Ihr seid meine Freunde

Sehr verschiedenartig sind die Beziehungen, in die wir als Gläubige zum Herrn gebracht sind. Er ist unser Heiland, unser Sachwalter, Hoherpriester, Hirte und vieles mehr. Und Er ist das alles unabhängig von uns und unserem Verhalten, obwohl wir und unser Tun der Anlass für Ihn gewesen sind, in diese verschiedenen Beziehungen zu uns einzutreten.

Unsere Sünden waren der Anlass, dass Er herabkam und unser Heiland wurde. Und Er kam aus freier Liebe zu uns, nicht weil wir Ihn begehrt hätten. Aus demselben Grund ist Er jetzt unser Sachwalter und unser Hoherpriester. Wir haben Ihn nicht gebeten, unsere Sachen bei dem Vater zu vertreten, aber Er tut es aus freier Liebe und ohne Ermüden.

Ebenso wenig haben wir Ihn gebeten, auf dem Weg durch diese Welt Sorge für uns zu tragen. Aber als der gute Hirte hat Er beständig Sein Auge auf jedes einzelne Seiner Schafe gerichtet. Er weidet und hütet sie. Wenn es auch dem Wolf gelungen ist, die Herde zu zerstreuen, kann doch niemand die wahren Schafe aus Seiner Hand rauben. Er hat sie alle unter Seiner Obhut, und nicht eins entgeht Seiner wachsamen und treuen Hirtenpflege. Mag es zuweilen auch scheinen, als ob sie sich selbst überlassen oder der Willkür des Feindes preisgegeben wären, so ist es in Wirklichkeit doch nicht so. Nicht eins wird vermisst werden am Tag Seiner Herrlichkeit.

In derselben göttlichen Liebe, in der Er für sie starb, als sie noch tot in Sünden waren, vertritt Er sie jetzt bei dem Vater, trägt, pflegt und weidet Er sie. Die Bewahrung aller unserer Beziehungen zu Ihm gründet sich auf Seine unwandelbare Treue. Und darum haben wir eine unerschütterliche Gewähr für unser ewiges Heil und unsere vollkommene Sicherheit.

Aber das Verlangen Seiner Liebe im Blick auf uns geht viel weiter. Er will nicht nur unseren Bedürfnissen entsprechen. Er wünscht mit uns zu verkehren als mit Seinen Freunden. Er will ein inniges und vertrautes Verhältnis mit uns pflegen. Das aber kann nur auf gegenseitigem Vertrauen, auf gegenseitiger Offenheit und Treue beruhen. Er lässt es von Seiner Seite nicht daran fehlen. Er ist den Seinen mit vollkommenem Vertrauen entgegengekommen, und Er interessiert sich für alles, was sie betrifft. Nichts ist Ihm gleichgültig, was ihre Umstände angeht, seien sie persönlicher, häuslicher oder geschäftlicher Art. Seine Treue zu ihnen ist unerschütterlich. Von dem, was in Seinem Herzen für sie war, hat Er ihnen nichts verhehlt. Ihre Freuden und Leiden hat Er zu den Seinen gemacht.

Wie innig nahm Er zum Beispiel teil an dem Wohl und Wehe der Familie in Bethanien! Er ließ sich von Martha bedienen, hörte ihre Beschwerden an und beschwichtigte sie. Die drei Geschwister erfuhren, dass kein Freund, und sei es der beste auf der Erde, so vertrauenswürdig und zuverlässig war wie Er. Und Er blieb es auch in ihrem tiefsten Leid. Oder war Er etwa nicht mehr ihr Freund, als Er Lazarus sterben ließ? Hören wir, was Er sagt: „Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken“ (Joh 11,11). War der Himmel für die beiden Schwestern in diesem Augenblick auch mit schwarzen Wolken verhangen, für den Herrn war er es nicht. Er wusste, was Er tun wollte. Noch wenige Stunden, und Lazarus sollte, zu neuem Leben erstanden, in sein Haus zurückkehren. Aber der Herr nahm gleichwohl den innigsten Anteil an der Trauer der Schwestern und fühlte ihren Schmerz als Seinen eigenen. Er vergoss Tränen. Er weinte mit den Weinenden.

Und wie bei Lazarus, so wird auch das Ende Seiner Wege mit uns herrlich sein. Sind sie für den Augenblick auch noch dunkel und unerforschlich, ihr Ende wird in glänzendster Weise zeigen, dass Er unser treuester und bewährtester Freund ist. Wie tief und innig Er uns liebt, und wie fest und unwandelbar Seine Treue ist, sei es als Hirte oder als Freund, das hat Er ja schon in unumstößlicher Weise dadurch bewiesen, dass Er Sein Leben für uns gelassen hat. „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ „Größere Liebe hat niemand als diese, dass jemand sein Leben lässt für seine Freunde“ (Joh 10,11; 15,13). Sollten wir Ihm also nicht unser völliges Vertrauen schenken?

Auch hat Er uns alles mitgeteilt, was Er von Seinem Vater gehört hat. „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; euch aber habe ich Freunde genannt, weil ich alles, was ich von meinem Vater gehört habe, euch kundgetan habe“ (Joh 15,15).

Aber Er hat dies in der Voraussetzung getan, dass wir uns als Seine Freunde für diese Mitteilungen interessieren würden. Sie enthalten den Vorsatz Gottes, der in erster Linie die Verherrlichung Christi zum Inhalt hat. Dieser Vorsatz, in dem die Welten, die Himmel und die Erde mit allen ihren Herrlichkeiten, nur insofern Bedeutung haben, als die Herrlichkeit Christi in ihnen offenbart werden soll, hat naturgemäß für das Herz Gottes, des Vaters, das größte Interesse, und so auch für Christus. Und nun hat der Herr uns Sein ganzes Vertrauen dadurch bewiesen, dass Er uns diese Mitteilungen vom Vater aus gemacht hat, in der Erwartung, dass wir uns für Ihn, für Seine Verherrlichung, Seine Ehre und Freude interessieren.

Rechtfertigen wir dieses Vertrauen? Oder missbrauchen wir es? Unser praktisches Verhalten ist die beste Antwort auf diese beiden Fragen.

Wenn wir wirklich die Ehre, Seine Freunde genannt zu werden, schätzen und ein wahres Interesse, ein Herz, für Seine Mitteilungen haben, so wird sich das darin kundgeben, dass wir auf dem Weg der Absonderung von der Welt Ihm nachfolgen und Seiner Ankunft entgegensehen. Diese beiden Dinge gehen stets zusammen und sind das Zeichen wahrer Treue und Anhänglichkeit an den Herrn.

Andererseits ist es klar, dass alle, die sich mit der Welt verbinden, nicht verdienen, Seine Freunde genannt zu werden. Wir sagen nicht, dass sie nicht wahre Christen sein können; weit entfernt davon! Aber wie könnte der Herr uns Seine Freunde nennen, wie könnte Er uns Sein Vertrauen schenken, wenn wir, unbekümmert um Seine Ehre und entgegen Seinem Willen, unseren Platz im Lager Seiner Feinde gewählt haben? Lot war ganz sicher ein Gläubiger; aber er wählte seinen Platz in Sodom, und so wurde er nicht Freund Gottes genannt wie Abraham. Dieser bewies seinen Glauben dadurch, dass er sich im Land der Verheißung aufhielt wie in einem fremden; und als er versucht wurde, opferte er seinen Sohn Isaak willig auf dem Altar (Heb 11,9; Jak 2,21-23). Auch lesen wir von solchen, die gleich ihm bekannten, Fremdlinge und ohne Bürgerrecht auf der Erde zu sein, indem sie ein himmlisches Vaterland suchten, dass sich Gott ihrer nicht schämte, ihr Gott genannt zu werden (Heb 11,13-16).

Es ist wirklich eine traurige Sache, wenn wir uns als Gläubige der Untreue gegen unseren treuen, guten Herrn schuldig machen und uns dann damit zu trösten suchen, dass wir doch wahre Christen sind! Dann berührt es uns wenig, dass der Herr sich herablassen will, uns Seine Freunde zu nennen! Dann ist es uns gleichgültig, ob wir Sein Vertrauen besitzen oder nicht, und wir stellen uns in die Reihen derer, die Seinen Namen verunehren! Doch bedenken wir, dass wir uns dadurch einsmachen mit denen, die sich unter dem Deckmantel eines christlichen Bekenntnisses der Heuchelei gegen den Herrn schuldig machen – eins mit denen, deren Teil sein wird mit den Heuchlern! (Mt 24,51). Ja, wir sollten bedenken, dass auch Judas unter dem Deckmantel der Freundschaft den Herrn mit einem KUSS verriet!

Der Herr gebe uns allen Gnade, die Bedingungen aufrichtig zu erfüllen, unter denen Er uns Seine Freunde nennt: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was irgend ich euch gebiete“! Er gebe uns, treu und entschieden auf Seiner Seite zu stehen, getrennt von der Welt und allem,

was Ihn verunehrt, Seine Ankunft erwartend! „Siehe“, ruft Er uns zu, „ich komme bald, und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk ist“ (Off 22,12). B. d. H.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2001, Seite 322

Bibelstellen: Joh 15, 14

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