Eine Gefahr für die Versammlung Gottes

Die Entstehung der Versammlung Gottes wird in Apostelgeschichte 2 berichtet. In den Kapiteln 3 und 4 sehen wir sie in der vollen Kraft, die für ihre Anfangszeit so bezeichnend war. Doch dann wird in Apostelgeschichte 5 das erste Böse verzeichnet, das in ihrer Mitte hervortrat. Es war die Sünde der Anmaßung, das heißt der Vorspiegelung einer höheren geistlichen Ebene und größeren Hingabe als wirklich vorhanden war.

Viele verkauften ihren Besitz und weihten den Erlös dem Herrn. Auch Ananias und Sapphira verkauften ein Feld, aber sie gaben nur einen Teil des Erlöses, als ob es der ganze sei. Ananias handelte verlogen, und Sapphira bekannte sich zu der Lüge. Sie strebten danach, in höherem Maß himmlisch gesinnt zu erscheinen, als sie es wirklich waren. Die Anmaßung eines höheren geistlichen Zustands war also die erste Sünde in der Geschichte der Versammlung, die uns mitgeteilt wird. Sie wird auch die letzte sein, wie wir noch sehen werden.

Die Sünde der Anmaßung begann bei Einzelpersonen und ist eine Gefahr geblieben, die jeden Christen als Einzelnen bedroht. Das wird in den Briefen des Neuen Testaments sehr deutlich gemacht. Hierfür einige Beispiele:

– „Denn ich sage … jedem, der unter euch ist, nicht höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt“ (Rom 12,3).

– „Wenn jemand meint, etwas erkannt zu haben, so hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen soll“ (1. Kor 8,2).

– „Daher, wer zu stehen meint, sehe zu, dass er nicht falle“ (1. Kor 10,12).

– „Wenn jemand meint, ein Prophet zu sein oder geistlich …“ (1. Kor 14,37).

– „Denn wenn jemand meint, etwas zu sein, da er doch nichts ist, so betrügt er sich selbst“ (Gal 6,3).

Damals war die Zeit, als es tatsächlich Männer gab, die das, was Gott betrifft, „kannten“, soweit das je von Menschen gesagt werden kann. Da gab es solche, die „standen“, die „Propheten“ und „geistlich“ waren und deshalb nach Gottes Einschätzung „etwas waren“ -aber das waren gerade die, die mit glücklichem Herzen ganz von Christus und dem Dienst für Ihn in Anspruch genommen waren, ohne an sich zu denken. Solche, die etwas „meinten“ und dadurch Ansprüche für sich erhoben, handelten durchweg aus Anmaßung. Das lässt die Sprache des Apostels erkennen. Bei zweien der angeführten Beispiele sagt er offen: „Er weiß nichts“; „er ist nichts“; bei den anderen zieht er klar den Schluss, dass sie keineswegs das alles waren, wofür sie sich hielten.

Aber am eindrucksvollsten wird das Problem, das uns beschäftigt, veranschaulicht durch die Worte des Herrn an die sieben Versammlungen in Kleinasien, die wir in Offenbarung 2 und 3 finden. Hier wird in sechs von sieben Fällen auf die Sünde der Anmaßung angespielt.

– Bei Ephesus spricht Er von denen, „die sich Apostel nennen und es nicht sind“ und kennzeichnet sie als „Lügner“;

– bei Smyrna von denen, „die sagen, sie seien Juden und sind es nicht, sondern eine Synagoge des Satans“;

– bei Thyatira von der „Frau Jesabel, die sich eine Prophetin nennt und lehrt und verführt …“;

– zu Sardes sagt Er: „Du hast den Namen, dass du lebst und bist tot“;

– bei Philadelphia spricht Er von der „Synagoge des Satans, von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind es nicht, sondern lügen“;

– und zu Laodizea sagt Er: „Du sagst: Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts – und du weißt nicht, dass du der Elende und Jämmerliche und arm und blind und nackt bist“.

Beachten wir bei diesen Schriftstellen Folgendes:

Zuerst einmal handelt es sich bei denen, die etwas für sich beanspruchen, um eine Schar, nicht um Einzelne. Es sind „sie“, die so sagen. Jesabel als Frau ist sinnbildlich zu verstehen und stellt nicht nur eine Einzelperson dar. Bei Sardes und Laodizea heißt es zwar „du“; aber damit wird der Engel angeredet, der die Versammlung darstellt! Es geht also im Wesentlichen um die ganze Versammlung mit Ausnahme eines kleinen Überrests.

Dann heißt es hier „sagen“ – nicht nur „denken“ oder „meinen“. Das Böse hatte sich seit der Zeit der Briefe des Apostels Paulus gesteigert. Der Augenblick war gekommen, wo man diese Anmaßungen nicht mehr nur im Sinn hatte, sondern sie vor den Ohren aller kühn aussprach.

Weiter zeigt sich bei prophetischer Betrachtung dieser Briefe an die Versammlungen, dass das Böse sich im Lauf der Geschichte vertieft.

In Ephesus gab es Probleme mit einer kleinen Gruppe von Männern, die den Anspruch erhoben, Apostel zu sein. Dieser Anspruch konnte besonders leicht täuschen in einer Zeit, als die meisten echten Apostel den Märtyrertod erlitten hatten und das Wort Gottes noch nicht ganz vollendet war. Aber derselbe gefährliche Anspruch ist auch in unserer Zeit zugunsten von Männern erhoben worden, die als „geistlich“ gelten und deren Äußerungen in dazu einberufenen Treffen deshalb als fast, wenn nicht gar als ebenso maßgebend, anerkannt werden sollen wie das Wort Gottes.

Im Zeitalter von Smyrna gab es Schwierigkeiten und erbitterten Widerstand vonseiten einer gewissen Gruppe, die eine Sonderstellung ähnlich der jüdischen beanspruchte. Sie waren wirklich eine „Synagoge“, aber sie war von Satan. Sie waren Anhänger eines religiösen Formenwesens ohne Wirklichkeit.

Bei Thyatira geht es noch einen deutlichen Schritt abwärts. Jesabel nannte sich eine Prophetin und stellt, wie wir glauben, die römische Priesterschaft dar, die das alleinige Recht beansprucht, die Schriften auszulegen und damit den Willen Gottes auszusprechen. Jesabel wird geduldet. Die Träger der Anmaßung innerhalb der Versammlung sind hier im Besitz der Macht.

Aus diesem Zustand geht Sardes hervor. Der Protestantismus – im weitesten Sinn des Wortes – hat ein solideres äußeres Bekenntnis und hat sich einen gewissen Ruf erworben: einen „Namen“. Dennoch wird er als tot bezeichnet. Diese ursprünglich von Gott gewirkte Bewegung verband sich bald mit weltlichen Mächten und politischen Bestrebungen, so dass ihr eigentliches Leben sich sowohl in Kriegen als auch in inneren Streitereien verlief. Es geht hier nicht mehr um die Anmaßungen einer Gruppe; vielmehr wird die ganze Versammlung angeklagt, wenn auch noch nicht alles tot erscheint.

In Philadelphia sehen wir einen kleinen Schimmer der Klarheit und Echtheit, die die Versammlung im Anfang kennzeichnete. Hier ist die Anmaßung noch einmal auf eine Gruppe beschränkt, und zwar wieder außerhalb ihres Schoßes. Wieder treten die religiösen Formalisten auf, die so gern einen Platz auf der Erde beanspruchen.

In Laodizea erreichen wir den traurigen Höhepunkt. Die ganze Versammlung ist von dem Übel befallen, wie es bei Sardes war. Aber dort ging es allein um den Anspruch, zu leben, während hier die ganze Versammlung den Anspruch erhebt, ein Muster von Vollkommenheit zu sein. Der Anspruch gipfelt in den Worten: „Ich bedarf nichts“. Könnte die Anmaßung weiter gehen? Und könnte das Verdammungsurteil des Herrn strenger sein?

Beachten wir noch eines. In jedem dieser Fälle weist der Herr, der die Versammlungen mit Augen gleich einer Feuerflamme prüft, die Ansprüche zurück, und das in der schärfsten Sprache. In keinem einzigen Fall gibt es auch nur die geringste Grundlage für das, was sie beanspruchen. Im Gegenteil: „Lügner“, „Synagoge des Satans“, „tot“, „der Elende und Jämmerliche und arm und blind und nackt“ – das sind einige der Ausdrücke, die Er gebraucht.

Das alles redet doch eine sehr deutliche Sprache zu uns. Wir leben in einer Zeit, die immer mehr den Charakter von Laodizea annimmt. Und mehr noch: Viele von uns, denen es darum ging, in der Wahrheit zu wandeln und unser gemeinsames Leben als Versammlung in Übereinstimmung mit der Ordnung zu führen, die in den Briefen des Apostels Paulus niedergelegt ist, wissen wohl, wie sehr der Geist der Anmaßung auch hier um sich gegriffen hat und auch wir selbst davon angesteckt sein können.

Wenn wir zurückblicken über die Jahre, haben wir doch Ansprüche gehört wie „geistlich“ zu sein oder „ein neuer Teig“ oder „Gideons Dreihundert“. Oder auch „das neue Licht“ oder „die notwendige Wahrheit“ zu besitzen oder „die Lade des Zeugnisses zu tragen“ oder „für Gott einzutreten“.

Es ist wahr – und dafür wollen wir Gott danken – dass es auch heute geistlich gesonnene Heilige gibt, die, so weit sie es vermögen, für Gott eintreten, Sein Zeugnis tragen und mit der notwendigen Wahrheit dienen. Er kennt sie alle, und sie haben Seine verborgene Billigung, ebenso wie sie Seine öffentliche Anerkennung finden werden am kommenden Tag, wie Offenbarung 3,9 zeigt. Aber wir wollen uns vor dem Versuch hüten, sie mit Namen zu nennen, damit wir nicht selbst in die Torheit verfallen, uns so zu nennen. Lasst uns nie vergessen, dass der Anspruch, das eine oder andere zu sein oder zu haben, der sichere Beweis dafür ist, dass wir nichts von alledem sind oder haben.

Was aber geziemt sich nun im Zeitalter von Laodizea? Genau das, was in den betreffenden Versen (Off 3,14-22) genannt wird. Als Erstes den Herrn so anerkennen, wie Er sich uns hier vorstellt. Er ist hier der „Amen“, der Eine, der alle Absichten Gottes erfüllt und ihnen entspricht. Er ist der „treue und wahrhaftige Zeuge“, die völlige Darstellung alles dessen, was Gott ist, wo die Versammlung in ihrem Zeugnis versagt hat. Er ist „der Anfang der Schöpfung Gottes“, denn in Ihm, dem Auferstandenen aus den Toten, hat Gott einen neuen Anfang gemacht. Er und nicht die Versammlung ist die Grundlage von allem. Damit ist alle menschliche Anmaßung zerstört.

Zweitens sollten wir die Züchtigung annehmen, von der in Vers 19 gesprochen wird, und mit Eifer – dem Gegenteil von Lauheit – in unseren Herzen Buße tun. Buße bewirkt nämlich eine dauerhafte und bleibende Errettung von dem, worüber Buße getan wird, wie 2. Korinther 7,10 zeigt.

Drittens sollten wir, während wir Ihn an unserer Herzenstür anklopfen hören, diese Tür öffnen, damit Er eintreten kann. Dann wird eine köstliche Gemeinschaft himmlischer Art zu Stande kommen. Er wird sich mit uns zu Tisch begeben, um unsere Belange zu verstehen, und wird uns zu Tisch mit sich erheben, damit wir das, was Sein ist, genießen und darauf eingehen.

Wenn wir irgendwie diese Erfahrung machen, werden wir nicht nur finden, dass alles Irdische für uns seinen Glanz verliert, sondern auch unser eigenes Ich mit unserem natürlichen Selbstgefühl wird im Licht Seiner Herrlichkeit und Gnade verschwinden.

Offensichtlich ist es möglich, eine solche Gemeinschaft mit unserem Herrn selbst in den letzten Tagen der Geschichte der Versammlung noch zu genießen. In dem Maß, wie wir es tun, werden wir eine bußfertige Gesinnung zeigen und jene Beschäftigung mit uns selbst meiden, die zu anmaßenden Ansprüchen führt.

F. B. H.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2004, Seite 71

Bibelstellen: Apg 5; Offb 2; Offb 3

Stichwörter: Anmaßung, Heuchelei