Er lehrte sie vieles in Gleichnissen

Die drei Türen

(Fortsetzung von Jahrg. 2002, Seite 384)

Der Hirte der Schafe

Aber dann wird die Stellung des Herrn Jesus, des Hirten der Schafe, deutlich. Er war durch die Tür in den Schafhof Israels eingegangen. Das will sagen, Er trug alle Merkmale, die Gott in Seinem Wort niedergelegt hatte und die Ihn als den von Gott Gesandten auswiesen. Man könnte diese Tür die Tür der Heiligen Schriften nennen. Die Propheten vor alters hatten längst die Charakterzüge aufgezeichnet, die den wahren Hirten der Schafe auszeichnen würden. Sie alle fanden und finden im Herrn Jesus, unserem Heiland, ihre vollkommene Erfüllung. Da gab es keine Anforderung Gottes, die Er für Seinen Hirten niedergelegt und der der Herr Jesus nicht entsprochen hätte. Wie ganz anders war Er als die Pharisäer, als jeder andere Mensch!

Es erfüllt uns mit tiefer Freude, wenn wir einige Vorhersagen auf den Hirten aufgreifen und sehen, wie sie in unserem Herrn und nur in Ihm zur Wirklichkeit wurden. Hatte nicht schon der Patriarch Jakob, weit in die Zukunft blickend, in seinem Segen über Joseph von Ihm geweissagt: „Von dannen ist der Hirte, der Stein Israels“ (1. Mo 49,24)? Und der große Knecht Gottes, Mose, hatte dem Volk angekündigt: „Einen Propheten wird euch Gott aus euren Brüdern erwecken, gleich mir“ (Apg 7,37; 5. Mo 18,15). Dass Christus dem Fleisch nach von einer Jungfrau geboren werden sollte, hat schon Jesaja durch den Geist Gottes vorhergesagt: „Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und man wird seinen Namen Immanuel nennen“ (Jes 7,14; vgl. Mt 1,21-23). Auf den Schultern dieses Kindes, dieses Sohnes aus dem Samen Davids, sollte die Herrschaft ruhen; „und man nennt seinen Namen: Wunderbarer, Berater, starker Gott, Vater der Ewigkeit, Friedefürst“ (Kap. 9,6).

Auf wen anders traf das alles zu als nur auf den Herrn Jesus – auf Ihn, der Gott und Mensch ist in einer Person? Aber selbst der Ort Seiner Geburt war vorausgesagt worden, zugleich aber auch, dass dieser Hirte in Wahrheit aus der Ewigkeit kommt. „Und du, Bethlehem-Ephrata, zu klein, um unter den Tausenden von Juda zu sein, aus dir wird mir hervorkommen, der Herrscher über Israel sein soll; und seine Ausgänge sind von der Urzeit, von den Tagen der Ewigkeit her … Und er wird dastehen und seine Herde weiden in der Kraft Jehovas, in der Hoheit des Namens Jehovas, seines Gottes“ (Mich 5,1.3).

Von diesem Weiden der Schafe durch den Hirten hatte auch Jesaja geweissagt und dieses liebliche Bild gezeichnet: „Er wird seine Herde weiden wie ein Hirt, die Lämmer wird er in seinen Arm nehmen und in seinem Busen tragen, die Säugenden wird er sanft leiten“ (Jes 40,11). Ähnlich hatte auch Hesekiel gesprochen: „Denn so spricht der Herr, Jehova: Siehe, ich bin da, und ich will nach meinen Schafen fragen und mich ihrer annehmen. Wie ein Hirt sich seiner Herde annimmt…“ (Hes 34,11ff.)

Eine sehr ernste Weissagung auf den Hirten, dessen Süh-nungstod andeutend, sprach Sacharja aus: „Schwert, erwache wider meinen Hirten und wider den Mann, der mein Genösse ist!, spricht Jehova, der Heerscharen; schlage den Hirten, und die Herde wird sich zerstreuen“ (Sach 13,7).

Trefflich eignen sich die Worte des Philippus zu Nath-anael ganz zu Anfang des Johannes-Evangeliums als Zusammenfassung des Gesagten. Als er diesen frömmen Is-raeliten „fand“, nachdem er selbst von Jesus „gefunden“ worden war, sagte er zu ihm in freudiger Überraschung: „Wir haben den gefunden, von dem Mose in dem Gesetz geschrieben hat und die Propheten, Jesus, den Sohn des Joseph, den von Nazareth“ (Joh 1,45). Ja, diese Person entsprach in allem dem, was Mose und die Propheten über den Kommenden geredet hatten. So war Jesus durch die Tür in den Hof der Schafe Israels eingegangen. Nur Er konnte es, und nur Er tat es. Er ist der Hirte der Schafe.

Wie der Türhüter die Tür auftat

Doch damit nicht genug. Es gab auch einen „Türhüter“, der dem Hirten der Schafe den Eintritt in den Schafhof ermöglichte und Seinen Weg ebnete.

„Diesem öffnet der Türhüter, und die Schafe hören seine Stimme …“ (Joh 10,3).

Auch dieser Vorgang ist überaus kostbar. Wenn wir ihn verfolgen und dem Handeln des „Türhüters“ zuschauen, werden unsere Herzen weit für unseren Herrn Jesus und für das gnädige Walten Gottes im Blick auf Ihn. Gott selbst war es, der Heilige Geist, der sich herabließ, das Werk eines Türhüters zu tun und dem Hirten die Tür in den Schafhof zu öffnen. In großer Gnade und in Seiner Vorsehung gestaltete Gott die verschiedenen Umstände derart, dass sie es dem Herrn Jesus möglich machten, ungehindert hereinzukommen und mit Seinen Schafen zu verkehren.

Weise Männer, Magier vom Morgenland, wiesen als Erste auf den neu geborenen König der Juden hin. Sie hatten Seinen Stern im Morgenland gesehen und sein Erscheinen recht gedeutet (Mt 2,2).

Als dem Kind Jesus von dem König Herodes ernste Gefahr für Leib und Leben drohte, war es ein Engel des Herrn, der Joseph die Weisung gab, das Kind und Seine Mutter zu sich zu nehmen und miteinander nach Ägypten zu fliehen (Mt 2,13). Wahrlich, „der Hüter Israels, nicht schlummert noch schläft er“ (Ps 121,4)!

Ein Engel des Herrn besuchte Hirten, die in der Nacht auf freiem Feld Wache hielten über ihre Herde. Und als die Herrlichkeit des Herrn sie umleuchtete, hörten sie die großartige Botschaft des Engels: „Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die für das ganze Volk sein wird; denn euch ist heute in der Stadt Davids ein Erretter geboren, welcher ist Christus, der Herr“ (Lk 2,8-11).

Von Gott belehrt, hieß der treue Überrest in Israel den Hirten mit großer Freude im Schafhof willkommen. Der greise Simeon, der lange auf den Trost Israels gewartet hatte, nahm das kleine Kind im Tempel auf die Arme, lobte Gott und sprach: „Nun, Herr, entlässt du deinen Knecht nach deinem Wort in Frieden; denn meine Augen haben dein Heil gesehen, das du bereitet hast vor dem Angesicht aller Völker: ein Licht zur Offenbarung für die Nationen und zur Herrlichkeit deines Volkes Israel“ (V. 29-32). Auch die Prophetin Anna „trat zu derselben Stunde herzu, lobte Gott und redete von ihm zu allen, die auf Erlösung warteten in Jerusalem“ (V. 38).

Ein besonderes Beispiel dafür, wie der Heilige Geist Herzen für den Hirten öffnete und Ihm so Einlass verschaffte, finden wir in Johannes dem Täufer. Ihm war es vorbehalten, Jesus, als dieser etwa dreißig Jahre alt war, öffentlich als das Lamm Gottes und als den Sohn Gottes zu bezeugen: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt! Dieser ist es, von dem ich sagte: Nach mir kommt ein Mann, der den Vorrang vor mir hat, denn er war vor mir. Und ich kannte ihn nicht; aber damit er Israel offenbar werde, deswegen bin ich gekommen, mit Wasser taufend. Und Johannes zeugte und sprach: Ich schaute den Geist wie eine Taube aus dem Himmel herniederfahren, und er blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, der sprach zu mir: Auf wen du den Geist herniederfahren und auf ihm bleiben siehst, dieser ist es, der mit Heiligem Geist tauft. Und ich habe gesehen und habe bezeugt, dass dieser der Sohn Gottes ist“ (Joh 1,29-34).

Ja, Gott öffnete dem guten Hirten die Tür, und die Schafe hörten Seine Stimme.

Die Tür der Schafe

Der zweite Teil des dritten Verses von Johannes 10 führt uns zu einem neuen Gedanken und damit bereits auch zur zweiten Tür dieses Gleichnisses.

Und er ruft seine eigenen Schafe mit Namen und führt sie heraus“ (Joh 10,3).

Es berührt unser Herz, wenn wir sehen, dass der Hirte niemand anderes zum eigentlichen Gegenstand Seines Herzens hat als Seine Schafe. Das ist sehr köstlich. Er ist mit jedem Einzelnen von ihnen vertraut, kennt und ruft jedes einzelne Schaf mit Namen. Sein ganzes Interesse gilt Seinen Schafen. Sie sind Sein, Er tut alles für sie, und in unermesslicher Liebe zu ihnen lässt der gute Hirte sogar Sein Leben für die Schafe (V. 11). Ob wir an Matthäus, den Zöllner, denken oder an Maria Magdalene, von der Er sieben Dämonen ausgetrieben hatte; ob wir an die Sünderin aus Samaria denken oder an einige Fischerleute bei ihren Netzen oder an Zachäus, den Zöllner -sie alle hörten die Stimme des guten Hirten, und in der einen oder anderen Weise rief Er sie alle „mit Namen“, und sie folgten Ihm (V. 4).

So waren es im Ganzen drei Merkmale, die Ihn als den wahren Hirten auszeichneten und beglaubigten:

1) Er betrat den Schafhof „durch die Tür“; Er stieg nicht über die Mauer, wie es Diebe und Räuber tun.

2) Wenn Er durch die Tür kam, so war es, weil der Türhüter Ihm auftat.

3) Seine Schafe erkannten Ihn an Seiner Stimme, sie gaben Seiner Stimme Gehör und folgten Ihm nach.

„Außerhalb des Lagers“

Aber dann geschieht etwas völlig Unerwartetes, etwas ganz Neues: „Er führt sie heraus“ (V. 3). Woraus? Aus dem Schafhof. Es ist wahr: Er selbst war „durch die Tür“ in den Schafhof gekommen. Wir haben gesehen, was das bedeutet. Jetzt aber führt Er Seine Schafe heraus und wird dabei selbst zur „Tür der Schafe“ (V. 7). Das ist die zweite in diesem Gleichnis erwähnte Tür: die Tür der Schafe, durch die die Schafe das verdorbene Judentum verlassen sollten. Dass der Hirte selbst die Schafe herausführt und vor ihnen hergeht, unterstreicht die Autorität dieser göttlichen Person, dieses göttlichen Führers.

Denn wir müssen bedenken, dass das Gesetz und seine Verordnungen durch Gott selbst eingesetzt worden waren. Aber jetzt brach eine neue Epoche (Haushaltung) in den Wegen Gottes mit den Menschen an – eine Epoche, die nicht mehr durch das Gesetz vom Sinai charakterisiert ist. Nicht, dass das Gesetz als solches seine Gültigkeit verloren hätte. Nein, aber es ist eine neue Epoche, mit der wir es hier zu tun haben: mit dem Wechsel vom toten Judentum zum wahren Christentum. Von nichts Geringerem spricht nämlich der Herr. Doch war zuvor Sein Sühnungstod am Kreuz nötig (V. 11.15.17.18), damit all das Wirklichkeit werden konnte, was Er hier und in den folgenden Versen vor Seinen Zuhörern entfaltet.

Es ist wichtig, dass wir das alles klar verstehen lernen. Als der Herr in das Seine kam, zu der von Ihm geliebten Nation, nahmen die Seinen Ihn nicht an (Kap. 1,11). Sie hassten Ihn vielmehr und brachten Ihn schließlich zu Tode – ihren eigenen Messias. So sehr war das Judentum zu reinem Formalismus erstarrt, dass Gott keine Rolle mehr darin spielte, weshalb auch die „Feste Jehovas“ zu bloßen „Festen der Juden“ herabgewürdigt worden waren (Kap. 6,4; 7,2). Was nützte es, wenn die Juden äußerlich Gott dienten im Halten von bestimmten Geboten und Tagen, Seinen Sohn aber verwarfen?

Im Johannes-Evangelium wird der Herr Jesus von Anfang an als der Verworfene gesehen. Wenn das Volk Ihn verwarf, wenn das Judentum zu einem abtrünnigen System geworden war – was tat dann der Hirte, der um Seine Schafe besorgt war? Reformierte Er das Judentum? Versuchte Er, es zu verbessern oder zu erneuern? Nein, Er führte Seine eigenen Schafe aus diesem toten System heraus. Äußerst wichtiger Vorgang!

„Wenn er seine eigenen Schafe alle herausgeführt hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen. Dieses Gleichnis sprach Jesus zu ihnen; sie aber verstanden nicht, was es war, das er zu ihnen redete. Jesus sprach nun wiederum zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür der Schafe“ (Kap. 10,4-7).

Weil die Schafe die Stimme des Hirten kennen und Ihm vertrauen, folgen sie Ihm auf einem Weg, der für sie völlig fremd ist. Sie müssen sich auch nicht mit den Gedanken der Fremden vertraut machen. Es reicht, dass sie die Stimme des Hirten kennen. Die Stimme der Fremden kennen sie nicht, darum folgen sie ihnen auch nicht.

Was für ein einfaches, aber sicheres Bewahrungsmittel stellt der Herr hier vor unser Herz! Wir müssen nicht mit dem Bösen vertraut sein, um davor bewahrt zu bleiben. Es genügt, dass wir das Gute, dass wir Christus kennen. „Ich will aber“, sagt später der Apostel Paulus, „dass ihr weise seid zum Guten, aber einfältig zum Bösen“ (Röm 16,19). Darin liegt unsere Weisheit: dass wir dem Herrn Jesus folgen, weil wir Ihm angehören und Seine Stimme kennen.

Beachten wir die Präsensform (Gegenwartsform) in dem, was von dem Hirten im Blick auf Seine Schafe gesagt wird: Er ruft sie mit Namen – Er führt sie heraus -Er geht vor ihnen her. Der Herr spricht hier in abstrakter Form, das heißt, Er spricht von dem, was ein guter Hirte immer, zu jeder Zeit, tut.

Damals führte Er den gläubigen Überrest aus dem jüdischen System heraus. Dabei ist Er nicht nur der „gute Hirte“, sondern Er ist auch die „Tür der Schafe“, durch die die Treuen den Schafhof verlassen können. In Ihm selbst liegt die Ermächtigung, die Autorität für diesen ernsten Schritt. Das ist von äußerster Wichtigkeit. Wäre Er nicht die „Tür der Schafe“ – keines Seiner Schafe damals oder heute hätte je das Recht, so zu handeln.

Neu war indes der Grundsatz der Trennung vom Bösen nicht. Schon in alttestamentlicher Zeit bestand er. Was tat Mose, als der Name Jehovas durch das goldene Kalb geschändet worden und das Volk dem Gericht Gottes verfallen war? „Und Mose nahm das Zelt und schlug es sich auf außerhalb des Lagers, fern vom Lager, und nannte es: Zelt der Zusammenkunft. Und es geschah, ein jeder, der Jehova suchte, ging hinaus zu dem Zelt der Zusammenkunft, das außerhalb des Lagers war“ (2. Mo 33,7). Dort konnten sie die Gegenwart Jehovas erfahren, denn es heißt weiter: „Und es geschah, wenn Mose in das Zelt trat, so stieg die Wolkensäule hernieder und stand am Eingang des Zeltes; und Jehova redete mit Mose“ (V. 9). Mose, der treue Knecht Gottes, führte also die Treuen hinaus, außerhalb des von Götzendienst befleckten Lagers; und jeder, der Jehova suchte, ging zu ihm hinaus.

Im Prinzip finden wir da genau dasselbe wie in Johannes 10. Wenn das Volk, das in einer gewissen und sei es auch nur äußeren Beziehung zu Gott steht, sich von Ihm losgesagt hat, wenn es in Lehre und Praxis Zustände duldet, die den Gedanken Gottes völlig entgegen sind, dann führt Gott die, die Ihn suchen und Ihm auch in böser Zeit treu sein wollen, davon weg – hin zu Sich, „außerhalb des Lagers“.

Auch heute ist es nicht anders. Werden wir nicht an die Stelle in Hebräer 13 erinnert, wo derselbe Ausdruck „außerhalb des Lagers“ vorkommt? „Deshalb lasst uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend“ (V. 13). Gewiss, in erster Linie weist das „Lager“ auf das leblose, korrupte (moralisch verdorbene) Judentum hin, das die gläubig gewordenen Juden, an die der Brief gerichtet ist, nun endgültig verlassen sollten. Doch diese Anweisung gilt nicht nur den hebräischen Gläubigen, sondern dem Grundsatz nach allen Gläubigen zu allen Zeiten. Heute müssen wir unter dem „Lager“ die religiösen Systeme der Christenheit verstehen, die ihre weltlichen Heiligtümer und von Menschen eingesetzte Ordnungen und Priester haben. Wir müssen sie verlassen und zu Jesus hinausgehen, auf den wahren christlichen Boden. Das Ziel der Absonderung vom Bösen ist Christus selbst: Wir gehen hinaus zu Ihm. Absonderung ist also nicht nur eine negative, sondern auch eine höchst positive Sache – wenn sie das richtige (hier genannte) Ziel hat.

(Wird fortgesetzt)
ChB

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2003, Seite 22

Bibelstellen: Joh 10, 3-7

Stichwörter: Hirte, Tür, Türhüter