in Israel keiner gefunden werden, der „diese Dinge tat“, und die Männer zogen auch, nachdem sie ihre Vorhaben ausgeführt hatten, wieder „hin in ihr Land„.

Doch wie souverän hatte Gott in Seiner Regierung es gefügt, daß Seinem Sohn die Huldigung als König erwiesen wurde, die Sein Volk Ihm versagte!

Und wie passend waren die Gaben, die die Männer dem Kind darbrachten:

Gold, das Symbol der göttlichen Gerechtigkeit in Gnade,

Weihrauch, das Zeichen der Weihe für Gott, und die

Myrrhe, die schon jetzt auf Seine Leiden hinwies!

Das alles ,stand nicht in den Sternen‘ – nein, Gott hatte sie dazu geleitet, Er, der wirkt, durch wen Er will. Und wir freuen uns für den Herrn, der unsertwegen auf so vieles verzichtet hat, daß Gott Ihm diese Ehre erweisen ließ.

Die Frau von Pilatus

Wenn auch das Volk in seiner Gesamtheit den Herrn ablehnte, so hat Er doch immer wieder Menschen gefunden, die Ihm huldigten und Ihm Liebe erwiesen. Es waren durchweg solche, die Seine Wundertaten erfahren hatten, denen Heilung, Hilfe und vor allem Vergebung zuteil geworden war. Sie würde sicher niemand als tote „Steine“ bezeichnen wollen.

Die Frau von Pilatus aber hatte offensichtlich keine persönliche Beziehung zu Ihm. Und doch hat Gott auch ihren Mund geöffnet zur Warnung ihres Mannes, der im Begriff stand, sich fortreißen zu lassen im politischen Machtspiel und durch seine eigene Ungerechtigkeit: „Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten, denn viel habe ich heute im Traum gelitten um seinetwillen“ (Mt 27,19). Hatte sie immerhin soviel von Ihm gehört und in sich aufgenommen, daß der Gedanke an Ihn sie bis in die Träume verfolgte? War etwa ihr Gewissen beunruhigt? Oder war es nur die Sorge um ihren Mann, den sie ja besser kannte als wir? Wir wissen es nicht.

Die Warnung scheint Pilatus zunächst überhaupt nicht berührt zu haben, doch als er sich am Ende die Hände wusch und sprach: „Ich bin schuldlos an dem Blut dieses Gerechten“, will es uns ein wenig anmuten wie eine Entschuldigung gegenüber seiner Frau. – Eines Gerechten? Ja, du hast es gesagt, Pilatus! Seitdem steht das Wort im Raum, und es wird nie mehr verstummen. Petrus hält es später dem Volk vor, das Pilatus zu seiner Handlung getrieben hatte: „Ihr aber habt den Heiligen und Gerechten verleugnet und gebeten, daß euch ein … Mörder … | geschenkt würde“ (Apg 3,14).

Wie unerwartet und wie bedeutungsvoll war doch die Mahnung dieser fremden Frau in einem Augenblick, als die Treulosigkeit des Volkes ihren Höhepunkt erreichte! Ja, Gott ließ „die Steine schreien“.

Der Hauptmann vor dem Kreuz

Der römische Hauptmann hatte eine Hinrichtung zu befehligen, wahrscheinlich nicht zum ersten Mal. Einiges allerdings war dabei nicht so wie sonst.

Da war die Eile, mit der das Ganze unbedingt noch durchgezogen werden mußte vor diesem Fest der Juden, an dem der Statthalter sich doch sonst eher großzügig zeigte. Und dann hieß es, einer von den dreien habe von sich behauptet, er sei Gottes Sohn. War das denn ein Grund, ihn hinzurichten? Man hatte doch eigentlich nur Gutes über ihn gehört. -Aber Befehl war Befehl, und so nahm das schreckliche Geschehen seinen Lauf.

Doch was war bloß mit diesem einen, dem das mittlere Kreuz zugewiesen wurde? Wenn sonst die Nägel durch Hände und Füße getrieben wurden, dann packte es auch die Widerspenstigsten und Hartgesottensten, dann war es aus mit ihrer Fassung, und der Schmerz trieb sie fast zum Wahnsinn. Aber dieser hier war anders. Wie gefaßt ließ er alles mit sich geschehen; geradezu würdevoll ertrug er die schrecklichen Schmerzen!

Noch vieles bekam der Hauptmann zu sehen:

den Hohn der Führungsschicht des Volkes, sogar der Priesterschaft, die sich doch sonst so fromm gab und sich an der grausigen Richtstätte nicht sehen ließ;

dann diese Finsternis und am Ende das Erdbeben und den lauten, geradezu machtvollen Aufschrei des Gekreuzigten.

Und gleich darauf die bestimmten Worte: „Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!“, mit denen er sein Leben aushauchte, längst bevor die beiden anderen gewaltsam zu Tode gebracht wurden.

Da fürchtete er sich mitsamt der Wachmannschaft und mußte zugeben: „Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn!“ (Mt 27,54).

Ja, er verherrlichte sogar Gott und sagte: „Fürwahr, dieser Mensch war gerecht“ (Lk 23,47).

Was er gesehen hatte, überzeugte ihn: es stimmte eben doch, was der Gekreuzigte über sich gesagt hatte; Er war Gottes Sohn!

So kam dieser Heide, dem Gott völlig fremd war, durch die Begleitumstände der Kreuzigung zu einer besseren Einsicht über den Herrn als das Volk Gottes, das von jeher belehrt war über den verheißenen Messias und dessen Wesenszüge im ganzen Leben des Herrn Jesus mühelos hätte erkennen können.

Der Räuber am Kreuz

Anfangs hatten noch beide Räuber den Herrn geschmäht (Mt 27,44). Da fand sich keine Einsicht über die begangenen Untaten und auch keine Reue angesichts der furchtbaren Qualen, die sie zu erleiden hatten. Nein, wir sind erstaunt, daß sie überhaupt noch die Kraft fanden, den,Mann in der Mitte‘ zu schmähen

– und warum hatten sie eigentlich ein Interesse daran? Satan, der Feind Gottes und der Menschen, hatte sie noch ganz in seiner Gewalt. Sie waren noch immer auf dem „breiten Weg, der zum Verderben führt“, auch wenn die menschliche Gesellschaft sie ausgestoßen hatte.

Doch plötzlich nimmt der eine der beiden Übeltäter Anstoß an den Reden des anderen, der fortfuhr, den Herrn zu lästern mit den Worten: „Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns!“ (Lk 23,39).

Wie kam das? Es war ein Strahl der göttlichen Gnade in sein Herz gedrungen. Durch das Verhalten des Herrn, der sich nicht gewehrt, sondern sogar um Vergebung für Seine Peiniger gebetet hatte, war bei ihm das Gewissen getroffen worden.

So weist er den anderen zurecht wegen seiner Gottlosigkeit und fügt hinzu: ,.Wir empfangen, was unsere Taten wert sind.“ Und dann bezeugt er vor allen: „Dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan.“

Hatte der Komplize in seiner Verhärtung gehöhnt: „Rette dich selbst und uns!“, so begehrte er nun tatsächlich Rettung, und zwar als Gnade: „Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reich kommst!“

Und wo das Gewissen berührt ist und die Gnade begehrt wird, da kann die Liebe antworten: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

Nicht erst bei Seinem Kommen im Reich, nein jetzt schon sollte der begnadigte Sünder dem Herrn folgen ins Paradies Gottes, als erste Frucht der neuen Ernte, die das wahre „Weizenkorn“ dadurch brachte, daß es „in die Erde fiel und starb“ (Joh 12,24).

Dieser Mann blieb kein toter „Stein“. Durch den Glauben an den Gekreuzigten wurde er zu einem „lebendigen Stein“.

Wir wollen uns aufs neue für den Herrn Jesus freuen über den Trost, den Gott Seiner Seele dadurch schenkte.

Wir wollen aber auch nicht vergessen, daß wir, die Gläubigen, alle einst totes Gestein waren wie dieser Räuber, nun aber durch das Evangelium aus dem Steinbruch der Welt herausgebrochen sind, „als lebendige Steine aufgebaut, ein geistliches Haus“ (1. Pet 2,5). E. E. H.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 1999, Seite 354

Bibelstellen: Lk 19, 40

Stichwörter: Frau von Pilatus, Hauptmann, Magier, Schächer