Christus vor Augen und im Herzen

Der Jahreswechsel lädt ein zur Besinnung, zum Rückblick, zu neuen Vorsätzen. – Zu Vorsätzen? Ja, denn nur wer meint, in der Vergangenheit alles richtig gemacht zu haben, hat keine neuen Vorsätze nötig. Dass an dieser Stelle nicht die leichthin gefassten, fast sprichwörtlichen „Neujahrsvorsätze“ gemeint sind, die niemand recht ernst nimmt, versteht sich von selbst. Aber ohne Vorsatz gibt es keine Verwirklichung. Das ist sogar bei Gott so! Nur ist Sein Handeln allezeit vollkommen und Sein Vorsatz darum ewig und unveränderlich. „Nicht ein Mensch ist Gott, … noch ein Menschensohn, dass er bereue“ (4. Mo 23,19).

Wir aber sollten, wenn wir Rückschau halten, nicht dabei stehen bleiben, wie „alles gekommen ist“, als ob wir selbst nicht dazu beigetragen hätten, sondern den brennenden Wunsch ins Herz fassen: „Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich, denn du bist der Gott meines Heils“ (Ps 25,5). Eine solche Haltung der Lernbereitschaft versetzt uns in die Nähe des Herrn Jesus, der in Seinem Leben auf der Erde das Prophetenwort erfüllte: „Er weckt jeden Morgen, er weckt mir das Ohr, damit ich höre wie solche, die belehrt werden“ (Jes 50,4). Er, der Sohn Gottes, nahm als Mensch freiwillig diesen Platz ein. Und wie adelt es unser Leben, wenn wir als abhängige Geschöpfe Ihn darin zum Vorbild nehmen!

Aber Christus ist nicht nur das Vorbild für unser Verhalten. Er ist die Nahrung für unsere Seelen. – Als das wahre „Manna“, das „Brot des Lebens“, ist Er zu uns auf die Erde gekommen, hat uns ewiges Leben gegeben und ist die Nahrung, dass sich dieses Leben entfaltet. – Und als die Speise Kanaans, das „Erzeugnis des Landes“, jene „gerösteten Körner“, die von der einstigen Wirkung des „Feuers“ Kunde geben, genießen wir Ihn, wie Er nach vollbrachtem Werk im Himmel verherrlicht ist; denn schon jetzt hat Gott uns „mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern“ in Ihm. – Die Israeliten kannten in der Wüste nur das Manna, und es war einer anderen Generation vorbehalten, das Erzeugnis des Landes zu genießen. Wir aber haben beides zugleich: In Christus ist Gott zu uns herabgekommen, und in Ihm hat Er uns zu Sich erhoben.

Petrus konnte den Gläubigen aus der Zerstreuung das Zeugnis ausstellen, dass sie den Herrn Jesus Christus liebten, obgleich sie Ihn nicht gesehen hatten (1. Pet 1,8). So sehr hatten sie Christus vor ihrem inneren Auge, den „Hirten und Aufseher ihrer Seelen“, der sie „zu Gott geführt“ hatte, dass Seine Liebe in ihren Herzen dieses deutliche Echo hervorrief. Gewiss ist unsere schwache Liebe zu Ihm keiner Erwähnung wert. Und doch hatte auch jener Bruder Recht, der in einer Konferenz einmal sagte: „Wir müssen auch öfter mal sagen: Herr Jesus, ich liebe Dich!“ Das werden wir wohl nicht vor anderen tun, aber gemeinsam eben doch, wenn wir singen: „Du bist’s, den unsre Seele liebt, der Leben uns und alles gibt.“

Wir wissen nicht, wie weit diese Gläubigen Kenntnis hatten von der himmlischen Stellung der Gläubigen und der Versammlung – jedenfalls war das nicht das Thema des Apostels Petrus gewesen. Aber sie hatten Christus als das Brot des Lebens in sich aufgenommen; davon zeugte ihre Liebe zu Ihm.

Der Apostel Paulus war nicht von denen, die den Herrn Jesus begleitet hatten, wie Er umherzog „wohltuend und alle heilend, die von dem Teufel überwältigt waren“, und dann „mit ihm gegessen und getrunken hatten, nachdem er aus den Toten auferstanden war“ (Apg 10,38.41). Seine Botschaft war das „Evangelium der Herrlichkeit des Christus“ (2. Kor 4,4), denn der Herr war ihm von vornherein als der Verherrlichte erschienen. Seine Mitteilungen führen uns in die „himmlischen Örter“ und können darum nicht den anschaulichen Charakter der Evangelien haben. Auch ihre Wirkung ist anders, denn „wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (2. Kor 3,18). Sicher ist das für unser Verständnis die anspruchsvollere Botschaft, wenn man so sagen darf.

Sollen wir nun dieser Sicht den Vorzug geben, weil sie uns gleichsam auf höhere Höhen führt – oder sollen wir das Elementare, Anschauliche bevorzugen, weil es uns den Heiland so lieb macht? Hier begegnen wir einem wichtigen Gesichtspunkt: dem der notwendigen Ausgewogenheit. Als Menschen neigen wir dazu, einer Sache, die wir als erstrebenswert erkannt haben, ein gewisses Übergewicht zu geben. Solche Einseitigkeiten können der Absicht des Heiligen Geistes sehr entgegenstehen. So ist es auch hier. Und die Zahl der Beispiele lässt sich leicht mehren: Die verschiedenen Opfer im Alten Testament zeigen uns vorbildhaft die Bedeutung des Lebens und Sterbens des Herrn Jesus – einmal für Gott, dann für uns und auch als Grundlage unserer Gemeinschaft mit Gott. Nie sollten wir eine Seite gegenüber der anderen vernachlässigen. Dienst und Anbetung darf man nie gegeneinander ausspielen, ebenso wenig die Belehrung der Gläubigen gegen die Verkündigung der guten Botschaft des Heils.

Die Zeitschrift, deren erstes Heft im neuen Jahr der Leser in Händen hält, nennt sich „Ermunterung und Ermahnung“. Darin liegen Anspruch und Verpflichtung zugleich, nunmehr über 60 Jahrgänge hinweg. Den Anspruch der Ausgewogenheit zwischen Ermunterung und Ermahnung haben die Väter damals erhoben, indem sie diesen Namen wählten, und die Verpflichtung den Lesern gegenüber, diesen Anspruch zu erfüllen, liegt auf uns heute. Wie steht es damit in der Mitte der Gläubigen, die in die Fußstapfen dieser Väter getreten sind? Man hört oft den Hinweis, dass die Predigt nicht immer in „erbaulichen“ Worten bestehen kann, sondern dass auch ernste Ermahnung nötig ist. Das ist richtig. Hört man es aber allzu oft, dann drängt sich der Eindruck auf, dass hier ein geistlicher Mangel zutage tritt. Es ist nämlich leichter zu ermahnen, als Herzen zu erwärmen. Vielleicht nehmen wir diesen Gedanken als Anregung mit in die kommende Zeit und wachen darüber, dass nichts, so wichtig es uns erscheinen mag, uns den Blick auf Christus verstellt.

E. E. H.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2007, Heft 1, Seite 2

Stichwörter: Ausgewogenheit, Vorsatz