Christus als Erlöser, Blutsverwandter und Rächer

(nach Gedanken von J.G.B.)

Ein Wort und drei Begriffe

Manche Feinheiten des biblischen Grundtextes können in einer Übersetzung nicht mit der wünschenswerten Genauigkeit wiedergegeben werden, weil der Wortschatz einer Sprache vielfach nicht deckungsgleich ist mit dem einer anderen Sprache. Das heißt, es gibt für ein Wort in der einen Sprache nicht immer nur ein Wort in der anderen. Manchmal muss der Übersetzer eine Auswahl treffen zwischen verschiedenen Wörtern, und manchmal gibt es gar keine direkte Entsprechung.

Schon vor 150 Jahren haben Ausleger auf ein Beispiel für solch eine Feinheit hingewiesen, die in der unterschiedlichen Übersetzung des hebräischen Wortes „ga’al“ ihren Niederschlag gefunden hat. Dieses Wort wird in der Elberfelder Übersetzung je nach dem Zusammenhang, in dem es vorkommt, auf dreierlei Weise wiedergegeben:

„Löser“ bzw. „Erlöser“: Das ist die Bedeutung bei den weitaus meisten Vorkommen dieses Wortes, von denen hier stellvertretend für viele andere nur 3. Mose 25,25.26; Hiob 19,25; Psalm 19,14; Jesaja 44,6.24 genannt werden sollen.

„Blutsverwandter“: So wird dieses Wort in 4. Mose 5,8; Ruth 2,20 und 3,9.12 übersetzt.

„(Blut-) Rächer“: In dieser Bedeutung kommt das Wort z. B. in 4. Mose 35,12.24 vor.

Die Schwierigkeit ist offensichtlich die, dass es für diese drei Begriffe im Hebräischen nur ein Wort gibt. Es geht jedenfalls um eine Person innerhalb einer Großfamilie in Israel, die die Rechte und Pflichten ihres nächsten Verwandten wahrnehmen sollte, wenn dieser nicht mehr in der Lage war, sie selbst zu erfüllen. Doch so verschieden diese Aufgaben auch waren – wenn wir über die geistliche Bedeutung nachdenken, werden wir finden, dass es nur eine Person gab und gibt, die alle drei Eigenschaften in sich vereinigt: der Mensch Jesus Christus, unser Herr, der zugleich Gottes Sohn ist

Die Pflichten des Blutsverwandten

Unter dem Gesetz war der Blutsverwandte zu zwei Diensten verpflichtet: erstens das Erbteil seines „Bruders“ zu „lösen“, wenn dieser sich verschuldet hatte, oder diesen selbst loszukaufen, wenn er in Knechtschaft geraten war; zweitens das Böse zu „rächen“ (zu sühnen), das seinem Bruder – sei es z. B. durch Gefangennahme oder Tod – angetan worden war.

Auf uns heute angewandt, müssen wir sagen: Der Herr Jesus hat in Seiner reichen Gnade diese beiden Dienste für die Seinen übernommen. Er erlöste sie von den rechtmäßigen Ansprüchen Gottes durch Sein eigenes Opfer; aber nicht nur das, sondern Er befähigte sie auch, ihr Erbe, das Er für sie erworben hat, in Besitz zu nehmen. Zugleich übte Er Rache an dem Feind Gottes und der Menschen, dem Teufel, und befreite sie aus seiner Gewalt, denn Satan benutzte den Tod als Machtmittel über den gefallenen Menschen (Heb 2,14.15).

Wenn wir nur die Anordnungen des Gesetzes hätten, wie sie in den Büchern Mose zu finden sind, würden wir in den Vorschriften über den „Löser“ nicht mehr als eine Person aus der menschlichen Familie erkennen, einen „Bruder“, der teilhatte an Fleisch und Blut der „Kinder“ (womit zunächst Israel, der „Same Abrahams“, gemeint ist; Heb 2,10-17). Diese Voraussetzung nämlich musste der Löser wenigstens erfüllen, sonst hätte er überhaupt nichts für seinen Bruder tun können.

In diesem Sinn ist Christus auch der „Blutsverwandte“ für Israel geworden, als Er Fleisch und Blut, d. h. die menschliche Natur, annahm und von einer Jungfrau geboren wurde, und zwar in dieses Volk hinein (Röm 9,5).

Der HERR, der Erlöser und Fürsprecher Seines Volkes

Aber wenn wir weitergehen, das Gesetz verlassen und uns den Propheten zuwenden, kommen wir zu einer weiteren Tatsache: Wir sehen, dass dieser Blutsverwandte und Löser „der HERR der Heerscharen“, also Gott selbst ist. Der Erlöser Seines Volkes ist somit Gott und Mensch in einer Person. In den Psalmen und den Propheten wird dieses Bild immer wieder aufgegriffen; nicht als eine Lehre, die erst abgeleitet werden muss, sondern als eine unbestreitbare Wahrheit, die einfach vorausgesetzt wird.

Darin liegt etwas sehr Gesegnetes – es ist wirklich gewaltig, überwältigend herrlich und von weitreichender Bedeutung. Es lässt das Geheimnis der Person Christi vorausahnen, und das in einer völlig ungekünstelten und nachvollziehbaren Weise. Und weil die Wesenszüge des Menschen und die Natur Gottes in der Person dieses Blutsverwandten vereinigt sind, erfüllt Er alle Voraussetzungen, um nicht nur die Sache Israels mit ihrem „Widersacher“, sondern der Menschheit überhaupt mit Gott als ihrem Richter für jeden, der an den Erlöser Jesus Christus glaubt, „zu Ende zu führen“ (Mt 5,25; Rt 3,18).

Zu Gott zurückgebracht

Der Gläubige der Gnadenzeit ist jetzt ebenso rechtmäßig zu Gott zurückgebracht worden durch das Blut Christi, wie Adam im Anfang zu Recht aus der Gegenwart Gottes verbannt worden ist wegen seiner Sünden. Adam konnte erst wieder Gott nahen, als er die gute Botschaft von dem kommenden Erlöser gehört und geglaubt hatte: dass nämlich der „Same der Frau“ (Christus) der „Schlange“ (Satan) den Kopf zermalmen sollte. Darauf durfte er sich ebenso verlassen, wie er sich zuvor fürchten musste, als er die Richterstimme Gottes gehört hatte und sich deshalb zwischen den Bäumen des Gartens versteckte. Gott selbst gab ihm das Recht dazu, denn Er „machte Adam und seiner Frau Röcke von Fell und bekleidete sie“ (1. Mo 3,21). An diesen „Samen der Frau“ durfte sich Adam in dem festen Glauben klammern, dass Er der „Blutsverwandte“ sein würde – ein Mensch ebenso von Fleisch und Blut wie er selbst. Denn der von Gott Angekündigte sollte den Teufel besiegen, aber dieser würde Ihm „die Ferse zermalmen“ – eine erste Andeutung vom Leiden und Sterben des Erlösers am Kreuz von Golgatha.

Das Geheimnis des Blutsverwandten ist also von Anfang an in Vorbildern angedeutet worden. Auch andere Geschehnisse in der Frühzeit der Menschheit, z. B. die Opferung Isaaks (1. Mo 22), illustrieren das; und alle zusammen stellen, wenn auch eingebettet in das Gesetz, die Qualitäten dieser Person dar, auf die schon vor dem Gesetz hingewiesen worden war.

Jesus als „Rächer“ und „Erlöser“ im Hebräerbrief

Wenn wir diesen Gedanken noch ein wenig weiter verfolgen, können wir beobachten, dass uns Jesus im Hebräerbrief sowohl als der Rächer als auch der Erlöser vorgestellt wird. Dort wird Er uns gezeigt als Derjenige, der in der Segensfülle Seiner Person tätig wurde, nämlich als Gott und Mensch, der von Ewigkeit her der „Genösse des HERRN“ war und „in der Fülle der Zeit“ der „Blutsverwandte“ des Menschen geworden ist.

In Kapitel 2 zum Beispiel finden wir Ihn als den Rächer: „… damit er durch den Tod den zunichte machte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreite, die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren“ (V. 14.15). Das ist die Handlungsweise eines Rächers. Aber dafür hat Er Fleisch und Blut angenommen und Sich selbst, obwohl Er Sohn war – also wahrer Gott -, auf diese Weise zu unserem wahren Blutsverwandten gemacht.

In Kapitel 10 sehen wir Ihn als Erlöser. Er zahlt das Lösegeld. Er kauft uns los von Dem, der den völlig rechtmäßigen Anspruch an und auf uns hatte. „Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (V. 14). Aber Er tat das aus eigenem Antrieb, ohne Einflussnahme einer übergeordneten Macht. Denn Er wird in diesem Schriftabschnitt gesehen als der Eine, der aus freiem Entschluss vor den Thron Gottes tritt und spricht: „Siehe, ich komme“; und dann opfert Er sich Gott „durch den ewigen Geist“ und „ohne Flecken“ (Kap. 9,14). Dazu wurde Ihm ein Leib bereitet, ein menschlicher Körper, gebildet im Schoß der Jungfrau, aus Fleisch und Blut, wie es den „Kindern“ entsprach (vgl. Ps 139,13.14; Gal 4,4). Und so hat Er in Seiner Person sowohl Gott Genugtuung verschafft auf dem Altar als auch den Ansprüchen des Gerichtsthrones Gottes Genüge getan mit dem Ergebnis, dass jetzt auch das Gewissen des Glaubenden frei gemacht ist.

Das sind wunderbare Ausblicke, zu denen uns die Betrachtung des Blutsverwandten im Alten Testament führt, wenn das alles auch erst im Neuen Testament so deutlich offenbart ist. Und diese Belehrungen finden sich genau in dem Abschnitt, wo man sie natürlicherweise auch erwartet – in dem Brief, den der Heilige Geist an jene Gläubigen aus dem alttestamentlichen Gottesvolk gerichtet hat, die unter dem Gesetz gewesen waren.

Dieser „Genösse des HERRN“ (Sach 13,7) und Blutsverwandte des Menschen ist es, der in Seiner Person als der Christus, von Gott gesalbt und bestätigt, den Fall des in die Sklaverei Satans und der Sünde verstrickten Menschen übernahm. Die Grundlage dafür ist niemand und nichts anderes als Seine Person und Sein Werk auf Golgatha.

J.B.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2004, Seite 204

Stichwörter: Blutsverwandter, Erlöser, Rächer