Die Entstehung der Versammlung in Antiochien
Apostelgeschichte 11,19-30
(Fortsetzung von Seite 352)
Für die Versammlung in Antiochien war es ein Segen, solch einen „guten Mann“ wie Barnabas bei sich zu haben. Denn seine unermüdliche Tätigkeit dort führte dazu, dass „eine zahlreiche Menge dem Herrn hinzugetan wurde“. Dabei ist es interessant, dass Barnabas durch sein „Ermahnen“ besonders zur Auferbauung der Gläubigen wirkte. Trotzdem führte sein Dienst an den Heiligen „drinnen“ zur Bekehrung vieler von „draußen“. Er wandte sich an die Bekehrten und ermahnte sie, bei dem Herrn zu verharren; und als direktes Ergebnis wurden viele Fremde hereingebracht. Das Wort, das zum Ziel hat, die geistlich Lebenden in der Gnade Gottes zu fördern, trifft auch die geistlich Toten und erweckt sie zum Leben. Das ist sehr ermunternd für solche Arbeiter im Werk des Herrn, die nicht ausgesprochene Evangelisten sind.
Solche, die das Wort der Wahrheit recht teilen, unterscheiden zwischen den beiden Bereichen des Dienstes. Hier wird das Wort an solche gerichtet, die drinnen sind, und dort an solche, die draußen sind. Doch der Geist Gottes ist souverän und bewirkt zuweilen, dass das Wort, das zur Auferbauung der Heiligen gedacht ist, zur Bekehrung von sündigen Menschen führt; und umgekehrt, dass das Wort, das zur Bekehrung von Sündern gesprochen wird, den Gläubigen zur Stärkung ihres Glaubens dient.
Damals in Antiochien wurde eine zahlreiche Menge dem Herrn hinzugetan – nicht nur der Versammlung wie in Kapitel 2, Verse 41.47, sondern dem Herrn. Damit legt der Heilige Geist den Nachdruck darauf, dass jeder zum Glauben Gekommene dem Herrn zum Eigentum wird und unter Seine Autorität kommt. Glückseliges Teil, dem Herrn anzugehören und unter Seiner Autorität zu stehen! Einst waren wir alle unter der Macht Satans!
Lukas teilt uns nicht mit, ob es sich bei der zahlreichen Menge um Juden oder Griechen handelte. Offenbar sollen wir lernen, dass diese Unterscheidung nach den Gedanken Gottes jetzt nicht mehr von Bedeutung ist, wie gesagt wird: „Da ist nicht Jude noch Grieche“ (Gal 3,28). Doch darüber haben wir ja bereits gesprochen, und die Geschichte von Kornelius ist ein eindrücklicher, unwiderlegbarer Beweis dieser großen Wahrheit des Christentums. Alle nationalen und sozialen Unterschiede haben in Christus für immer ihr Ende gefunden; „denn“, so begründet der Apostel Paulus, „ihr alle seid einer in Christus Jesus“.
Die Versammlung in Antiochien jedenfalls wuchs unter der guten Hand des Herrn. Damit gingen aber weitere Erfordernisse einher.
Saulus in Antiochien
Es scheint, dass Barnabas diese Bedürfnisse klar erkannte. Gewiss, verschiedene geistliche Dienste waren in Antiochien unter großem Segen bereits geschehen: Das Evangelium war in dieser Stadt verkündigt worden, und dann hatte anschließend ein „Ermahner“ sein gutes Werk getan. Aber ganz offensichtlich hatten nun die Gläubigen dort noch etwas Weiteres nötig: gesunde Belehrung. Und wieder benutzte der Herr in Seiner Gnade den „guten Mann“, Barnabas, um diesem Mangel abzuhelfen.
„Er zog aber aus nach Tarsus, um Saulus aufzusuchen; und als er ihn gefunden hatte, brachte er ihn nach Antiochien“ (Apg 11,25.26a).
Barnabas kannte Saulus. War er es doch gewesen, der dieses „auserwählte Gefäß“ bei den Aposteln in Jerusalem eingeführt hatte, als diese sich noch vor ihm fürchteten (Kap. 9,26.27). Auch hatte er aus dessen eigenem Mund gehört, welchen Auftrag der Herr, der ihm erschienen war, ihm gegeben hatte. Und war er nicht selbst Zeuge der Kraft und Freimütigkeit geworden, in der Saulus in Jerusalem gepredigt und mit den Hellenisten gestritten hatte?
Jetzt erinnerte er sich seiner. Offenbar fühlte er sich allein der Aufgabe in Antiochien nicht gewachsen, empfand mehr als zuvor, dass hier ein ausgesprochener „Lehrer“ (Eph 4,11b) vonnöten war. Sich selbst hielt er wohl nicht dafür, wusste aber, dass Saulus die geistliche Gabe besaß, die ihm selbst nicht gegeben war. Und ohne die geringste Spur von Eifersucht zu empfinden, suchte er Saulus nach Antiochien zu holen. Er unternahm die nicht mühelose Reise nach Tarsus, der Geburtsstadt von Saulus, um dort nach ihm zu suchen. Der Herr gab Gelingen, so dass er ihn fand und nach Antiochien bringen konnte.
Was nun Saulus anging, so erinnern wir uns, dass die Brüder ihn einst von Cäsarea nach Tarsus fortgeschickt hatten (Kap. 9,30). Sieben oder acht Jahre waren inzwischen vergangen, und über diesen langen Zeitraum hinweg hat er dort geduldig auf den Herrn und auf Seine Stunde gewartet. Wann würde der rechte Zeitpunkt kommen, wo er den von Ihm empfangenen Auftrag, „weit weg zu den Nationen“ zu gehen (Kap. 22,21), in Angriff nehmen konnte? Jetzt war er da. Als Barnabas unter der offensichtlichen Leitung des Herrn zu Saulus kam und ihm von den Verhältnissen in Antiochien berichtete, war die Tür für den öffentlichen Dienst von Saulus unter den Nationen aufgestoßen.
Ja, so einfach, so schlicht führt der Herr zumeist Seine Diener. Wir können viel daraus lernen. Saulus empfängt hier nicht ein neues Gesicht, kein „mazedonischer Mann“ erscheint ihm, auch spricht nicht direkt der Geist Gottes zu ihm. Das alles hat seinen Platz. Hier jedoch ist es „nur“ ein guter Mann voll Heiligen Geistes und Glaubens, der ein geistliches Urteil über die Notwendigkeit eines bestimmten Dienstes hat. Entsprechend diesem Urteil bringt er die Dinge in Bewegung, bringt Saulus auf das ihm von Gott zugedachte Arbeitsfeld. Und so wie er zu Anfang den noch nicht lange Bekehrten bei den Aposteln in Jerusalem eingeführt hatte, so führte er jetzt Saulus in sein großes Werk unter den Nationen ein. Das alles geschah unter der guten Hand des Herrn und ist zugleich ein beredtes Zeugnis von der Freiheit im christlichen Dienst.
Der Dienst des Lehrers
„Es geschah ihnen aber, dass sie auch ein ganzes Jahr in der Versammlung zusammenkamen und eine zahlreiche Menge lehrten und dass die Jünger zuerst in Antiochien Christen genannt wurden“ (Kap. 11,26b).
Der interessante Ausdruck „Es geschah ihnen aber“ bezieht sich unmittelbar auf Barnabas und Saulus. Drei Entwicklungen oder Vorgänge werden damit verbunden:
1) dass sie ein ganzes Jahr in der Versammlung zusammenkamen;
2) dass sie eine zahlreiche Menge lehrten;
3) dass die Jünger zuerst in Antiochien Christen genannt wurden.
Die erste Bemerkung bestätigt, dass in Antiochien zu jener Zeit (etwa 43 bis 44 n. Chr.) bereits eine örtliche Versammlung bestand, die erste typisch „heidnische“ Versammlung, wie wir uns erinnert haben. Sie war völlig ohne Mitwirkung der Apostel entstanden, und sie gehörte auch nicht irgendeinem Apostel, auch nicht Barnabas oder Saulus, sondern einzig und allein Dem, der „die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat“ (Eph 5,25). „Auf diesen Felsen werde ich meine Versammlung bauen“, hatte Christus gesagt (Mt 16,18). Es ist Seine Versammlung, und Er baut sie. Wie Er das tut, erleben wir hier am Beispiel Antiochiens.
Über ein Jahr lang versammelten sich Barnabas und Saulus mit den Heiligen der Versammlung in Antiochien. Sicher ist das die Bedeutung der Wendung, dass sie „in der Versammlung zusammenkamen“. Einen ähnlichen Gedanken finden wir in 1. Korinther 14: „Wenn nun die ganze Versammlung an einem Ort zusammenkommt …“ (V 23). In beiden Fällen geht es um die Sache selbst, um das Zusammenkommen als solches. Fehlt jedoch der Artikel (das Geschlechtswort) vor „Versammlung“, wörtlich also: „in Versammlung“, dann wird damit der Charakter des Zusammenkommens beschrieben: „als Versammlung“ oder „im Charakter von Versammlung“. Diese Bedeutung liegt zum Beispiel in 1. Korinther 11,18 vor.
Die obige zweite Bemerkung zeigt, womit die beiden Diener des Herrn während dieser Zeit beschäftigt waren: Sie lehrten eine zahlreiche Menge. Wenn sie das auch in glücklicher Harmonie und miteinander taten, so war in der Hauptsache doch Saulus der Lehrer. Die wenigen Worte zeichnen dennoch ein liebliches Bild. Viele waren begierig, die Wahrheit Gottes kennen zu lernen, und Gott entsprach den Bedürfnissen.
Es ist ja der auferstandene, in den Himmel gegangene Herr, der Seiner Versammlung nicht nur die grundlegenden Gaben der Apostel und Propheten, sondern auch die bleibenden Gaben der Evangelisten, der Hirten und Lehrer gegeben hat – zur Vollendung der Heiligen (Eph 4,11.12). Der Lehrer hat die Aufgabe, die Gedanken Gottes seinen Zuhörern so darzulegen, dass diese sie erfassen und genießen können. Es ist eine erhabene Aufgabe. Denn wir müssen bedenken, dass die christliche Lehre die Offenbarung Gottes an das Herz der Seinen ist. Deswegen kommt der Belehrung der Heiligen durch die Gabe des Lehrers so große Bedeutung zu. Seinem Kind Timotheus konnte der Apostel Paulus in späteren Tagen bezeugen: „Du aber hast genau erkannt meine Lehre …“ (2. Tim 3,10).
Das müssen gesegnete Tage gewesen sein, als diese beiden hingebungsvollen Diener so vielen Menschen die Wahrheit Gottes nahe bringen konnten und dazu genügend Zeit zur Verfügung hatten. Als einige Jahre später die beiden noch einmal in Antiochien weilten (vor Antritt ihrer zweiten Missionsreise), wird etwas Ähnliches gesagt wie hier zu Anfang: „Paulus aber und Barnabas verweilten in Antiochien und lehrten und verkündigten mit noch vielen anderen das Wort des Herrn“ (Kap. 15,35). Eine Ordination durch Menschen – diese Nebenbemerkung sei hier gestattet – hatten sie dazu allerdings nicht erfahren. Sie ist dem Neuen Testament auch völlig fremd.
„Christen“
Die angefügte dritte Bemerkung, „dass die Jünger zuerst in Antiochien Christen genannt wurden“, macht zum Einen deutlich, dass die Jünger des Herrn während dieses einen Jahres diesen Titel erhielten. Das ist eine bemerkenswerte Tatsache. Zum anderen zeigt sie, dass sich die Jünger nicht selbst diesen Namen überlegten oder ihn sich beilegten. Vielmehr nannten sie sich – und Lukas nennt sie hier-„jünger“ (vgl. Kap. 6,1). Auch den Titel „Heilige“ hatten wir schon gefunden (Kap. 9,13), und natürlich „Brüder“ (Kap. 1,15; 9,17.30; 11,29; 12,17). Später werden sie auch noch „Gläubige“ (1. Tim 5,16) und „Kinder Gottes“ (1. Joh 3,1) genannt.
Die Bezeichnung „Christ“ war zu jener Zeit weit eher ein Spitz- als ein Ehrenname. Die Menschen in Antiochien waren dafür bekannt, treffende Spitznamen zu geben. Wir können davon ausgehen, dass es nicht Juden, sondern Griechen waren, die diesen Namen erfanden, um damit die Jünger des Herrn von anderen Menschen und ihren Religionen abzugrenzen. Niemals hätten die ungläubigen Juden die Jünger des verachteten Jesus von Nazareth mit dem Messias (hebräisierte Form des griechischen Christös) in Verbindung gebracht. Sie „Christen“ zu nennen, wäre dem Eingeständnis gleich gekommen, dass Jesus tatsächlich der Messias war. So reden sie denn auch nur von der „Sekte der Nazaräer“ (Kap. 24,5).
Da der Name „Christ“ den Jüngern von Außenstehenden aufgeprägt wurde, zum Teil in einem verächtlichen Sinn, haben die Gläubigen lange gezögert, ihn anzunehmen. In der Apostelgeschichte finden wir kein einziges Beispiel dafür, dass sie sich selbst so bezeichnet haben. Das einzige andere Vorkommen des Namens in diesem Buch begegnet uns in Kapitel 26. Auch dort ist es ein Außenstehender, Agrippa, der ihn benutzt (V 28).
Trotz allem ist die Bezeichnung „Christ“ letztlich doch ein Ehrentitel. Wurde er den Gläubigen nicht deswegen verliehen, weil sie in Liebe von Christus sprachen und Ihn vor den Menschen bezeugten? War er nicht eine Bezeugung dessen, was den Jüngern des Herrn in erster Linie wichtig war? Christus war in ihren Herzen. Christus war auf ihren Lippen. Und so wurden sie zu Recht Christen genannt. Dabei war es ohne Belang, aus welchem Volk diese „Christen“ stammten, ob sie von den Griechen (Nationen) oder von den Juden kamen. Insofern ist diese Bezeichnung auch ein indirektes Zeugnis von der Einheit der Gläubigen in Christus, von der wir oben gesprochen haben.
Es ist bemerkenswert, dass der Apostel Petrus in seinem ersten Brief den Namen „Christ“ aufgreift und in einem nicht entwertenden Sinn gebraucht. Wenn er zeigt, auf welche Weise ein Gläubiger nicht leiden soll (nicht als Mörder oder Dieb oder Übeltäter), so fährt er fort und sagt: „… wenn aber als Christ, so schäme er sich nicht“ (Kap. 4,16). Hier übernimmt also der Heilige Geist eine Bezeichnung, die ursprünglich von den Griechen in Antiochien für die jünger des Herrn geprägt wurde. Heute nennen sich in der Christenheit wohl viele Menschen nach Christus und haben dennoch keine wahre Lebensbeziehung zu Ihm. Sie sind äußerlich, ihrem Bekenntnis nach, Christen, aber was die wirklichen Christen zu Anfang ausmachte und sie auch heute noch kennzeichnet, fehlt ihnen: der lebendige Glaube an den Herrn Jesus Christus. So hat diese Bezeichnung eine starke Abwertung erfahren und ist ihres eigentlichen Inhalts beraubt.
Außer an den genannten Stellen kommt das Wort „Christ“ im Neuen Testament nicht mehr vor.
(Wird fortgesetzt) ChB
Schreibe einen Kommentar