Er aber hat die Sünde vieler getragen

(Jes 52,13 – 53,12)

(Schluss von Seite 310)

Gottes Ratschluss (Kapitel 53,10-12)

Die fünfte und letzte Strophe enthält einen Rückblick in die Vergangenheit und einen Ausblick auf die Zukunft. Zunächst bringt der gläubige Überrest sein Verständnis über den Ratschluss Gottes zum Ausdruck. Weder Satan, der nach dem Ausspruch Gottes dem Samen der Frau „die Ferse zermalmen“ würde, noch die Menschen, die Ihm wie Johannes dem Täufer antaten, „was irgend sie wollten“, haben den Herrn Jesus töten können, wenn die Letzteren auch die volle Verantwortung für Seinen Tod trifft (s. 1. Mo 3,15; Mt 17,12; Apg 2,36; 3,15; 4,10; 5,30). Nein, Er ist „nach dem bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis Gottes“ in das Gericht über die Sünde getreten und gestorben (Apg 2,23).

Keinesfalls darf man den ersten Satz von Vers 10 so auffassen, als ob Gott Freude daran gehabt hätte, Seinen geliebten Sohn zu zerschlagen. „Ihn zu zerschlagen“ war nicht das Ziel Gottes, sondern der Weg, auf dem Er Sein herrliches Ziel erreichte. Sein Wohlgefallen bestand darin, Seinen Ratschluss der Liebe in Seinem geliebten Sohn in dem Augenblick zur Ausführung zu bringen, als Hass und Bosheit der Menschen, für die dies Werk geschah, ihren absoluten Höhepunkt erreicht hatten. So „hat er ihn leiden lassen“ – sowohl vonseiten Seiner unwürdigen Geschöpfe als auch unter dem Gericht über die Sünde. Das Brandopfer musste in seine Stücke „zerlegt“ und das Räucherwerk „zerstoßen“ werden, damit der Wohlgeruch des Opfers und der Person Christi, wovon diese Vorbilder sprechen, zu Gott emporsteigen konnte (2. Mo 30,36; 3. Mo 1,6). Das wird der gläubige Überrest bei der Erscheinung Christi erkennen, und wir dürfen schon jetzt den alles menschliche Verständnis übersteigenden Gnadenratschluss bewundern, durch den Gott verherrlicht wurde wie nie zuvor und nie danach!

Das große Werk ist ein für allemal vollbracht! Christus hat nicht nur mit Seinem Leib, an dem Er alle unsere Sünden auf dem Holz getragen hat, sondern auch mit Seiner Seele das Schuldopfer gestellt: Er hat Sein Blut und Sein Leben hingegeben (s. V. 12; vgl. 3. Mo 5,6; 17,11; 1. Pet 2,24). Vier Ergebnisse dieses vollkommenen Opfers Christi werden nun in den Versen 10 und 11 genannt:

– „So wird er Samen sehen“: „Same“ bedeutet in der Bibel oft Nachkommenschaft. Hier ist der Begriff in geistlicher Hinsicht zu verstehen: Es sind alle diejenigen gemeint, die das von Christus gestellte Schuldopfer im Glauben angenommen haben, in erster Linie natürlich die Angehörigen des Volkes Israel (s. PS 22,31).

„Er wird seine Tage verlängern“: Gott hat nicht zugelassen, dass Sein Frommer die Verwesung sah. Er hat Ihn aus den Toten auferweckt und Ihm „Länge der Tage immer und ewig“ gegeben (Ps 21,5; vgl. Ps 102,24-28).

Als der Auferstandene kann der Herr Jesus jetzt sagen: „Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Off 1,18).

„Und das Wohlgefallen des HERRN wird in seiner Hand gedeihen“: Der Vater hat alles in Seine Hand gelegt (Mt 11,27; Joh 13,3), weil Er der Einzige ist, der das Wohlgefallen, das heißt den Willen Gottes, vollkommen zur Entfaltung bringen wird (vgl. Kap. 46,10 mit Fußnote). Das wird im Rahmen der Weissagung von Jesaja in erster Linie im Tausendjährigen Reich der Fall sein.

„Von der Mühsal seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen“: Die Mühsal der Seele Christi ist für immer beendet, denn das große Erlösungswerk ist vollbracht! Die Verleugnung, der Verrat und die Flucht Seiner Jünger, die Ungerechtigkeit, der Spott und Hass Seiner Feinde, vor allem aber die unsagbaren Leiden während des Verlassenseins von Gott in den Stunden des Gerichts sind für ewig vorbei. Diese Mühsal war nicht vergeblich, sondern Er, der es vollbracht hat, darf jetzt Frucht sehen, an der Er sich vollkommen sättigen kann. Schon in Kapitel 49,6 haben wir die an Seinen treuen Knecht gerichteten Worte Gottes betrachtet: „Es ist zu gering, dass du mein Knecht seiest, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen. Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um mein Heil zu sein bis an das Ende der Erde.“ Nach den alttestamentlichen Weissagungen werden die zukünftigen Erlösten aus dem Volk Israel und den Nationen die Frucht der Mühsal Seiner Seele darstellen. – Die Tragweite des Werkes von Golgatha erstreckt sich jedoch viel weiter. Schon jetzt gehören alle dazu, die an Jesus Christus als ihren Erlöser und Herrn glauben.

In Vers 11 spricht wieder Gott über Seinen Knecht und das, was Er bewirkt hat. Zweierlei wird von Ihm genannt: erstens Sein Dienst während Seines Erdenlebens und zweitens Sein Werk am Kreuz.

Als der „Gerechte“ offenbarte Er auf Seinem ganzen Erdenweg Seine Vollkommenheit als Mensch, und als der „Knecht des HERRN“ vollbrachte Er Gottes Wohlgefallen. Durch Seine vollkommene Erkenntnis des Willens Gottes (Kap. 11,2) hat Er schon in Seinem Leben den Angehörigen Seines irdischen Volkes den Weg zu praktischer Gerechtigkeit gewiesen (vgl. Mt 5,17-20). Mit fast den gleichen Worten spricht Daniel 12,3 von „Verständigen …, welche die Vielen zur Gerechtigkeit weisen“ (vgl. Dan 9,27; 11,33.39). Was die „Verständigen“ in der Zeit des Antichristen den „Vielen“ (d. h. den zunächst ungläubigen Juden) sein werden, war der Herr Jesus bereits in Seinem ganzen Leben. Nur das kann hier gemeint sein, nicht die Rechtfertigung von Sündern, denn das dazu erforderliche Erlösungswerk wird erst im nächsten Satzteil erwähnt. Der an sich richtige Gedanke, dass Menschen durch die glaubensvolle Erkenntnis der Person und des Werkes des Herrn Jesus gerechtfertigt werden, ist hier nicht der Gegenstand.

Folgerichtig wird der Schluss von Vers 11 nicht mit „denn“ eingeleitet, sondern mit „und“: „… und ihre Ungerechtigkeiten wird er auf sich laden“. Wie die angeführte Stelle aus dem Propheten Daniel zeigt, gibt es mehrere, die „zur Gerechtigkeit weisen“, aber nur Einen, der Sühnung tun konnte und die Sünden derer, die an Ihn glauben, stellvertretend „an seinem Leib auf dem Holz getragen hat“ (1. Pet 2,23). Er hat nicht nur die Ungerechtigkeiten auf sich geladen, sondern auch die furchtbare, aber gerechte Strafe Gottes für fremde Schuld getragen!

Der Knecht des HERRN hat jedoch nicht nur die Ungerechtigkeiten der „Vielen“ auf sich geladen, sondern sich durch Seine Hingabe einen rechtmäßigen „Anteil“ an ihnen erworben, den Gott Ihm einmal geben wird. Halten wir uns jedoch vor Augen, dass wir uns in der Zeit des Alten Testaments befinden. Alle Weissagungen beziehen sich auf Israel und die Nationen und gehen nicht weiter als das Tausendjährige Reich. Vom Geheimnis des ewigen Ratschlusses Gottes hinsichtlich der Verherrlichung Christi und Seiner Versammlung war damals noch nichts offenbart (Röm 16,25 f.; Eph 3,1-13). Wir können diese Worte zwar auf die gegenwärtige Zeit des Evangeliums der Gnade anwenden, dürfen dabei aber nicht vergessen, dass sie sich auf die Zeit der Erscheinung Christi und des Tausendjährigen Reiches beziehen.

„Und mit Gewaltigen wird er die Beute teilen.“ Diejenigen, die im ersten Teil die „Vielen“ genannt werden, sind hier die „Gewaltigen“, und die Beute ist die ganze Schöpfung. Christus wird nicht allein herrschen, sondern mit Ihm alle Heiligen, die zur ersten Auferstehung gehören (Off 20,4-6; vgl. 1. Sam 30,26 ff.). Auch die Gläubigen des Alten Testaments sind dabei. Sie werden in Daniel 7,18 die „Heiligen der höchsten Örter“ genannt, die das Reich mit dem Messias, dem Sohn des Menschen empfangen werden.

Am Schluss von Vers 12 werden vier Gründe für diesen Triumph des Knechtes des HERRN angeführt:

„Dafür, dass er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod“ (Joh 10,17; 19,30)

„Und den Übertretern beigezählt worden ist“ (Lk 22,37).

„Er aber hat die Sünde vieler getragen“ (Heb 9,28)

„Und für die Übertreter Fürbitte getan“ (Lk 23,34).

Die Tatsache, dass wir diese Einzelheiten – zum Teil wörtlich erfüllt – in den Berichten des Neuen Testaments über das Leiden und Sterben des Herrn Jesus wiederfinden, bestätigt die vollkommene Einheit der gesamten Heiligen Schrift, in besonderer Weise aber die Worte unseres Herrn selbst: „Ihr erforscht die Schriften, denn ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben, und sie sind es, die von mir zeugen“ (Joh 5,39; vgl. Lk 24,27; Apg 8,35). Darüber hinaus enthält der ganze Abschnitt die wohl deutlichste Darstellung der Leiden des Messias im Alten Testament. Sie werden hier aus der Sicht des zukünftigen gläubigen Überrestes der Juden beschrieben, doch jeder, der jetzt an Ihn glaubt, darf sie persönlich auf sich beziehen, sie immer wieder mit geistlichem Gewinn lesen und in Anbetung vor dem Lamm Gottes niederfallen.

A. R.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2005, Seite 339

Bibelstellen: Jes 53, 10-12